Der Dinosaurier erwacht

Vielleicht hätte ich schon vorher über das Referendum und die darauffolgenden Ereignisse in Katalonien schreiben sollen. Aber wie viele Katalanen war ich erstmal einfach nur schockiert. Und dieser Schockzustand hielt sehr lange an. Vielleicht wollte ich nur noch etwas abwarten, in der Hoffnung, dass sich die Situation klären würde, und ich dann einfach einen Beitrag über die Lösung des Konflikts hätte schreiben können. Die Wahrheit jedoch ist, dass bis heute keine Lösung in Sicht ist. Außerdem musste ich beim Schreiben immer wieder mal ein paar Wochen Pause machen, weil die ganze Situation sehr nervenaufreibend ist. Viele Katalanen werden das nachvollziehen können, nicht umsonst sind die Zahlen der Patienten mit Angstzuständen und Schlafstörungen seit Oktober 2017 in Katalonien stark angestiegen. Die Psychologen berichten, dass ihre Patienten selbst dann über die politische Situation sprechen, wenn es überhaupt nicht der Grund ihrer Therapie ist. Die Situation ist halt ziemlich angespannt.

Tatsächlich passieren seit dem 1. Oktober 2017 täglich neue Dinge, die unter normalen Umständen wohl wochenlange öffentliche Debatten auslösen würden. Aber hier folgt auf eine Hiobsbotschaft sofort die nächste und man hat kaum Zeit, die Geschehnisse zu verarbeiten und einzuordnen: die Politik in Katalonien und in Spanien ist ein einziges großes Chaos. Deshalb ist dieser Beitrag auch unglaublich lang und ausführlich. Es ist keine kurze Zusammenfassung der Ereignisse, die es einem unbeteiligten oder nicht-informierten Leser vereinfacht, in die Materie einzusteigen. Denn an der Situation ist nichts einfach und wer versucht, sie vereinfacht darzustellen, der begeht einen schweren Fehler. Es geht sehr viel um den Kontext: Ich versuche einen Einblick in die Gesellschaft und ihre kollektiven Erlebnisse und Konsense zu geben, damit auch ein Außenstehender verstehen kann, warum viele Katalanen — egal, ob sie nun für oder gegen die Unabhängigkeit sind — tun, was sie tun. Daher schiebe ich auch immer wieder mehr oder weniger „kurze“ Exkurse ein, um die Rolle einer bestimmten Partei, eines bestimmten Ereignisses oder Kontextes zu erklären. Ohne diese Hintergrundinformation wäre das alles nämlich ziemlich unverständlich. Und trotz der Zeit, die mittlerweile vergangen ist (2 Jahre bei Veröffentlichung des Beitrags), scheint die Situation irgendwie genauso verfahren zu sein, wie damals schon. Aber fangen wir doch chronologisch an.

Über die Polizeiaktionen, Festnahmen, Demonstrationen etc., die im September 2017 stattfanden, um das Referendum zu verhindern, hab ich in diesem Beitrag ja bereits ausführlich berichtet. Die spanische Regierung war entschlossen, das Referendum  nicht stattfinden zu lassen; und die katalanische Regierung versicherte, dass es trotzdem stattfinden würde. Tausende Polizisten der Policía Nacional und der militarisierten Guardia Civil waren aus ganz Spanien nach Katalonien verlegt und in Kasernen, Hotels und auf Kreuzfahrtschiffen untergebracht worden (ca. 10.000 + 5.000, die schon in Katalonien stationiert waren, also insgesamt 15.000; + tausende Mossos d’Esquadra, die autonome Polizei Kataloniens), um am 1. Oktober (1-O) das Referendum zu verhindern. Es war das größte Polizeiaufgebot seit dem Ende der Diktatur. Mal ganz davon abgesehen, dass dies von den meisten souveränistischen Katalanen als Okkupation empfunden wurde (die Guardia Civil wurde schon während der Diktatur als Besatzungsmacht wahrgenommen), waren aber auch viele Unionisten vom Auftreten der Polizei beunruhigt, ja sogar erschrocken. Tausende Polizisten hatten ihre Heimatorte in Spanien-Fahnen eingehüllt verlassen, während ihre Angehörigen und Nachbarn sie mit Spanien-Fahnen und A por ellos“Rufen (Holt sie euch/ Macht sie fertig) verabschiedeten. Diese „A por ellos“-Gesänge waren Gift: die Polizisten zogen nicht in den Krieg, sie wurden auf friedliche Menschen losgelassen, die einen Zettel in eine Wahlurne stecken wollten. Wen musste man da fertig machen? Ich weiß nicht, wie es den Separatisten ging, aber in mir starb ein Stück Hoffnung. Und vielleicht auch ein Stück Zugehörigkeitsgefühl. Denn ich erkannte Spanien nicht wieder; vielleicht war ich in der Vergangenheit einfach zu blind gewesen. Ich wollte ein Referendum – zwar ein verhandeltes – aber auch bei diesem wäre ich wählen gegangen; auch wenn ich nur einen leeren Stimmzettel abgegeben hätte (da ich weder die Unabhängigkeit, noch den Status Quo möchte), ich wäre auf jeden Fall wählen gegangen. Es geht um Demokratie. Seit Jahren kommen alle Umfragen, egal wer sie durchführt, zum selben Ergebnis: 80% der Katalanen wollen ein Referendum. Zu sehen, dass tausende Spanier sich wünschten, dass die Polizei die Wähler zusammenschlägt, tat weh. Später meldeten sich sogar pensionierte Legionäre und Fallschirmjäger freiwillig, um die Polizei zu unterstützen. Und bald schon wurden Videos öffentlich, wo man sah, dass manche Polizisten auf der Fahrt nach Katalonien A por ellos“ skandierten und andere die Nationalhymne mit dem Text der Franco-Diktatur sangen. Auch deren Einfahrt in Barcelona – mit riesigen Spanien-Fahnen, die aus den Autofenstern hingen, und der spanischen Nationalhymne auf voller Lautstärke – machte nicht unbedingt den Anschein, dass sie in friedlicher Absicht kamen.

Probleme im Vorfeld

Das Referendum, oder besser gesagt, das Gesetz für das Referendum (Llei de Referèndum), war ja vom Verfassungsgericht (Tribunal Constitucional) auf Ersuchen der spanischen Regierung suspendiert/ausgesetzt worden. Es war damit zwar nicht direkt verboten worden (weshalb die vielzitierte Aussage „das Referendum ist illegal“ nicht ganz stimmt), aber es hatte keinen juristischen Wert mehr und keine rechtlichen Garantien. Außerdem informierte das Verfassungsgericht über 1.000 Amtsinhaber schriftlich darüber, dass es ihnen untersagt ist, sich an den Vorbereitungen des Referendums zu beteiligen oder Wahllokale zur Verfügung zu stellen (darunter die 947 katalanischen Bürgermeister, die gesamte katalanische Regierung, Parlamentsvorsitzende, etc.). Lustig am Ersuch der Regierung war ein Teil der Argumentation, in dem sie schrieb, dass nur „kolonialisierten oder besetzten Völkern wie […] oder dem Kosovo“ das Recht auf Selbstbestimmung zustehen würde. Das hieße ja, dass Spanien den Kosovo als souveränen Staat anerkennt; schließlich hatte sich der Kosovo im Jahr 2008 für unabhängig erklärt. Und doch ist Spanien eines der wenigen EU-Länder, die den Kosovo bis heute nicht anerkannt haben. Man weigert sich sogar bis heute an Treffen teilzunehmen, an denen auch Vertreter des Kosovo anwesend sind.

Besonders deutlich wurde das Fehlen der rechtlichen Garantien, als selbst die Wahlkommission (Sindicatura Electoral) aufgelöst werden musste, weil das Verfassungsgericht den Mitgliedern mit Geldstrafen von 12.000 €/Tag gedroht hatte, sollten sie nicht aus der Kommission austreten. Die Mitglieder selbst waren zwar dagegen, die Wahlkommission aufzulösen, aber am Ende entschied die katalanische Regierung, sie nicht diesem Risiko auszusetzen. Die Wahlkommission war jedoch ein fundamentaler Bestandteil des Referendums: dem neuen Gesetz nach (das ja eigentlich nicht mehr galt, auf das sich die katalanische Regierung aber trotzdem berief) war sie für die Überwachung, Transparenz und Objektivität der Abstimmung verantwortlich. Natürlich beharrte die katalanische Regierung darauf, dass das Referendum legal und bindend sein würde – was viele Menschen glaubten – aber vielen anderen war klar, dass es sich eher um eine symbolische Stimmenabgabe handeln würde (so definierte es z.B. Podemos und Catalunya Sí Que Es Pot). Die PP, PSC und Ciudadanos allerdings definierten es als illegal und garantierten öffentlich, dass es kein Referendum geben würde. Alle drei riefen zudem ihre Wähler dazu auf, das Referendum zu boykottieren. Ciudadanos ging sogar noch weiter, und bezeichnete jeden, der das Referendum organisierte oder daran teilnehmen wollte, als Putschisten („Golpistas“).

Auch die Wahlkampagne verlief nicht ganz rund: Der spanische Generalstaatsanwalt Maza (vom spanischen Parlament missbilligt, weil er Ermittlungsverfahren in Korruptionsfällen der PP behindert/ verhindert hatte) wies seinen Vertreter in Katalonien, den Oberstaatsanwalt Romero de Tejada, an, Anklage gegen die katalanische Regierung und das Parlamentspräsidium (Mesa del Parlament) wegen Ungehorsam, Amtsmissbrauch und Veruntreuung öffentlicher Gelder zu erheben (8. September). Die Klage wurde dann am 14. September zugelassen, am selben Tag, an dem gegen 712 katalanische Bürgermeister Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden, weil sie öffentlich erklärt hatten, ihre Wahllokale für das Referendum öffnen zu wollen (ca. 75% aller Bürgermeister Kataloniens). Außerdem wurden Ermittlungsverfahren gegen die Vorsitzenden der AMI (Associació de Municipis per la Independència; Vereinigung der Gemeinden für die Unabhängigkeit; 83% der Gemeinden Kataloniens gehören ihr an) und der ACM (Associació Catalana de Municipis i Comarques; Katalanische Vereinigung der Gemeinden und Landkreise) eingeleitet. Den Medien wurde verboten, für die Teilnahme am Referendum zu werben oder den offiziellen Werbespot zu zeigen, was den katalanischen Journalisten-Verband (Col·legi de Periodistes de Catalunya) dazu veranlasste, sich an den Síndic de Greuges Rafael Ribó (Ombudsmann/ Bürgerbeauftragten) zu wenden und ihn zu bitten, zu intervenieren, da sie die Meinungsfreiheit und das Recht auf Information in Gefahr sahen. Zudem wurden über 100 Webseiten gesperrt, die z.B. Informationen zum Ablauf, den Wahllokalen, oder generell zum Referendum bereitstellten. Auch die Seite von Empaperem (einer Bürgerinitiative, um Wahlplakate aufzuhängen), von der ich im letzten Beitrag zur Katalonien-Krise berichtet hatte, wurde gesperrt. Außerdem brachte man Mobilfunkanbieter (z.B. Vodafone und Movistar) dazu, den Zugang zu diesen Seiten zu sperren; und Google brachte man dazu, u.a. die App „On votar 1-Oct“ (Wo kann ich am 1-O wählen) aus seinem Angebot zu streichen (am 03. November 2017 wurde die Beschwerde wegen Zensur von der Europäischen Kommission zugelassen).

Als ein Untersuchungsrichter am 20. September die Operació Anubis“ anordnete, bei der die Guardia Civil (GC) im Alleingang mehrere Ministerien der Generalitat durchsuchte und 14 hohe Beamte der katalanischen Regierung festnahm, kam es in ganz Katalonien, vor allem aber in Barcelona, zu spontanen Demonstrationen. Besonders viele Menschen – ca. 40.000 – versammelten sich vor dem Wirtschaftsministerium der Generalitat (Conselleria d’Economia), wo die Guardia Civil seit den Morgenstunden nach Wahlurnen und Informationen zum Referendum suchte. Für viele Katalanen waren diese Durchsuchungen und Festnahmen ein Angriff auf ihre Institutionen. Selbst Politiker, Journalisten und Gewerkschaften, die weit davon entfernt sind, die Unabhängigkeit zu wollen, nahmen dort an einer gemeinsamen Erklärung teil, um diese Situation zu verurteilen. Die Demonstrationen waren friedlich und – trotz der Empörung – sehr feierlich; nicht zuletzt, weil Jordi Cuixart (Präsident von Òmnium Cultural) und Jordi Sànchez (Präsident der ANC) entschlossen, die Verantwortung zu übernehmen, die Demonstration anmeldeten, den Mittelpunkt der Demo von der Tür des Wirtschaftsministeriums an die Kreuzung Rambla de Catalunya-Gran Via verlegten und dort eine improvisierte Bühne aufbauen ließen.

Allerdings wurden drei Fahrzeuge der Guardia Civil mit Aufklebern beklebt und spätnachts von einigen Chaoten, die nach Abbruch der Demo nicht nach Hause gehen wollten, teilweise beschädigt. Warum die GC darauf beharrte, die Autos unbeaufsichtigt auf der Straße zu lassen und sie nicht in der privaten Tiefgarage des Gebäudes zu parken, wie es ihnen die Mitarbeiter des Ministeriums angeboten hatten, weiß man nicht. Obwohl die GC den Demonstranten vorwarf, die Langwaffen, die unbeaufsichtigt (!!!) in den Autos lagen, geklaut zu haben, stellte sich später heraus, dass sie niemand angerührt hatte. Unverständlich ist zudem die Tatsache, dass dutzende spanische Polizisten den halben Tag lang versuchten, die Parteizentrale der CUP – bekannterweise die militantesten Unabhängigkeitsbefürworter – zu durchsuchen, ohne einen Durchsuchungsbefehl zu haben. Man weiß auch nicht, warum die Durchsuchung des Wirtschaftsministeriums über 19 Stunden dauerte (sie begann um 8:00 Uhr und endete um 3:40 Uhr). Laut Berichten von Journalisten, Mossos d’Esquadra (die nicht über die Durchsuchungen informiert worden waren) und Augenzeugen (man kann sich alles bei Youtube angucken), wurde mehrmals eine Gasse gebildet, um die sich im Gebäude befindenden Beamten der GC rauszulassen; doch diese weigerten sich stundenlang rauszukommen, und warfen den Mossos später sogar Passivität vor. Man wird das Gefühl nicht los, dass das alles nur inszeniert war, um gewaltsame Reaktionen zu provozieren (z.B. durch Anhänger der CUP), die das spätere Vorgehen „rechtfertigen“ könnten. Denn nur wenige Tage später sprachen die spanische Regierung und die Hauptstadtmedien von «Tumulten» (und ein Tumult ist die Voraussetzung, um wegen Aufruhr angeklagt zu werden). Dazu aber gleich mehr.

Eine weitere Tatsache, die im Vorfeld in Katalonien nicht gut ankam, war, dass die katalanische Polizei, die Mossos d’Esquadra, zumindest bis nach dem Referendum dem spanischen Innenminister unterstellt werden sollte, weil die Zentralregierung von Rajoy (unterstützt durch Diffamierungskampagnen der großen Hauptstadtmedien) Zweifel an ihrer Professionalität äußerte. So wurde Diego Pérez de los Cobos, Oberst der Guardia Civil, zum Polizeichef in Katalonien ernannt. Diego Pérez de los Cobos ist Sohn von Antonio Pérez de los Cobos (der Mitglied der neo-faschistischen Fuerza Nueva war, die während der Transición mit Gewalt und Morden Francos Erbe erhalten wollte) und Bruder von Francisco Pérez de los Cobos, bis 2017 Richter und Präsident des Verfassungsgerichts (und Mitglied der PP; auch er war Franquist, zerriss in seiner Jugend sogar öffentlich die neue Spanische Verfassung). Beide Brüder sympathisierten „in ihrer Jugend“ mit rechtsextremen Parteien, warben aktiv gegen die Spanische Verfassung beim Referendum 1978 und Diego meldete sich beim bewaffneten Putschversuch vom 23. Februar 1981 sogar als Freiwilliger in seiner Falange-Uniform, um den Putsch zu unterstützen. Dieser Diego Pérez de los Cobos wurde 1992 zudem zusammen mit fünf anderen Guardias Civiles wegen Folter angeklagt (der Fall „Urra“, benannt nach dem Opfer, Kepa Urra, dem man eine Verbindung zur ETA unterstellte). Der spanische Staat wurde damals vom ‘UN-Ausschuss gegen Folter’ wegen Verstoßes gegen die Antifolter-Konventionen der UNO für schuldig befunden. Allerdings wurden nur drei der Angeklagten zu einer Haftstrafe verurteilt (zunächst jeweils zu 4 Jahren). Es ging jedoch niemand ins Gefängnis: der Oberste Gerichtshof ordnete erst niedrigere Strafen an, und am Ende wurden sie vom Ministerrat begnadigt. Pérez de los Cobos wurde zwar nie verurteilt, aber nichtsdestotrotz stößt diese Personalie natürlich bitter auf.

Am 27. September wurde bekannt, dass der katalanische Oberstaatsanwalt der Polizei befohlen hatte, die Gebäude, die als Wahllokale dienen sollten, am 1. Oktober zu schließen und gegebenenfalls die Wahlurnen, Wahlunterlagen etc. zu beschlagnahmen. Dieser Befehl führte dazu, dass sich die Bevölkerung mobilisierte, um die Schließung der Wahllokale zu verhindern: Die AMPAs (Associacions de Mares i Pares d’Alumnes; Elternvereine), CDRs (Comitès de Defensa del Referèndum; Komitees zur Verteidigung des Referendums) und der Verein Som Escola gründeten die Plattform Escoles Obertes“ (Offene Schulen; mit über 60.000 eingeschriebenen Freiwilligen), um die Schulen offen zu halten. Die CDRs sind selbstverwaltete, basisdemokratische Nachbarschaftsvereine, die von ganz unterschiedlichen Menschen gegründet wurden; zunächst mit dem Ziel, das Recht auf Selbstbestimmung und das Referendum zu verteidigen (daher gab es unter den Mitglieder sowohl Separatisten als auch Unionisten). Sie haben keine Führung und unterstehen keiner Partei. Sie sollten aber erst nach dem Referendum ins Rampenlicht der spanischen Öffentlichkeit rücken.

Als der Unterricht am Freitag zu Ende war, fanden in den Schulen selbstorganisierte Veranstaltungen, Kulturnächte, Workshops, Spiele, Theateraufführungen, etc. statt, um so die Schulen offen zu halten und zu verhindern, dass die Mossos d’Esquadra sie am Sonntagmorgen schließen. Hunderte Nachbarn, alt und jung, verbrachten das gesamte Wochenende in ihrem Wahllokal und verhinderten so, dass viele Schulen geschlossen werden konnten (insgesamt wurden über 1.100 Schulen besetzt). Es gab allerdings zwei nennenswerte Zwischenfälle: In Gavà (Baix Llobregat) versuchte eine Gruppe von 15 spanischen Ultras, die Anwesenden einzuschüchtern, damit diese die Schule verlassen; und in Manlleu (Osona) wurden vier Personen vor einer Schule leicht verletzt, als ein Nachbar sie von seinem Balkon aus mit einer Schrotflinte beschoss. Als wenn das alles nicht schon genug wäre, ließ die Zentralregierung zudem den Luftraum über Barcelona zwischen dem 29. September und dem 2. Oktober schließen (ausgenommen war der normale Passagierflugverkehr vom Flughafen El Prat). Zum einen wollte man so Luftaufnahmen vom 1-O verhindern (z.B. durch Hubschrauber der Fernsehsender), zum anderen überwachte man die Stadt durchgehend mit Polizei- und Militärhubschraubern. Teilweise war der Hubschrauber-Lärm so ohrenbetäubend, dass mehrere Pressekonferenzen nach drinnen verlegt werden mussten. Das erhöhte natürlich das Gefühl des Belagertseins. Wie man also sieht, war das Klima im Vorfeld nicht gerade entspannt. Und trotzdem wollten – den Umfragen nach – knapp 68% der Katalanen am 1-O wählen gehen. Andere Umfragen sagten eine Wahlbeteiligung von 50% voraus, von denen sich 72% für die Unabhängigkeit aussprechen würden.

Das Referendum, das „nie stattfand“

Die meisten Wahllokale (ursprünglich 2.315) öffneten wie geplant um 9 Uhr. Und es gab Wahlurnen. Sie wurden von einer Privatperson – von der wir bisher nur wissen, dass man sie Lluís nennt – in China bestellt und bezahlt (100.000 € aus eigener Tasche), nach Marseille verschifft und in Elna in Nordkatalonien (Frankreich) versteckt, damit die spanische Polizei sie nicht findet. Die Urnen wurden dann von Frankreich aus an tausende Freiwillige in Katalonien verteilt, die sie dann in Garagen, auf Dachböden, in Kofferräumen etc. versteckten, und sie dann kurz vor der Öffnung zu den jeweiligen Wahllokalen brachten. Andere Freiwillige erhielten Anrufe, in denen ihnen mitgeteilt wurde, dass sie ein Paket abholen und nach Ort X bringen sollten. Man ließ das Handy immer Zuhause, telefonierte von Telefonzellen aus, fuhr mit mehreren Autos (das erste Auto war leer; wurde es nicht verfolgt, fuhr man mit dem zweiten los, in dem sich die Urnen befanden, etc.); man tat alles, was nötig war, um nicht von der spanischen Polizei oder dem spanischen Geheimdienst entdeckt bzw. verfolgt zu werden. Nur, wenn man weiß, wie geheim und kompliziert das ganze Unterfangen war (es gab z.B. Familien, in denen mehrere Angehörige Urnen versteckten, ohne es voneinander zu wissen), kann man die überschwängliche Freude der Menschen verstehen, als sie sahen, dass die Urnen in ihrem Wahllokal ankamen.

Und so kam es, dass es Urnen gab, obwohl Rajoy tausendmal gesagt hatte, dass es keine geben würde. Da die spanische Polizei im Vorfeld nicht eine einzige Urne gefunden hatte, war die Tatsache, dass es nun doch Urnen gab, für Rajoy wie ein Schlag ins Gesicht. In der spanischen Presse wurden Stimmen laut, die an den zuständigen Mossos zweifelten; die ihnen vorwarfen, den Befehlen der Staatsanwaltschaft nicht folgen zu wollen. Dabei hatten sie klar gemacht, dass sie alles tun würden, was von ihnen verlangt würde; jedoch ohne Gewalt anzuwenden und ohne den öffentlichen Frieden zu gefährden. So war es nämlich von der zuständigen Richterin vom TSCJ angeordnet worden („sin afectar la normal convivencia ciudadana“ – ohne das normale gemeinschaftliche Zusammenleben zu gefährden). Auf diese Weise schlossen sie über 220 Wahllokale am 1-O (hinzu kommen ca. 400, die die Mossos schon am 30. September geschlossen und abgesperrt hatten) und konfiszierten die Wahlurnen. Es gab keine Zwischenfälle. Nicht einen einzigen.

Anders gingen jedoch die Policía Nacional und die Guardia Civil vor. Niemand hatte wirklich damit gerechnet, denn bis zuletzt hatte die Zentralregierung verlauten lassen, dass es ein friedlicher Tag werden würde (sie sprachen von einem Tag der Freude und des politischen Protestes; allerdings würde es kein Referendum geben). Manche sprachen sogar von einem „großen Picknick“. Die Guardia Civil und Policía Nacional sollten überhaupt nicht eingreifen, denn bei der offiziellen Aufgabenverteilung war den Mossos ganz klar die Schließung der Wahllokale und Konfiszierung der Wahlurnen zugeteilt worden. Natürlich gab es die Befürchtung, dass die spanische Polizei eingreifen könnten, aber niemand konnte sich vorstellen, dass die Zentralregierung tatsächlich auf Bilder scharf war, die zeigten, wie Polizisten gewaltsam Wahlurnen entfernen.

Doch bereits um 7:00 Uhr berichteten die Radiosender von Einsatzwagen, die die Kasernen und die Kreuzfahrtschiffe verließen. Als nur kurz nach der Öffnung der Wahllokale bereits die ersten Videos der Polizeigewalt im Internet kursierten, waren die meisten fassungslos und verstanden die Welt nicht mehr. Bis zum Mittag erschienen immer mehr neue Videos, in denen man sah, wie die Guardia Civil und die Policía Nacional auf alte Leute einschlugen, Menschen an den Haaren, am Kiefer und an den Ohren aus den Gebäuden zerrten, sie die Treppen runterschubsten bzw. runterwarfen und dann auf sie drauf sprangen. Wie sie den Menschen mit ihren Schlagstöcken oder mit der bloßen Faust einfach ins Gesicht schlugen, ihnen die Finger in die Augen drückten, sie als „Hurensöhne“ beleidigten, sie meterweit durch die Gegend schleuderten. Blutüberströmte Menschen, und eine Frau (Alejandra Rayas), der ein Polizist dreimal mit seinem Schlagstock ins Gesicht geschlagen und ihr die Nase und den Wangenknochen gebrochen hatte…und die trotz allem vier Stunden später wiederkam und voller Stolz ihren Wahlzettel in die Urne steckte. Ich musste weinen und der Rest des Tages war einfach nur von einer extremen Traurigkeit und Fassungslosigkeit geprägt. Bekannte berichteten von der Situation vor Ort, sie waren nur noch entsetzt. Es waren nicht nur Tritte, Schläge und Stöße, sondern auch Tränengas, Pfefferspray und Gummigeschosse. Und Gummigeschosse wurden vom katalanischen Parlament verboten. Allerdings galt das Verbot nicht für die spanische Polizei. Kein Katalane – die Rechten und Rechtsextremen mal ausgenommen, denen die Gewalt sogar zu wenig war – wird diesen Tag jemals vergessen.

Wenn man es schafft, sich dieses Video ganz anzugucken, wird man die Empörung der Katalanen vielleicht besser verstehen:

Zur Zahl der Verletzten gibt es unterschiedliche Angaben. Für die spanische Regierung gab es keine Verletzten. Die Generalitat dagegen beziffert die Zahl derer, die in den Gesundheitszentren behandelt werden mussten, auf 1.066 (hauptsächlich direkte Opfer der körperlichen Gewalt, aber auch Menschen, die wegen der Übergriffe Herzinfarkte, Panikattacken, etc. erlitten hatten). 83% der Behandelten hatten Prellungen und Quetschungen, 9% hatten offene Wunden. 34 Personen erlitten ein Schädel-Hirn-Trauma. Es gab auch 25 Brüche (u.a. 1 Schulterblattbruch, 1 Sitzbeinbruch, 10 Hand- bzw. Handgelenksbrüche und 10 Oberschenkel-, Knöchel bzw. Fußbrüche). Der Richter, der die Polizeigewalt in Barcelona untersucht, spricht von 257 Opfern allein in der katalanischen Hauptstadt (die Anzeige erstattet und Arztberichte vorgelegt haben), mindestens 5 davon schwer verletzt (einer verlor z.B. ein Auge wegen eines Gummigeschosses). In ganz Katalonien wird an 35 Gerichten wegen der Polizeigewalt ermittelt, da über 460 Opfer Anzeige erstattet haben. Außerdem verursachte die Polizei einen Schaden von über 300.000 €, indem sie Schultüren mit Hämmern einschlug, Zäune kaputt machte, etc. 

Laut der spanischen Regierung wurden auch 39 Polizisten verletzt oder zumindest medizinisch versorgt. Hauptsächlich handelte es sich um Kratzer, blaue Flecken, aber auch Muskelzerrungen. Ein Polizist wurde mit einem Stuhl beworfen, am Bein getroffen und ging zunächst zu Boden (der Werfer wurde verhaftet); in einem Viertel von Sant Carles de la Ràpita mussten die Polizisten wegfahren, weil eine Gruppe von Leuten Steine nach ihnen warf. Pathetisch war die Tatsache, dass die Zentralregierung die Zahl der verletzten Polizisten über Nacht auf über 400 erhöhte, ohne diese Zahl auch nur irgendwie belegen zu können (diese Zahl kursiert zwar noch heute in den spanischen Medien, aber bei den Gerichtsverfahren wird von der Polizei immer die Zahl 39 bzw. 40 angegeben). Die schwersten Verletzungen dieser 40 Polizisten (nach den vorgelegten Arztberichten) waren Prellungen oder Quetschungen an den Fingern und Fingernägeln (vom Wegzerren), ein umgeknickter Fuß, ein Hämatom am Oberschenkel und ein Kratzer an der Nase. Manche der aufgelisteten Polizisten hatten sogar so leichte Verletzungen, dass im Polizeibericht nur „Schmerzen“ aufgeführt wird und kein Arztbericht beigelegt wurde, weil keiner ausgestellt wurde. Auf den Videos sieht man, dass einige Polizisten auf dem nassen Boden (es hatte viel geregnet) ausrutschten und dass andere Polizisten im Rausch ihre eigenen Kollegen aus Versehen mit dem Schlagstock schlugen. Andere schleuderten die Wähler durch die Gegend und trafen dabei einen Kollegen, der daraufhin hinfiel. Natürlich muss man den Angriff mit dem Stuhl und den mit den Steinen verurteilen. Aber niemand kann erwarten, dass man Mitleid mit Polizisten hat, die einen Kratzer abgekommen haben, während sie versuchten, jemanden an den Haaren weg zu schleifen; oder sich einen Muskel zerrten, während sie zum Schlag ausholten. Denn eines ist wichtig: von Seiten der Bevölkerung gab es vor allem gewaltlosen Widerstand und zivilen Ungehorsam. Noch während auf sie eingeschlagen wurde, riefen die Menschen „Som gent de pau“ (Wir sind friedliche Menschen) und hielten die Hände in die Luft.

Trotz all des gewaltsamen Vorgehens, schlossen die Policía Nacional und Guardia Civil nur 92 Wahllokale (bei 113 Einsätzen). Insgesamt wurden am 1. Oktober also etwas über 300 Wahllokale geschlossen (ca. 220 von den Mossos, und 92 von GC und PN; von den ca. 400, die am Vortag von den Mossos geschlossen wurden mal abgesehen). Die geschlossenen Wahllokale entsprechen laut der Generalitat etwa 770.000 Wahlberechtigten, die entweder nicht wählen konnten oder deren Stimmzettel beschlagnahmt worden sind. Obwohl die Mossos sehr viel mehr Wahllokale schlossen als die GC und PN, wird nur den Mossos vorgeworfen, nicht genug getan zu haben, um das Referendum zu verhindern. Es waren nicht nur die spanischen Medien, die wie Hyänen über die katalanische Polizei herfielen; auch die Guardia Civil und Policía Nacional machten ihnen plötzlich schwere Vorwürfe, obwohl sie es waren, die sich nicht an den vereinbarten Einsatzplan gehalten hatten. Am schlimmsten waren allerdings die Medien, die u.a. Videos veröffentlichten, in denen man angeblich sah, wie die Mossos Wahlurnen zu den Wahllokalen bringen. Tatsächlich zeigt das Video jedoch, wie sie die Urnen konfiszieren; man zeigte aber natürlich nur einen Ausschnitt des ganzen Videos (den, wo man Wahlurnen im Polizeiauto sah), um so die Lügen „belegen“ zu können. Videos, in denen sich einzelne Mossos bei den Beamten der Guardia Civil über die Gewalt beschwerten, andere Mossos sogar Schläge abbekamen oder weinend am Rand standen (z.B. als die Menschen in Vielha ihnen applaudierten und ihnen zuriefen, dass sie nicht alleine seien), wurden auch benutzt, um die angebliche Mitarbeit der Mossos am Referendum zu „beweisen“. Auf die Idee, dass auch Mossos nur Menschen sind, die vielleicht selber Freunde, Bekannte oder Familie haben, die an dem Tag abstimmen wollten und brutal geschlagen wurden, scheint niemand gekommen zu sein. Du brauchst kein Separatist zu sein, um ein tiefes Gefühl der Ungerechtigkeit zu empfinden, wenn du siehst, wie Leute von Außerhalb kommen, um deine Mitbürger zu schlagen, die nichts anderes tun wollten, als einen Zettel in eine Urne zu stecken. Was anderswo als menschliche Reaktion einzelner Polizeibeamten in einer emotional aufgeladenen Situation betrachtet werden würde, wurde von den Medien und Politikern Madrids missbraucht, um das Hirngespinst zu verbreiten, dass die Mossos Teil eines geheimen Plans der katalanischen Regierung waren (quasi als bewaffneter Arm der Rebellion).

Alle katalanischen Medien berichteten über den Verlauf des Referendum und die Polizeigewalt. Der einzige spanische Sender, der darüber berichtete und auch sonst das Referendum den ganzen Tag über live begleitete, war La Sexta. Der Rest der Sender, auch die öffentliche TVE, brachten hauptsächlich Diskussionsrunden, verleumdende Reportagen (z.B. Las heridas del procés – ‘Die Wunden des Unabhängigkeitsprozesses’) und nur kurze Ausschnitte in den Nachrichten, meist ohne die Polizei zu zeigen (und wenn, dann nur die Bilder vom Polizisten, der mit dem Stuhl beworfen wurde), und zeigten stattdessen Interviews mit Ciudadanos-Anhängern und die Diskurse von Rajoy und seiner Vizepräsidentin Soraya Sáenz de Santamaría in voller Länge.

Beide sagten, dass das Referendum nicht stattgefunden hätte. Mehr noch, wir sollten stolz sein, denn dieser Tag würde als Sieg des Rechtsstaats und der Demokratie in die Geschichte eingehen. Einfach nur zynisch. So entstand eine kuriose Situation: in Katalonien war man erschüttert wegen der Gewalt, aber – in separatistischen Kreisen – stolz darauf, dass das Referendum trotzdem stattgefunden hatte; und jemand in Spanien, der z.B. nur TVE geguckt hatte, dachte, dass in Katalonien an dem Tag gar nichts passiert war. Selbst die Belegschaft von TVE protestierte kurz danach öffentlich gegen die Zensur; mehrere Journalisten des Senders veröffentlichten bei Twitter etc., Nachrichten, in denen sie beschrieben, wie sehr sie sich für die fehlende Berichterstattung schämten. Außerdem veröffentlichten sie ein Video, in dem die gesamte Belegschaft Zettel mit der Aufschrift „Vergüenza/ Vergonya“ (‘Schande’ auf Spanisch und Katalanisch) in die Luft hielt.

Die Bilder der Gewalt waren um die Welt gegangen. Amnesty International, Human Rights Watch, verschiedene Ministerpräsidenten Europas (u.a. Belgiens, Finnlands, der Schweiz und Sloweniens) und der Europarat verurteilten die Gewalt, forderten eine unabhängige Ermittlung der Polizeigewalt und einen Dialog. Rajoy’s Plan war komplett daneben gegangen: Er wollte verhindern, dass Bilder von Menschen entstehen, die einen Stimmzettel in eine Urne stecken. Und vor allem wollte man wohl auch Bilder von den katalanischen Politikern verhindern; anders lässt es sich nicht erklären, dass die spanische Polizei fast ausschließlich die Wahllokale schloss bzw. zu schließen versuchte, in denen später wichtige Politiker oder öffentliche Personen abstimmen sollten. Teilweise kam die spanische Polizei in Dörfer mit weniger als 300 Einwohnern (hier z.B. in Aiguaviva, 700 Einwohner). Auch das Wahllokal in Sant Julià de Ramis (3.000 Einwohner), wo Puigdemont abstimmen sollte – und wo sich deshalb viele internationale Journalisten aufhielten, die alles mitfilmten – wurde noch vor der Öffnung von der Polizei gestürmt.

Stattdessen hatte Rajoy nun neben diesen Bildern auch die der Polizei, wie sie auf schutzlose Menschen einschlägt. Und Puigdemont hatte so ein – wenn auch vergiftetes – Geschenk bekommen: die internationale Öffentlichkeit hatte sich ein Bild des repressiven Staates machen können, von dem er so oft gesprochen hatte. Die Medienberichte und Leitartikel der internationalen Presse, egal ob CNN, BBC, Le Monde, Libération, Le Figaro, The New York Times, Washington Post, The Guardian, FAZ, SZ oder La Reppublica waren sehr kritisch mit der Art und Weise, wie die spanische Zentralregierung mit dem Katalonien-Konflikt umgegangen war. Auch die internationalen Beobachter, die von der Generalitat eingeladen worden waren, verurteilten die Polizeigewalt scharf; verkündeten allerdings größtenteils auch, dass das Referendum nicht bindend sein könnte, da es nicht den internationalen Standards entsprochen und die Polizeigewalt die Teilnahme beschränkt hätte (es gab aber auch Beobachter, die eben deshalb forderten, dass das Referendum anerkannt werden müsste). Die Beobachter wurden von der Generalitat eingeladen, da die UNO sich geweigert hatte, selber Beobachter hinzuschicken, weil das Referendum nicht verfassungskonform war. Es waren über 50 Beobachter aus den USA, England, Schottland, Belgien, Deutschland, Slowenien, den Niederlanden, Dänemark, Frankreich, Schweden, Finnland, etc anwesend.

Die Polizeigewalt hörte gegen Mittag abrupt auf. Eigenartigerweise direkt nach der Rede der Vizepräsidentin Sáenz de Santamaría, die behauptete, dass das Referendum nicht stattgefunden hatte. Das waren wohl wahrlich nicht die Bilder, die die spanische Regierung gewollt hatte. Der Schaden allerdings, der war schon angerichtet. Für Millionen von Katalanen wurde der 1-O zum kollektiven Trauma; zu sehen, wie ihre Mitbürger oder sogar sie selbst geschlagen wurden, nur weil sie einen Zettel in eine Urne stecken wollten, bestärkte viele in ihrem Willen, die Unabhängigkeit zu wollen; mehr noch, es ist jetzt nahezu unmöglich, dass sie irgendwie von dieser Forderung abrücken werden. Sie hatten mit ihren eigenen Körpern ihre Grundrechte verteidigt, was nicht nötig gewesen wäre, hätte Madrid mit Barcelona ein legales Referendum verhandelt. Denn diese Millionen Menschen waren nun direkt und persönlich beteiligt: es war etwas, für das sie seit Jahren auf die Straße gegangen waren und für dessen Umsetzung zehntausende selbst mit Hand angelegt hatten (Urnen verstecken, Wahlplakate ausdrucken und aufhängen, die Wahllokale besetzen und beschützen, von der Polizei geschlagen werden, etc.). Selbst Menschen, die eigentlich gar nicht wählen gehen wollten, gingen an diesem Tag aus Protest wählen, als sie die Bilder sahen. Der gewaltfreie Widerstand durch Sitzblockaden, Menschenketten, etc., stärkte zudem das Zusammengehörigkeitsgefühl und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Es war der größte Akt zivilen Ungehorsams, den Europa seit Jahrzehnten gesehen hat. Sie hatten sich gemeinsam den Kräften des Staates entgegengestellt und hatten gewonnen: es hatte so was wie ein Referendum gegeben. Videos aus Mont-roig del Camp (Tarragona), wo die Bewohner die Guardia Civil sogar mit Rufen aus dem Dorf vertrieben hatten, oder aus Sabadell (Vallès Occidental), Alcarràs (Segrià) oder Sant Joan Despí (Baix Llobregat), wo die Guardia Civil nicht gegen die Menschenmenge ankam und sich zurückziehen musste, verstärkten den Triumph und das Zusammengehörigkeitsgefühl. Der Abend des 1-O war daher zwar einerseits geprägt von Traurigkeit und Entsetzen, aber eben vor allem auch von Feierlaune, Freude, Stolz und einem neu entdeckten nachbarschaftlichen Zusammenhalt.

Hier zwei Dokus vom 1-O mit deutschen Untertiteln:

Der FC. Barcelona, der am Abend ein Spiel im Camp Nou hatte, spielte als Zeichen gegen die Repression hinter verschlossenen Türen; Gerard Piqué kritisierte unter Tränen die Polizeigewalt und die Unfähigkeit der spanischen Regierung; und auch Xavi meldete sich zu Wort und bezeichnete die Polizeigewalt als Schande. Das Spiel gegen UD Las Palmas wurde zwar im TV übertragen, das Stadion war allerdings menschenleer. Die Spieler des UD Las Palmas trugen währenddessen Trikots, auf die kurzerhand eine Spanien-Flagge drauf genäht worden war…

Über den Tag hinweg hatte es verschiedene Schwierigkeiten gegeben; eine davon war, dass die Guardia Civil mehrmals versuchte, den Zugang zum digitalen Wahlregister zu sperren, weshalb die Wahlhelfer zeitweise keine Stimmzettel annehmen konnten. Das Wahlregister war ein großes Problem gewesen, denn niemand wusste genau, wie die Generalitat an die Daten gekommen war. Da die Polizei die eigentlich angedachte Maschinerie außer Kraft gesetzt hatte, wurde am Vorabend ein digitales Wahlregister eingerichtet, damit jeder überall abstimmen konnte: Sollte das eigene Wahllokal von der Polizei geschlossen worden sein, konnte man zu einem anderen gehen, das offen war. Lustigerweise beanstandete die spanische Regierung später, dass man kurz vor „Beginn des Spiels“ die Regeln geändert hatte, denn dieser sogenannte „Cens universal“ (universelles Wählerverzeichnis) stand so nicht im Referendumsgesetz. Das Referendum war ja bereits vom Verfassungsgericht suspendiert worden, d.h. es hatte alle Garantien verloren. Rein rechtlich gesehen konnte es also am 1-O überhaupt kein Referendum geben, egal, ob die Leute abstimmten oder nicht: dadurch, dass das entsprechende Gesetz suspendiert worden war, war das, was am 1-O wie ein Referendum aussah, ein massiver Akt der freien Meinungsäußerung. Wenn die spanische Regierung der Meinung war, dass es kein gültiges Referendum war, warum interessierte es sie dann, wenn es nicht so umgesetzt wurde wie geplant? Wessen Schuld war es, dass man das Referendum nicht wie geplant durchführen konnte? Auch die Polizeigewalt war unnötig, wenn man tatsächlich akzeptiert hatte, dass es kein bindendes Referendum sein konnte. Vor allem, wenn man bedenkt, dass das Abhalten und die Organisation eines „illegalen“ Referendums seit dem Jahr 2005 keine Straftat mehr darstellt. Wie Dr. Ulrich K. Preuß so passend beschreibt, gab es an jenem Tag von beiden Seiten „Wahnvorstellungen“: von katalanischer Seite behauptete man, dass es ein Referendum geben würde (obwohl es rechtlich nicht mehr möglich war) und Millionen von Menschen nahmen daran teil, entweder weil sie glaubten, es wäre ein legales Referendum, oder weil sie mit ihrer Teilnahme an einem „illegalen Referendum“ ihren Widerstand ausdrücken wollten. Und von spanischer Seite aus schickte man die Polizei, um dieses inexistente Referendum zu verhindern, indem man gewaltsam gegen die Bevölkerung vorging (Preuß erwähnt in dem Zusammenhang Don Quijote und seinen Kampf gegen Windmühlen). Doch während die Beteiligung der Bürger vollkommen legal war (egal, ob sie nun dachten, das Referendum wäre legal oder illegal) und sie von ihrem verfassungsmäßigem Recht der öffentlichen Meinungsäußerung (in Form einer Stimmenabgabe) Gebrauch machten, war die Aktion der Zentralregierung gefährlich: denn durch das gewaltsame Einschreiten der Polizei, schlug man auf Menschen ein, die ihre verfassungsmäßigen Rechte wahrnahmen (denjenigen, die sich dafür interessieren, empfehle ich den Beitrag von Preuß „Spanische Tragödie“; hier). Erachtete sich der spanische Staat für zu schwach, um die Welt davon zu überzeugen, dass das Referendum keine juristischen Garantien hatte und deshalb ungültig war? Hatte man tatsächlich solche Angst davor, dass der spanische Diplomaten-Korps es nicht schaffen würde, die Regierungen anderer Länder davon abzuhalten, Katalonien als unabhängigen Staat anzuerkennen? Und das, obwohl es keinen einzigen Staat auf der Welt gab, der auch nur in entferntester Weise Sympathien für den katalanischen Unabhängigkeitsprozess gezeigt hatte? Irgendwie war das alles ein Armutszeugnis für die spanische Regierung.

Das Ergebnis:

Tatsache ist, dass am späten Abend die Ergebnisse veröffentlicht wurden: knapp 2,3 Mio. Menschen hatten teilgenommen, das entspricht einer Wahlbeteiligung von ca. 43%. Von diesen hatten ca. 2,04 Mio. für die Unabhängigkeit gestimmt (90%), und 177.547 dagegen (7,8%). Die restlichen Stimmzettel waren entweder leer (blancs) oder ungültig (nuls/invàlids). Die höchste Wahlbeteiligung (durchschnittlich 60%) gab es in Zentralkatalonien (Catalunya Central); die niedrigste (35-40%) in den stark urbanisierten Küstengebieten. Während in Zentralkatalonien zwischen 95 und 100% für die Unabhängigkeit stimmten, war die Zustimmung rund um Barcelona am niedrigsten (ca. 80%). In Barcelona selbst – wo die Repression am stärksten war und auch viele Wahllokale geschlossen wurden – lag die Beteiligung bei 39,3%, 88,3% stimmten für die Unabhängigkeit und 8,6% dagegen. Die Hochburgen des „Nein“ zur Unabhängigkeit waren die Landkreise Baix Llobregat und Vallès Occidental; dort stimmten 11% bzw. 15% der Wähler mit Nein (bei einer Wahlbeteiligung von 33% bzw. 45%). Die Landkreise mit der höchsten Wahlbeteiligung waren Priorat (85%; 96% für die Unabhängigkeit), Moianès (74%; 96% für „Ja“) und Berguedà (74%; 95% für „Ja“). Die spanische Regierung zweifelte die Zahlen an, denn Personen hätten in mehreren Wahllokalen mehrfach abstimmen können (spanische Zeitungen veröffentlichten Bilder von einem Mann, der in mehreren Wahllokalen einen Wahlzettel über die Urnen hielt, allerdings beweisen sie nicht, dass er die Wahlzettel auch tatsächlich abgeben durfte). Die Generalitat dementierte das.

Das Ergebnis wurde ausgiebig gefeiert, und angesichts der Schwierigkeiten war es auch mehr als erstaunlich. Doch ich denke, dass jedem hätte klar sein müssen, dass das Referendum keine einseitige Unabhängigkeitserklärung rechtfertigten konnte. Wenn weniger als die Hälfte der Bevölkerung abgestimmt hat, und die Polizei zudem auf die Wähler eingeschlagen hat, kannst du nicht einfach so die Unabhängigkeit ausrufen. Und das ist eine Sache, die ich der Unabhängigkeitsbewegung vorwerfe: wenn große Teile der Bevölkerung das Referendum nicht anerkennen und nicht wählen gehen, dann kann das Ergebnis nicht bindend sein. Und ich glaube, dass das den meisten Politikern bewusst war. Zwar erklärten sie, dass jedem im Vorfeld bewusst gewesen sein muss, dass das Ergebnis bindend sein würde (so war es ja angekündet worden); und dass die Wahlbeteiligung trotz der widrigen Bedingungen erstaunlich hoch war – ja sogar höher als beim gesamtspanischen Referendum zur Europäischen Verfassung im Jahr 2005 (41,8%) – aber man sah vielen Politikern an, dass sie sich eine höhere Beteiligung gewünscht hatten. Wie hoch die Wahlbeteiligung tatsächlich war, ist leider nicht klar, da ja viele Wahlurnen konfisziert wurden: so kann es gut sein, dass sie bei ca. 50% lag (wenn auch 43% der 770.000 fehlenden Wähler abgestimmt hatten, kämen ja noch ca. 330.000 Stimmen dazu). Egal, wir haben nur die Daten, die wir haben. Außerdem birgt die Wahlbeteiligung – oder zumindest die Kritik an ihr – einige Tücken: Denn selbst, wenn z.B. 73% der Katalanen abgestimmt hätten und die zusätzlichen 30% alle mit „Nein“ gestimmt hätten, dann hätte das „Ja“ zur Unabhängigkeit trotzdem gewonnen (2,04 Mio. Ja-Stimmen, 1,7 Mio. Nein-Stimmen).

Doch die Unabhängigkeitsbewegung hat ein eigenes „Innenleben“, eine eigene Seele: die Menschen. Und sie schaffen es immer wieder ihre politischen Repräsentanten zu Entscheidungen zu drängen, die diese von sich aus nicht getroffen hätten. Diese Tatsache wird nicht nur von Madrid, sondern auch von vielen in Deutschland, oft vergessen; die Unabhängigkeitsbewegung kommt von unten, von der Bevölkerung. Man kann noch so viele Politiker ins Gefängnis stecken, es gibt zehntausende Menschen in Katalonien, die bereit sind, zur Not selber ins Gefängnis zu gehen.

Das böse Erwachen nach dem Referendum

Das theoretisch nicht mehr gültige Referendumsgesetz sah vor, dass spätestens 48 Stunden nach der offiziellen Bekanntgabe der Ergebnisse, die Unabhängigkeit erklärt werden sollte, wenn beim Referendum das „Ja“ gewonnen hatte. Dies zog sich allerdings in die Länge, denn bis die definitiven Ergebnisse von der Generalitat im Parlament registriert wurden, dauerte es noch ein paar Tage. Vielen Politikern der Unabhängigkeitsparteien war klar, dass man mit dem Ergebnis eigentlich hätte Neuwahlen ausrufen müssen. Man hatte internationalen Rückhalt, denn die Bilder des 1-O hatten viele in Europa schockiert, und innerhalb der katalanischen Gesellschaft hatte die Polizeigewalt viele Wunden geöffnet. Mit Neuwahlen hätte man – so die gemäßigteren Kräfte – die Solidarität der Menschen nutzen können, um so sowohl die soziale als auch die parlamentarische Mehrheit für die Unabhängigkeit ausweiten zu können. In einem normalen Staat hätte das dann die Zentralregierung endlich dazu genötigt, sich hinzusetzen und für diese Menschen einen legalen Weg zu schaffen, um über ihre Zukunft entscheiden zu können. Als Beispiele sind hier ganz klar das Vereinigte Königreich und Kanada zu nennen: auch die dortigen Verfassungen erlauben es einem Gebiet nicht, unabhängig zu werden. Die jeweiligen Regierungen sahen aber – als die separatistischen Parteien die Mehrheit im Parlament stellten (in Schottland z.B. 69 von 129 Sitzen, aber nur 44% der Stimmen) – dass man der Bevölkerung in Schottland und im Québec erlauben musste, über ihre Zukunft selbst entscheiden zu können. Und so geschah es dann auch. In Katalonien hatten 2012 die Parteien, die ein Referendum forderten, knapp 58% der Stimmen gewonnen (CiU, ERC, ICV, CUP); wenn man den PSC dazu nimmt, der ausschließlich ein mit dem Staat verhandeltes Referendum forderte, dann waren es 72%! Im Jahr 2015 – nach einer nicht-bindenden und trotzdem verbotenen Bürgerbefragung – gewannen die Parteien, die offen die Unabhängigkeit forderten, die absolute Mehrheit im Parlament, mit 72 von 135 Sitzen und 47,8% der Stimmen (JxSí, CUP). Auch dieses Mal hatten die Parteien, die immer noch ein verhandeltes Referendum forderten (JxSí, CUP, CSQEP, PSC), wieder knapp 70% der Stimmen gewonnen.

Doch in Madrid (als Synonym für das Machtzentrum Spaniens) sitzen keine normalen Politiker; und als klar wurde, dass der Staat niemals ein verhandeltes Referendum erlauben würde, spaltete sich die Bewegung in einen Teil, der zur Not ein unilaterales Referendum abhalten wollte (JxSí, CUP), und in einen Teil, der weiterhin auf die Verhandlungen mit dem Staat setzte (CSQEP bzw. heute En Comú Podem, PSC). Letzteres erscheint als vergebliche Liebesmüh, besonders, weil der PSC, der ja die katalanische Schwesterpartei des PSOE ist, noch nicht einmal fähig war, die eigene Partei davon zu überzeugen. Selbst Rubalcaba, ein Urgestein des sozialdemokratischen PSOE, sagte öffentlich, dass man bereit sei, jeden Preis zu bezahlen, um die Unabhängigkeit Kataloniens zu verhindern. Wirklich jeden Preis? Auch, wenn der Preis für die Einheit Spaniens die Demokratie ist? Wir kannten schon die Aussage eines wichtigen Zeitungsdirektors der Hauptstadt: „Die Einheit Spaniens steht über der Wahrheit“. Oder die Aussage des Präsidenten des Generalrats der rechtsprechenden Gewalt und Präsidenten des Obersten Gerichtshofs, Carlos Lesmes: „Die Einheit Spaniens ist ein direktes Mandat für die Richter“ (“La unidad de España es un mandato directo para los jueces”). Steht die Einheit Spaniens über allem? Diese Gedanken sind eigentlich eher typisch für die spanisch-nationalistische Rechte. Schon José Calvo Sotelo – Anführer der nationalistischen Rechten, die eine autoritäre Monarchie einführen wollte – sagte 1935: «Antes una España roja que rota» (Lieber ein rotes Spanien als ein kaputtes/zerbrochenes). Also selbst für jemanden wie Calvo Sotelo, der Linke über alles hasste und der ein überzeugter Anti-Kommunist und Anti-Anarchist war, war ein rotes (also linkes) Spanien besser als ein „kaputtes“. Auch die legendäre Drohung von José María Aznar, dem ehemaligen Ministerpräsidenten Spaniens (1996 – 2004), hat niemand in Katalonien vergessen: „Bevor Spanien zerbricht, wird Katalonien zerbrechen“Antes de romperse España, se romperá Cataluña»). Das war 2012, im Jahr 2013 legte Jordi Cañas (damaliger Parlamentsabgeordneter von Ciudadanos, musste zwischenzeitlich wegen eines Gerichtsverfahrens wegen Steuerhinterziehung zurücktreten) nach: «Os montaremos un Ulster que os vais a cagar» („Wir werden hier so einen Ulster anzetteln, dass ihr euch vor Angst einscheißen werdet“). Ulster ist eine historische Provinz Irlands, und gilt heute oft als Synonym für Nordirland. Und mit dieser Aussage, machte er deutlich, dass man in rechten Kreisen bereit war, in Katalonien eine ähnliche Situation zu schaffen, wie beim Nordirland-Konflikt (katholische Iren – die Republikaner – die für die Eingliederung Nordirlands in die Republik Irland kämpften vs. protestantische Nachfahren von englischen/schottischen Siedlern/Kolonisten – die Unionisten/Loyalisten – die für den Verbleib im Vereinigten Königreich kämpften; mit tausenden Toten). Sollte es also noch schlimmer werden?

Am Abend des 1. Oktobers und am 2. Oktober kam es in ganz Katalonien und in einigen spanischen Städten zu Demonstrationen gegen die Polizeigewalt (so z.B. auch in Madrid, mit Sprechchören wie „Die Stimme des Volkes ist nicht illegal“, „Sie nennen es Demokratie, aber es ist keine“ und „Madrid wird das Grab des Faschismus sein“). Schon am Abend des 1. Oktobers und über den ganzen 2. Oktober verteilt, versammelten sich hunderte wütende Katalanen vor den Hotels und Kasernen, in denen die Polizisten der Guardia Civil und Policía Nacional untergebracht waren, um gegen sie zu demonstrieren. Eskaliert ist es am Abend des 1. Oktobers in Calella, wo ca. 50 Menschen vor einem Hotel lauthals gegen die Polizeigewalt demonstrierten. Nach Augenzeugenberichten spuckten einige Polizisten von ihren Fenstern aus auf die Demonstranten. Andere berichteten, dass einige Polizisten sogar Urin aus ihren Fenstern schütteten. Die Mossos waren gerufen worden, und bildeten eine Sicherheitszone vor dem Hoteleingang. Am Ende stürmten einige Polizisten in Zivil jedoch mit Schlagstöcken auf die Straße, schubsten die Mossos zur Seite und fingen an, die Demonstranten zu jagen und auf sie einzuschlagen. Die anwesenden Mossos mussten sogar die Demonstranten beschützen und bekamen selbst Schläge ab. Alle Politiker der Gemeinde verurteilten das Verhalten der Polizei vehement. Es waren sehr laute Demonstrationen, ja, die Menschen waren aufgebracht; sie waren allerdings größtenteils friedlich (nach Polizeiberichten wurden manche Türschlösser der Polizeiautos mit Silikon verschlossen und ein Demonstrant soll einen Plastik-Becher nach einem Polizisten geworfen haben). In einem anderen Hotel in Pineda de Mar versammelten sich die Polizisten in der Hotellobby (die Demonstranten standen draußen) und riefen „¡Que nos dejen actuar!“ (Erlaubt uns gegen sie vorzugehen!), „Es lebe Spanien“ und „Es lebe die Guardia Civil“. Das Hotel, in dem sie untergebracht waren, bat sie am nächsten Tag – aufgrund der Vorfälle vor dem anderen Hotel –  das Hotel zu verlassen (mehrere andere Hotels taten es diesem gleich). Und so kam es auch: die spanische Polizei (ca. 500 waren in Calella stationiert) musste sich nach Pineda de Mar begeben, wo sie allerdings auch von aufgebrachten Katalanen empfangen wurden. Am Ende wurden große Teile der Guardia Civil in Aragonien, an der Grenze zu Katalonien untergebracht.

Am 3. Oktober fanden ein Generalstreik und der „Landesstreik“ statt. Der Generalstreik (Vaga General) war – als Reaktion auf die Polizeiaktionen am 20. September – bereits am 21. September von einigen kleineren Gewerkschaften beantragt worden. Allerdings zog sich die Genehmigung hin, sodass er erst am 3. Oktober stattfinden konnte. Diesem Generalstreik schloss sich der von der Taula per la Democràcia — einem Zusammenschluss mehrerer separatistischer/katalanischer Vereine, aber auch der großen Gewerkschaften (u.a. CC.OO, UGT, Unió de Pagesos, Òmnium Cultural, Assemblea Nacional Catalana, Associació d’Escriptors en Llengua Catalana, SOS Racisme, Coordinadora de Colles Castelleres de Catalunya) — organisierte „Landesstreik“ (Aturada de País) an; eine Antwort auf die Polizeigewalt vom 1-O. Selbst der Arbeitgeberverband PIMEC (vertritt nahezu alle Klein- und Mittelunternehmen Kataloniens, die fast 60% der katalanischen Wirtschaft ausmachen) rief zum Streik auf. Dieser Streik fand jedoch in den spanischen Medien kaum Gehör, weshalb viele Spanier gar nicht wussten, dass er weit über vereinzelte Straßensperren hinausging. Die CDRs, die sich mittlerweile in Comitès de Defensa de la República (Komitees zur Verteidigung der Republik; fast 400 lokale Gruppen) unbenannt hatten, sperrten Autobahnen und die Hauptverkehrsstraßen in ganz Katalonien; vor allem in Barcelona und an den Grenzen zu Frankreich und Valencia. Auf dem Land stellten tausende Landwirte ihre Trecker auf den Autobahnen ab und verursachten so kilometerlange Staus (denn im Rest Spaniens war ja ein ganz normaler Arbeitstag). Aber viel mehr Menschen beteiligten sich daran: nahezu alle Schulen und Universitäten waren geschlossen (in den Schulen wurde allerdings sichergestellt, dass diejenigen, die nicht teilnehmen wollten, trotzdem zur Schule kommen konnten), die Studenten veranstalteten riesige Demonstrationen in den Innenstädten; 70% der Angestellten des öffentlichen Dienstes legten die Arbeit nieder; 88% der Kleinunternehmer schlossen zumindest zeitweise ihre Geschäfte. 100% der Hafenarbeiter (estibadors) beteiligten sich am Streik; in Barcelona fuhren keine Busse und der U-Bahn-Verkehr war stark eingeschränkt (Mindestdienst von 25%). Schon vormittags demonstrierten hunderttausende Menschen in ihren Innenstädten (300.000 in Barcelona, 40.000 in Girona, 25.000 in Sabadell, 15.000 in Manresa, 10.000 in Badalona, etc.), und auch am Abend gab es in ganz Katalonien Demonstrationen, an denen hunderttausende Katalanen teilnahmen: 700.000 in Barcelona, 60.000 in Girona, 45.000 in Lleida, 35.000 in Tarragona, 30.000 in Vic, 25.000 in Sabadell, 16.000 in Badalona, etc. Und wer glaubt, dass nur Separatisten teilnahmen, der irrt sich. Für die meisten Katalanen war die Art und Weise, wie der spanische Staat agiert hatte, sehr schmerzhaft. Auf den Demos sah man deshalb neben den Estelades (die Unabhängigkeitsflaggen) auch spanische Flaggen (sowohl die offizielle borbonische Flagge als auch die republikanische) und viele Senyeres (katalanische Flaggen; ohne politische Konnotation). Die Antwort der regierenden PP auf den Streik war, ihn mit Nazi-Praktiken zu vergleichen, und der antikapitalistischen CUP und der links-republikanischen ERC vorzuwerfen, dass sie „Tote auf den Straßen Kataloniens“ gewollt hätten.

Auch die harte Ansprache des spanischen Königs Felipe VI. am 3. Oktober schaffte es nicht, die Wogen zu glätten. Laut der spanischen Verfassung soll er eine vermittelnde Rolle einnehmen und so hatten viele in Katalonien gehofft (auch wenn sie gegen die Monarchie sind), dass er zum Dialog aufrufen würde. Doch stattdessen schlug er sich klar auf die Seite von Rajoy, sprach nur von der Bewahrung der spanischen Verfassung, und richtete sich ausschließlich an den Rest Spaniens und an die Unionisten in Katalonien. Man würde alles tun, um die „guten Katalanen“ zu retten. Er verlor kein einziges Wort über die hunderten Verletzten und sagte nicht einen Satz auf Katalanisch (obwohl er sehr wohl Katalanisch spricht). Er hatte keine versönlichen Worte für die Katalanen (die ja, egal was sie politisch wollen, seine Untertanen sind) und rief in keinem Moment zum Dialog auf. Heute sagen viele, dass sie nichts anderes erwartet hatten, aber Fakt ist, dass dieser harte Diskurs in Katalonien mehr Wunden aufriss als heilte. Während sein Vater den Putschversuch 1981 mit seiner Rede vereitelte (so die offizielle Geschichtsschreibung), hatte er selbst anscheinend dieses Mal  beschlossen, noch weiter Öl ins Feuer zu gießen. Denn nach seiner Rede machten sich etliche Rechtsextreme in Katalonien auf den Weg, um in mehreren Dörfern und Kleinstädten Reifen von Unabhängigkeitsbefürwortern zu zerstechen; über 140 Anzeigen wurden in der Nacht deswegen aufgegeben.

Puigdemont und die katalanische Regierung dagegen verwiesen durchgehend darauf, dass man bereit ist, mit Rajoy in einen Dialog zu treten. Dies ist auch der Grund dafür, weshalb man das Plenum, in dem die Unabhängigkeit verabschiedet werden sollte, immer wieder verschob. Der baskische Lehendakari (Präsident) Urkullu und verschiedene andere Politiker, Unternehmer, etc., versuchten, einen Gesprächskanal zwischen Barcelona und Madrid zu öffnen. Doch Rajoy blockte immer wieder ab. Selbst die Europäische Komission forderte Rajoy mehrmals auf, sich mit Puigdemont hinzusetzen. Dafür ist Rajoy aber nicht zu haben; seit Jahren blockt er jeden Dialog ab, sobald man von Referendum oder Volksbefragung spricht. Um sich noch irgendwie an den eigenen Zeitplan zu halten, wurde für den 9. Oktober die Parlamentssitzung anberaumt, die allerdings vom Verfassungsgericht – auf Bitten des PSC – präventiv ausgesetzt wurde. Die spanische Regierung warnte Puigdemont davor, die Unabhängigkeit auszurufen und drohte mit dem Artikel 155 der spanischen Verfassung (entspricht dem deutschen „Bundeszwang“).

Am 8. Oktober fand eine Demonstration in Barcelona statt, die vom Verein Sociedad Civil Catalana (SCC) organisiert worden war. Im Rest Spaniens wird die SCC gefeiert; als Freunde Spaniens, als die „guten Katalanen“, die sich gegen die „bösen Separatisten“ wehren. Doch in Katalonien selbst genießt sie keinen guten Ruf. Seit ihrer Gründung im April 2014 wird sie hauptsächlich von der PP und Ciutadans unterstützt, aber sie zählt auch mit der Unterstützung vieler rechtsextremer Parteien und Vereine, wie z.B. Vox (gilt als spanische Tea-Party-Partei; fremdenfeindlich, erzkonservativ, homophob, monarchisch; will die Autonomen Gemeinschaften abschaffen), Plataforma per Catalunya/PxC (rechtsextreme, rassistische und fremdenfeindliche Partei), Somatemps (anti-separatistischer, rechtsextremer Verein, mit starken Verbindungen zu Vox, PxC und der Falange), dem mittlerweile aufgelösten Casal Tramuntana (ein Treffpunkt für Neonazis) oder dem Movimiento Social Republicano (MSR; Neonazis, mit Verbindungen zu „Blood & Honour“, der griechischen Goldene Morgenröte, dem französischen Front National oder der italienischen Fiamma Tricolore und ehemaliges Mitglied der nationalistisch-rechtsextremen „Allianz der Europäischen nationalen Bewegungen“). Beim Gründungsakt der SCC war neben der PP, UPyD, Ciudadanos, Vox und MSR auch eine Delegation der ‘Stiftung Francisco Franco’ anwesend; eine Stiftung, die den Diktator verherrlicht und „sein Erbe“ verbreitet, und die vom Staat subventioniert wird. Nahezu allen Vorsitzenden der SCC konnten Kontakte zu rechtsextremen Kreisen nachgewiesen werden; egal, ob diese nun fremdenfeindlich, rassistisch, antikatalanisch, homophob oder frauenfeindlich sind. Der Fall von Miriam Tey – aktuelle Vizepräsidentin der SCC – ist besonders: sie ist die Schwägerin von Jorge Moragas (bis 2017 Kabinettschef von Rajoy und Unterstützer der SCC) und war unter der Regierung von Aznar (PP) die Frauenbeauftragte bzw. Direktorin des Fraueninstituts der Regierung. Während sie Frauenbeauftragte war, verlegte sie das Buch ‘Todas putas’ (Alles Schlampen) von Hernán Migoya, in dem es hauptsächlich darum ging, Vergewaltiger und Pädophile zu verherrlichen, zu entschuldigen und unglaublich abartige Kurzgeschichten aus der Sicht von Vergewaltigern zu erzählen. Der Skandal war riesig, besonders als Migoya darauf beharrte, dass es der Verlag von Tey gewesen war, der ihn mit dem Schreiben des Buches beauftragt hatte. Doch Miriam Tey musste weder zurücktreten noch irgendwelche Disziplinarmaßnahmen über sich ergehen lassen. Heute ist sie ein ständiges Gesicht in spanischen Talkshows, und hat auch schon Gastbeiträge in deutschen Zeitungen veröffentlicht, „um die Situation in Katalonien zu erklären“.

Auch die Finanzierung der SCC ist sehr ominös; ihren Angaben nach, bekommen sie jährlich ca. 15.000€ von ihren Mitgliedern (70 Mitglieder; sehr erlesene und zum Teil geheime Mitglieder; und ca. 4.000 Unterstützer), aber allein im Jahr 2014 zahlten sie 1 Mio. € auf ihr Konto ein, von denen niemand weiß, woher sie kommen. Verschiedenen rechtskonservativen Zeitungen zu Folge (ich erwähne die Ideologie, weil viele es anzweifeln würden, wenn es eher linke Zeitungen gewesen wären), kommt das Geld von Unternehmern des IBEX35 (spanischer Aktienindex, wie der DAX in Deutschland), die durch Vermittlungen der PP mit der SCC in Kontakt kamen. Ein „Gönner“ soll u.a. Telefónica sein, das größte Telekommunikationsunternehmen Spaniens und Lateinamerikas, und eines der größten Europas (in Deutschland u.a. O2, E-Plus/Base, Simyo/Blau, etc.). Aber auch der Staat scheint mitzumischen: so gewährte Renfe (die öffentliche Bahngesellschaft Spaniens) im Jahr 2014 hunderten Spaniern einen Rabatt von 50%, um mit dem Zug zu einer Demo der SCC in Barcelona zu fahren. Bei keinem Meeting der SCC fehlen Mitglieder der rechtsextremen Parteien und Vereine. Gründer der rechtsextremen Somatemps, wie z.B. Josep Ramon Bosch oder Javier Barraycoa (hier bei einem Treffen, im Hintergrund die franquistische Flagge Spaniens und die der faschistischen Falange), waren u.a. auch Gründungsmitglieder der SCC und ersterer auch erster Präsident der SCC. In letzter Zeit versucht sich die aktuelle Leitung der SCC von Somatemps zu distanzieren, aber es funktioniert nicht; jeder weiß, woher sie kommen. Vor dieser Demonstration distanzierte man sich zwar öffentlich von Somatemps, um die Leute nicht abzuschrecken, doch später kam heraus, dass man die Demonstrationen bei geheimen Treffen zusammen organisiert hatte. Dass das EU-Parlament dieser Organisation – nur wenige Monate nach ihrer Gründung – im November 2014 den Europäischen Bürgerpreis verlieh, ist dementsprechend mehr als beschämend.

Es erstaunte also niemanden, dass neben der SCC auch Vox, PxC, die Falange Auténtica, Hazte Oír (ein ultra-katholischer, rechtsextremer Verein, der wegen seiner homophoben und transphoben Kampagnen bekannt wurde; wurde 2013 von der PP als gemeinnütziger Verein anerkannt und gilt als spanische Vertretung des ultra-katholischen, antidemokratischen mexikanischen Geheimbundes El Yunque), die Fundación José Antonio Primo de Rivera (Stiftung in Gedenken an José Antonio, Sohn des Diktators Miguel Primo de Rivera und Gründer der faschistischen Falange), Democracia Nacional (neonazistische Partei), Som Identitaris (identitäre Vereinigung; „neues Projekt“ des Gründers von PxC, Josep Anglada), und die FE/Falange (es gibt ganz viele Splitterparteien der ursprünglichen Falange Española), ihre Mitglieder dazu aufriefen, auch an dieser Demonstration teilzunehmen. Dass sich die PP und Ciudadanos der Demo anschlossen war kaum verwunderlich, sind ja beide Parteien von Anfang an in diesem ganzen spanisch-nationalistischen, rechten, rassistischen, falangistischen Sumpf verstrickt. Die Tatsache, dass sich allerdings auch hohe Mitglieder des sozialdemokratischen PSC dort blicken ließen, enttäuschte jedoch einige.


Bedeutung des PSC

Der PSC war zwar nie separatistisch, aber sehr wohl katalanistisch und souveränistisch: Während der Transición waren sie Verfechter des Rechts auf Selbstbestimmung (Derecho de Autodeterminación) und der Anerkennung Kataloniens als Nation; bei der Ausarbeitung des neuen Autonomiestatuts 2006 waren sie unglaublich wichtig – schließlich ging die Initiative von ihnen aus (mit Pasqual Maragall als Präsidenten der Generalitat) – und selbst 2012/2013 verabschiedete der PSC zusammen mit anderen katalanistischen Parteien mehrere souveränistische Resolutionen. Darunter z.B. die Aufforderung an die katalanische Regierung, eine Volksbefragung über die Zukunft Kataloniens durchzuführen. Teile des PSC unterstützten auch eine Gesetzesinitiative des katalanischen Parlaments, damit die spanische Regierung der Generalitat zeitweise die Kompetenzen für die Durchführung eines Referendums überträgt (dafür stimmten CiU, ERC, ICV-EUiA und Teile des PSC). Als Rajoy – und der spanische Kongress (mit 85%) – dies kategorisch ablehnte, stimmte der PSC sogar für das katalanische Gesetz, das es der Generalitat erlaubte, „nicht-referendielle Volksbefragung“ ohne die Erlaubnis von Madrid durchzuführen (106 Ja-Stimmen von CiU, ERC, ICV-EUiA, PSC und CUP, fast 80% des katalanischen Parlaments; nur 28 Nein-Stimmen von PP und Ciudadanos). Das war im Jahr 2014. Angesichts der heutigen Haltung des PSC, scheint das schier unglaublich.

Viele Rechte, die Katalonien zurückgewonnen hat, haben wir ihrer Unterstützung zu verdanken. Außerdem brachten sie auch den Katalanismus (Kampf um die Anerkennung Kataloniens als Nation, Schutz der katalanischen Sprache und Kultur) in die spanischsprachigen Zuwanderergemeinden Kataloniens, was immer den sozialen Frieden gewährleistet hat. Viele in Spanien nennen den Katalanismus auch Nationalismus, was aber nicht ganz stimmt; zumindest entspricht er nicht dem deutschen Bild des Nationalismus. Er ist eine direkte Schutzreaktion auf den spanischen Staatsnationalismus, der versucht, alle andere Kulturen des Staates zu assimilieren, d.h. der Katalanismus hat immer einen defensiven und antifaschistischen Charakter (besonders wegen der Franco-Diktatur) und ihm fehlt durch den nicht vorhandenen staatlichen Rückhalt der chauvinistische Charakter, den z.B. der spanische, der US-amerikanische, der türkische, der ungarische, der serbische oder der deutsche Nationalismus so oft an den Tag legen. Es ist auch nicht jeder Katalanist ein Nationalist: denn Nationalismus beschreibt ja eigentlich nur das Streben nach einem souveränen Staat für seine Nation. Und nicht jeder Katalanist will ein vollkommen unabhängiges Katalonien. Bis vor wenigen Jahren war man mit mehr Eigenständigkeit/Autonomie für Katalonien zufrieden (dies ist z.B. bis heute die Haltung des PSC). Außerdem ist der Katalanismus sehr offen und inklusiv: Wer in Katalonien lebt und sich mit Katalonien, der katalanischen Sprache, Kultur, Geschichte, etc., identifiziert, gilt als Katalane, egal, ob man in Sevilla, Murcia, Lima, Bogotá, Rabat, Bukarest oder Girona geboren wurde, oder ob die Eltern von Außerhalb kamen. Andererseits gilt für Teile des Katalanismus ein Katalane, der zwar „acht katalanische Nachnamen“ hat (also alle Nachnamen der Großeltern — jeder in Spanien hat zwei Nachnamen — katalanisch sind), aber trotzdem aktiv gegen Katalonien, gegen die katalanische Sprache und Kultur arbeitet, als „Botifler“ (≈Verräter; der Begriff stammt noch aus dem 18. Jhd. und wurde für katalanische Unterstützer des Königs Felipe V. benutzt; heute z.B. Teile der katalanischen Bourgeoisie, oder Leute wie Josep Borrell, Joaquim Coll i Amargós und Teresa Freixes von der SCC, und Alejo Vidal-Quadras von PP/Vox/SCC, etc.).

Die spanischsprachige „Arbeiterklasse“, die vor allem 1960-1980 nach Katalonien eingewandert war, war überwiegend links/sozialdemokratisch und wählte traditionell immer PSC oder PSUC (Partit Socialista Unificat de Catalunya). Da sie sich zudem in den Gemeinden rings um Barcelona niederließen und dort immer der PSC gewann, hieß dieses Gebiet auch lange Zeit „der rote Gürtel“ (cinturón rojo; rot ist die Farbe des PSC); im Gegensatz zum Rest Kataloniens, wo größtenteils CiU (liberales/christdemokratisches und katalanistisches Parteienbündnis von Convergència Democràtica de Catalunya und Unió Democràtica de Catalunya; dunkelblau) gewann.

Für den sozialen Frieden war die Arbeit des PSC und des PSUC (heute Teil von ICV) in diesen Gemeinden unglaublich wichtig, denn sie förderte die Integrationsbereitschaft vieler Einwanderer. Und somit wuchs auch die Akzeptanz in der ansässigen katalanischen Bevölkerung, die sich plötzlich in einer Gesellschaft wiederfand, in der sie kulturell und sprachlich eine Minderheit darstellte. Als größter Erfolg gilt nach wie vor die Einführung des Katalanischen als Hauptunterrichtssprache in den Schulen; eine Initiative, die vor allem von den spanischsprachigen Einwanderern ausging. Viele arbeiteten in Fabriken, aufm Bau, etc. und sahen, dass alle ihre Vorgesetzten und Chefs katalanischsprachig waren. Deshalb wollten viele, dass ihre Kinder so gut wie möglich Katalanisch lernen, um ihnen so bessere Aufstiegschancen zu bieten (die erste Schule, die 1983 das Katalanische als Unterrichtssprache einführte, lag im spanischsprachigen Arbeiterviertel El Fondo in Santa Coloma de Gramenet).

Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch der 11. September 1968 in Sabadell. Der PSUC und Comisiones Obreras/ CC. OO. (damals eine verbotene Gewerkschaft, die den Kommunisten nahe stand; heute größte Gewerkschaft Spaniens) – der PSC spielte hier noch keine Rolle, da er erst 1977 gegründet wurde – hatten sich dazu entschlossen, den Kampf gegen die Diktatur und für mehr soziale Rechte mit den Forderungen des Katalanismus zu verbinden, um eine Spaltung der katalanischen Gesellschaft in „Alteingesessene“ und „Neuankömmlinge“ zu verhindern. Der örtliche Verband entschied, dass in Sabadell am katalanischen Nationalfeiertag – der seit 1939 verboten war – überall katalanische Flaggen (Senyeres) hängen sollten. Die Mitglieder, die teilweise noch nicht einmal wussten, wie die Senyera aussah, nähten Zuhause unzählige Flaggen und hängten sie in der Nacht zum 11. September 1968 überall in der Stadt auf. Die Polizei nahm dutzende Menschen wegen „Sabotage“ fest. Ihre Nachnamen waren Rodríguez, Morante, González, Martínez, Álvarez, Fernández, etc.; keiner von ihnen war in Katalonien geboren worden, aber alle unterstützten die katalanistischen Forderungen. Während der Transición übernahm der PSC diese Rolle des PSUC, der sich langsam in der Partei ICV auflöste (ICV ist heute Teil von CSQEP bzw. En Comú-Podem). Im Jahr 2003 gewann der PSC sogar die Wahlen in Katalonien, Pasqual Maragall wurde zum Präsidenten (dank einer Koalition von PSC-ERC-ICV). Doch seitdem sinkt der Zuspruch, viele vorher „rote“ Städte und Stadtteile wurden „orange“ (Ciudadanos) oder „violett“ (En Comú-Podem). Und das haben wir vor allem dem ethnizistischen Diskurs von Ciudadanos zu „verdanken“, der direkt an die spanischen, nicht-katalanischen Wurzeln der Menschen appellierte, Ängste schürte (wie z.B. die „Nationalisten“ wollen euch eure Sprache und Heimat wegnehmen) und so die jahrzehntelange Integrationsarbeit zunichte machte.


Zunächst verlief die Demonstration der SCC friedlich. Etwa 350.000 Menschen nahmen teil und verwandelten die Straßen Barcelonas in ein Meer von Spanien-Fahnen. Noch nie in der Geschichte hatte man sowas in der katalanischen Hauptstadt gesehen. Was man allerdings auch noch nie gesehen hatte war, dass unzählige Spanier in über hundert gecharterten Bussen, im eigenen Auto und auch per Zug aus dem Rest Spaniens nach Barcelona gepilgert kamen, um an der Demo teilzunehmen. Im Internet kursierten dutzende Plakate aus spanischen Städten, in denen die Busfahrt gratis angeboten wurde. Es sollte der Tag der „schweigenden Mehrheit“ sein, wie sie die PP und Ciudadanos oft nennen. Naja, zuerst waren sie die „schweigende Mehrheit“ (mayoría silenciosa), später nannte man sie die „totgeschwiegene Mehrheit“ (mayoría silenciada). Warum dann aber tausende Leute von Außerhalb holen? Es dauerte nicht lange, bis man die ersten Franco-Fahnen sah, sich die ersten mit dem Hitlergruß begrüßten, etc. Natürlich waren die meisten Menschen dort keine Nazis oder Faschisten. Viele hatten die Nase voll vom Unabhängigkeitsprozess, und endlich hatte man ihnen auch mal eine Demo organisiert (man war ja nur die Demos der Unabhängigkeitsbefürworter gewöhnt).

Aber es war von Anfang an bekannt, wer zu dieser Demo aufruft und wer dort sein würde. Zu den häufigsten Sprechchören gehörten „Yo soy español“ (Ich bin Spanier), „Viva España“ (Es lebe Spanien), „Viva la Guardia Civil“ (Es lebe die Guardia Civil) und „Puigdemont a prisión“ (Puigdemont ins Gefängnis). Doch es gab viele Zwischenfälle: eine Gruppe Demonstranten hinderte die Feuerwehr daran, ein Feuer zu löschen; etwa 1.500 Demonstranten versammelten sich vor dem Hauptquartier der Mossos d’Esquadra, um sie zu beleidigen und zu bedrängen; während der Demo wurden mehrere Fenster, an denen eine Estelada hing, mit Steinen eingeschlagen; mehrere Journalisten wurden beleidigt, bedrängt und angespuckt; Autos der Mossos d’Esquadra wurden mit Flaschen beworfen und überall kam es zu Schlägereien und Übergriffen, selbst ein Marokkaner wurde von einer Gruppe Ultras geschlagen, während er über die Straße ging. Außerdem sah man auf der Demo einige Franco-Flaggen (die mit dem Adler drauf), Hitlergrüße, „Sieg Heil“-Rufe, und einige sangen die „Cara al Sol“, die Parteihymne der faschistischen Falange. Das sind zwar alles Sachen, die passieren können, wenn so viele unterschiedliche Menschen zu einer Demo gehen, aber weder die SCC, noch die Parteien, die teilgenommen hatten, distanzierten sich öffentlich von der Gewalt und den faschistischen Akten.

Einen Tag vorher hatte eine Demo der Bürgerplattform „Parlem/Hablemos“ (Lasst uns reden) unter dem Motto „España es mejor que sus gobernantes. Parlem? ¿Hablamos?“ (Spanien ist besser als seine Regierenden. Reden wir?) stattgefunden. Alle trugen weiß, als Zeichen dafür, Inne zu halten, und einen Dialog mit dem anderen Spanien zu beginnen; also dem Spanien, das nicht nationalistische Parolen grölend und Spanien-Fahnen schwenkend auf der Straße stand. Was bei dieser Demo besonders auffiel, war die Abwesenheit von Fahnen, denn die Organisatoren hatten dazu aufgerufen, keine mitzubringen. Es gab auch keine patriotischen/nationalistischen Slogans. Es gab weiß, als Zeichen der Waffenruhe. Allerdings war diese Demo um einiges kleiner (mehrere zehntausend Teilnehmer), denn sie passte nicht in das polarisierte Ambiente. Trotzdem war die Demo ein Erfolg und ein Hoffnungsschimmer für die, die wir die Polarisierung satt hatten. Am nächsten Tag gab es in ganz Spanien ähnliche Demos: Tausende gingen in Madrid, Zaragoza, Málaga, Palma oder València in weiß auf die Straßen, um einen Dialog zu fordern. Traurigerweise waren aber die patriotischen/nationalistischen Demos zahlenmäßig immer größer und bekamen dadurch die meiste mediale Aufmerksamkeit.

Am 9. Oktober, einen Tag vor der Parlamentsabstimmung zur Unabhängigkeit, warnte Pablo Casado (von der PP) Puigdemont in einer öffentlichen Ansprache davor, die Unabhängigkeit auszurufen, weil er sonst so enden könnte wie Lluís Companys. Das war ein Affront und wurde teilweise auch als Morddrohung aufgenommen. Denn Lluís Companys, damaliger Präsident Kataloniens, rief im Jahr 1934 die Unabhängigkeit Kataloniens aus und wurde daraufhin zunächst verhaftet und zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt. Nach zwei Jahren wurde er aber von der neuen republikanischen Regierung Spaniens begnadigt. Als Francos Truppen im Jahr 1939 in Katalonien einfielen, floh er nach Frankreich, wurde dort allerdings von den Deutschen verhaftet, an Franco ausgeliefert und im Jahr 1940 in Barcelona hingerichtet. Zu sagen, dass jemand so enden könnte wie Companys ist also alles andere als eine Lappalie, auch wenn die PP das so darstellen wollte. Casado reihte sich so in eine Liste von Drohungen von Seiten der spanischen Regierung ein; z.B. hatte María Dolores de Cospedal, die spanische Verteidigungsministerin, zuvor schon gesagt, dass das Militär bereit wäre, um „die Einheit Spaniens zu garantieren“.

Kurz nach dem Referendum entstand im Rest Spaniens eine Bewegung in den sozialen Netzwerken und Whatsapp, die zum Boykott katalanischer Produkte aufrief. Das war an und für sich nichts Neues; in den letzten 10 Jahren – wie auch schon in den zehner und zwanziger Jahren des 20. Jhd. – wurde immer wieder zum Boykott Kataloniens aufgerufen, mit geringem Erfolg. Aber dieses Mal war es anders. Laut den Umfragen (im Rest Spaniens, in Katalonien wurde niemand befragt), hatten 23% der Befragten bereits angefangen, katalanische Produkte zu boykottieren und 21% dachten darüber nach; nur 36% sprachen sich kategorisch gegen den Boykott aus. Betroffen waren nicht nur „typisch“ katalanische Produkte wie Cava oder Wurstware, sondern auch alle anderen Unternehmen, die ihren Sitz oder ihre Produktionsstätten in Katalonien hatten. Es kam sogar eine App auf den Markt, mit der man herausfinden konnte, ob ein Produkt katalanisch ist oder nicht. Es dauerte nicht lange und schon hatten die rechts-populistischen Medien der Hauptstadt wie z.B. Intereconomia, ganze Listen von Unternehmen veröffentlicht, die ihren Sitz in Katalonien haben. Zwar verkündete selbst Rajoy öffentlich, dass ein Boykott am Ende auch andere Regionen Spaniens treffen würde, doch das half nichts.

Die Wut mancher Spanier kannte keine Grenzen. Der Boykott traf nicht nur Katalonien, sondern indirekt vor allem auch Extremadura, Andalusien und Aragonien. So stellen Freixenet oder Codorníu zwar den beliebten katalanischen Schaumwein her (die Anbaugebiete und Produktionsstätten befinden sich in Katalonien), jedoch benutzen sie z.B. Flaschen aus Aragonien, Korken aus der Extremadura, Holzkisten aus Valencia und Aufkleber aus Murcia. Die Firma Solís (gehört mittlerweile leider zu Nestlé) benutzt für ihre in ganz Spanien beliebte Tomatensoße ausschließlich Tomaten aus der Extremadura. In einer globalisierten Wirtschaft trifft so ein Boykott halt nämlich auch die Zulieferer. In manchen Bereichen ging der Verkauf um 40% zurück; die Aktienwerte der katalanischen Banken fielen um zwischen 8 und 12 % und viele Kunden begannen, ihre Konten entweder aus Angst vor einem vermeintlichen „Corralito“ (Einfrieren der Konten) oder aus Wut darauf, dass diese Banken ihren Sitz immer noch in Katalonien hatten, zu leeren. Wie ein Jahr später bekannt wurde, hatte die Regierung Rajoy extremen Druck auf die katalanischen Banken ausgeübt: viele öffentliche Unternehmen (u.a. Renfe, die öffentliche Bahngesellschaft Spaniens; Adif, die öffentliche Eisenbahninfrastruktur-Verwaltung; RTVE, öffentlicher Rundfunk; und die staatliche Hafenbehörde „Puertos del Estado“) zogen noch am 1-O ihr Geld von den katalanischen Banken ab. Beim Banc Sabadell sollen es so über 2 Milliarden Euro an einem Tag gewesen sein. Insgesamt geht man von ca. 10 Milliarden aus (etwa ein Drittel der ca. 35 Milliarden Euro, die im Oktober 2017 von den Banken Sabadell und CaixaBanc abgezogen wurden), die der Staat hat abziehen lassen. Damit kann man eine Bank nicht nur ruinieren, sondern auch die gesamte Wirtschaft Kataloniens begraben. Die Öffentlichkeit bekam davon erst Wind, als die Aktienwerte anfingen zu sinken. Und das löste einen Schneeballeffekt aus. 

Die Bank CaixaBank und andere Unternehmen wandten sich daraufhin an Rajoy (oder Rajoy an sie?), und der erließ innerhalb weniger Stunden ein Dekret, das es allen Unternehmen in Katalonien erlaubte, ihren Firmensitz innerhalb von 24 Stunden und ohne vorher ihre jeweiligen Aktionäre zu befragen (was eigentlich gesetzlich vorgeschrieben ist), in den Rest Spaniens zu verlegen. Kurz nachdem die katalanischen Banken ihren Firmensitz verlegt hatten, kehrten die abgezogenen öffentlichen Gelder zurück. Das „Angebot“ der Firmensitz-Verlegung wurden von vielen genutzt: in den folgenden Tagen verlegten hunderte Unternehmen ihren Firmensitz, nicht zuletzt weil die EZB bekannt gab, dass ein unabhängiges Katalonien den Rettungsschirm der EZB verlassen würde. Andererseits sind die Körperschaftssteuern in Madrid auch sehr viel niedriger als in Katalonien, was wohl auch einige Unternehmen zur Verlegung bewegt haben könnte.

So gingen z.B.  Banc de Sabadell nach Alicante/Alacant, CaixaBank nach València, Gas Natural (einer der drei großen Energiekonzerne) nach Madrid, Aigües de Barcelona (Trinkwasserver- und Abwasserentsorgung) nach Madrid, Cerveses San Miguel (mit Mahou größter Bierproduzent Spaniens) nach Málaga, Catalana Occidental (große Versicherungsgesellschaft) nach Madrid, Grupo Planeta (Medienunternehmen und größter Verlag der spanischsprachigen Welt) nach Madrid, eDreams nach Madrid, Codorníu nach La Rioja, oder Pastas Gallo (Pasta-Hersteller, 45% Marktanteil) nach Córdoba. Dies nutzte die spanische Regierung zudem als Druckmittel. Denn obwohl allen bekannt war, dass die Verlegung eher einen symbolischen Wert hatte, da weder Produktionsstätten noch Büros verlegt wurden, drohte man Katalonien damit, dass noch mehr Unternehmen das Land verlassen würden (wie damals in Montreal, vor dem Unabhängigkeitsreferendum im Quebec). Jeden Tag stand die Zahl der Unternehmen, die ihren Firmensitz verlegt hatten, auf allen Titelseiten, obwohl dies kaum finanzielle Folgen hatte: Zwar müssen Firmen dort, wo sie den Firmensitz haben, ihre Körperschaftssteuer bezahlen, aber diese Steuern gehen direkt an Madrid und werden dann weiter an die Autonomen Gemeinschaften verteilt (finanzielle Folgen hätte das erst, wenn Katalonien tatsächlich unabhängig wäre, wobei dann noch offen wäre, ob nicht viele der Unternehmen wieder Firmensitze in Katalonien eröffnen würden). Ob tatsächlich jedes Unternehmen aus freien Stücken entschied, ist außerdem mehr als fraglich. Denn neben der offensichtlichen Erpressung der katalanischen Banken (die sich allerdings immer gegen die Unabhängigkeit ausgesprochen hatten), beschwerten sich später mehrere Unternehmen öffentlich über den Druck, den Madrid auf sie ausgeübt hatte. Die bekannteste Kritik dazu kam vom Betriebsrat von Seat, der sich öffentlich über den Druck Madrids und des Königs beschwerte („presiones políticas y monárquicas“).

Neben dem politischen und wirtschaftlichen Druck, kam der juristische hinzu: die Staatsanwaltschaft, die direkt dem spanischen Justizminister untersteht, erhob Anklage gegen Jordi Sànchez (Präsident der ANC), Jordi Cuixart (Präsident von Òmnium Cultural) und Josep Lluís Trapero (damaliger Polizeipräsident der Mossos d’Esquadra) wegen Sedición“ (Aufruhr); eine Straftat, die es in Deutschland seit 1970 nicht mehr gibt, für die man aber in Spanien bis zu 15 Jahre ins Gefängnis gehen kann. Außerdem ließ der Generalstaatsanwalt Maza – dem seine demokratische Legitimität bereits vom spanischen Parlament mit absoluter Mehrheit entzogen worden war – immer wieder verlauten, dass er auch gegen Puigdemont Anklage erheben möchte.

Da die Parlamentssitzung vom 9. Oktober vom spanischen Verfassungsgericht ausgesetzt worden war, verlegte man sie kurzerhand auf den 10. Oktober. Parteien wie der PSC oder Catalunya Sí Que Es Pot werteten dies als positiven Schritt, da so das Dialogfenster offen gehalten wurde. Und tatsächlich versuchten mehrere Politiker zu vermitteln – allen voran der Lehendakari Urkullo –  doch Rajoy und die PP weigerten sich, mit den „Putschisten des 21. Jhd.“ zu verhandeln. Puigdemont wartete bis zum Abend, doch aus Madrid kam nichts. Also trat er ans Rednerpult. Niemand – weder seine Parteigenossen vom PDeCAT, noch die anderen Unabhängigkeitsparteien ERC und CUP – wusste, was er sagen würde. Zehntausende Katalanen hatten sich vor dem Parlament versammelt, um der Unabhängigkeitserklärung beizuwohnen und um die Regierung im Zweifelsfall zu beschützen. Außerdem warteten über 1000 akkreditierte nationale und internationale Journalisten im Parlament, um dem Ereignis beizuwohnen. In seiner Rede sagte er, er „übernehme das Mandat der katalanischen Bevölkerung, wonach sich Katalonien in einen unabhängigen Staat in Form einer Republik verwandelt“. Doch nur wenige Sekunden später fügte er hinzu, dass die Regierung und er „vorschlagen, dass das Parlament die Wirkung der Unabhängigkeitserklärung aussetzt, damit in den kommenden Wochen einen Dialog beginnen“ könne. Alle waren perplex: Die Journalisten wussten nicht genau, ob er die Unabhängigkeit nun ausgerufen hatte oder nicht, und den Leuten auf der Straße stand der Schock ins Gesicht geschrieben. In einem Moment hatten sie noch ausgelassen gefeiert, im nächsten Moment waren ihre Mienen erstarrt.

Faktisch gab es also erstmal keine Unabhängigkeitserklärung, obwohl nach der Debatte in einem anderen Raum eine Erklärung dazu unterzeichnet wurde. So eine Erklärung ist allerdings symbolisch und hat keinen juristischen Wert, und auch Puigdemonts Rede war ein politischer Diskurs im Parlament, keine formale Unabhängigkeitserklärung. Somit warf Puigdemont den Ball wieder zurück zu Rajoy. Er selbst hatte erneut zum Dialog aufgerufen, und war sogar bereit, große Teile seiner Wählerschaft zu enttäuschen, indem er die Unabhängigkeitserklärung ausgesetzt hatte. Denn eigentlich hatten alle Unabhängigkeitsbefürworter an dem Tag damit gerechnet, dass die Unabhängigkeit ausgerufen wird.

Doch anstatt sich mit Puigdemont an einen Tisch zu setzen, leitete Rajoy die Anwendung des Artikels 155 ein. Dieser sagenumwobene Artikel 155 wurde noch nie angewendet und ist äußerst schwammig formuliert, was sehr viel Raum für Interpretationen lässt. Der Artikel 155 basiert auf dem Artikel 37 des deutschen Grundgesetzes (Bundeszwang), und erlaubt der Regierung „Maßnahmen zu treffen“, um eine Autonome Gemeinschaft dazu zu bringen, ein Gesetz oder die Verfassung durchzusetzen. Wie genau diese Maßnahmen aussehen dürfen, steht nirgendwo, und da er noch nie angewendet wurde, hatte sich auch das Verfassungsgericht noch nie dazu geäußert. Im Artikel steht nur, dass die Regierung den Autonomiebehörden Anweisungen geben darf, um bestimmte Gesetze oder die Verfassung umzusetzen. Rajoy jedoch hatte schon einen Plan, wie die Intervention aussehen sollte, und versuchte, die anderen Parteien mit ins Boot zu holen. Ciudadanos hatte kein Problem damit, schließlich forderten sie schon wochenlang die Intervention der katalanischen Autonomie, manchmal sogar den Ausnahme- oder Belagerungszustand, was dem Militär erlauben würde, die Macht in Katalonien zu übernehmen. Die PSOE dagegen hatte immer gesagt, dass sie einer Anwendung des Artikels 155 niemals zustimmen würde. Der Parteichef, Pedro Sánchez, hatte immer wieder gesagt, dass er mit Katalonien anders umgehen würde als Rajoy. Und viele hatten ihm vertraut. Aber auch seine Meinung sollte sich ändern.

Denn um die Unabhängigkeit Kataloniens zu verhindern und die Einheit Spaniens zu garantieren, hatten sich alle Kräfte des Staates zusammengetan. Nahezu alle Medien – egal ob öffentlich oder privat – das Militär, die Guardia Civil, der Generalrat der Rechtsprechenden Gewalt, Großunternehmer, Teile der katholischen Kirche (allen voran der Opus Dei; in Katalonien dagegen nicht), etc. forderten die Anwendung des Artikels 155. Es ist traurig zu sehen, wie es vor allem in den Medien Spaniens zu einer Gleichschaltung kam, was das Thema Katalonien anging. Es wurden sogar kritische Journalisten entlassen (so wurde z.B. der Brite John Carlin von El País entlassen, nachdem dieser in The Times einen kritischen Artikel über die Rolle der Zentralregierung veröffentlicht hatte) oder kritische Stimmen aus den Polit-Talkshows und Morgenprogrammen verbannt. Es reichte nicht nur „gegen die Unabhängigkeit“ zu sein, man musste außerdem dem offiziellen Kurs folgen. Es herrscht das bekannte „Wenn du nicht für mich bist, bist du gegen mich“. Von staatlichen Propagandamedien ist das ganze leider nicht mehr weit entfernt. Selbst Juan Luis Cebrián, der Gründer von El País – der größten Tageszeitung Spaniens und traditionell eher linksliberal geprägt und dem PSOE nah, mittlerweile gleicht sie aber eher einem Fan-Club von Ciudadanos – gab ein Interview bei seinem stärksten Konkurrenten El Mundo – zweitgrößte Tageszeitung Spaniens, sehr konservativ – in dem er forderte, dass man den Artikel 155 anwenden müsste.

Noch am Abend des  1-O waren Stimmen beim PSOE laut geworden, die forderten, Soraya Sáenz de Santamaría (Vizepräsidentin von Rajoy, und zuständig für die Territorialverwaltung, und somit auch für den Dialog mit Katalonien) im Parlament zu missbilligen. Doch als am 3. Oktober zum medialen, parteiinternen, wirtschaftlichen und militärischen Druck, noch die Rede des Königs hinzu kam, knickte Pedro Sánchez ein und gab Rajoy sein Wort, ihn mit dem Artikel 155 zu unterstützen. Am 11. Oktober ging dann die offizielle Aufforderung an Puigdemont raus, in der man von ihm wissen wollte, ob er nun die Unabhängigkeit erklärt hatte oder nicht. Dies ist der erste Schritt für die Anwendung des Artikels 155: sollte Puigdemont nicht zur Zufriedenheit der PP antworten, dann würde der Senat – wo die PP mit nur 33 % der Stimmen über 62 % der Sitze hat (also die absolute Mehrheit) – über das Maßnahmenpaket des Artikels 155 abstimmen. Diese eigenartige Mehrheit hat die PP dem Wahlsystem und der Verteilung der wählbaren Senatoren pro Provinz zu verdanken. Jede Provinz des Festlandes schickt 4 Senatoren in den Senat, wobei meist drei davon an die stärkste Partei gehen. So schickt Soria, mit nur 76.000 Einwohnern, genauso viele Senatoren in den Senat wie Madrid, obwohl die Provinz/Autonome Gemeinschaft Madrid über 5 Mio. Einwohner hat. Die gesamte Autonome Gemeinschaft Castilla y León (bestehend aus 9 Provinzen) schickt z.B. insgesamt 36 Senatoren in den Senat, neunmal mehr als Madrid (nur eine Provinz, also 4 Senatoren) und mehr als doppelt so viele wie Katalonien (4 Provinzen, also 16 Senatoren), obwohl sowohl Madrid (ca. 5 Mio.) als auch Katalonien (ca. 7,5 Mio.) mehr als doppelt so viele Einwohner haben wie Castilla y León (ca. 2,4 Mio.). Und da in den ländlichen Regionen Kastiliens immer die PP gewinnt, enstehen halt solche illegitimen Mehrheiten im Senat, der eigentlich die territoriale Repräsentation (vergleichbar mit dem Bundesrat) sein sollte und im Endeffekt heute dazu dient, die Gesetzesänderungen der Opposition abzuschmettern, die die PP im Kongress als Minderheitsregierung nicht selbst abschmettern kann.

5 Tage hatte Puigdemont Zeit, um Rajoy zu sagen, was er hören wollte. Doch seine Antwort, in der er darauf beharrte, dass es sich um einen politischen Akt gehandelte hatte und erneut zum Dialog einlud, war Rajoy nicht klar genug. Also gab er ihm nochmal 3 Tage, um mit „Ja“ oder „Nein“ zu antworten. Auch diese Antwort war nicht zufriedenstellend, obwohl Puigdemont in einem Nebensatz erwähnte, dass das Parlament nicht über die Unabhängigkeit abgestimmt hatteFinalmente, si el Gobierno del Estado persiste en impedir el diálogo y continuar la represión, el Parlament de Catalunya podrá proceder, si lo estima oportuno, a votar la declaración formal de independencia que no votó el día 10 de octubre» — ‘Schließlich wird das Parlament Kataloniens, sollte die Staatsregierung weiterhin einen Dialog verhindern und an der Repression festhalten, über die formelle Unabhängigkeitserklärung abstimmen, über die es am 10. Oktober nicht abgestimmt hatte’). Damit war die Frage ja beantwortet. Eigentlich hätte Rajoy sich einfach nur die enttäuschten Gesichter der Leute auf der Straße angucken müssen, um zu sehen, dass es keine Unabhängigkeitserklärung gegeben hatte. Aber es war offensichtlich, dass selbst ein klares „Nein“ Rajoy nicht mehr abgehalten hätte, schließlich arbeitete die Regierung – wie später herauskam –  schon seit April 2017 an dem Maßnahmenpaket und dem Weg der Anwendung. So war also der Weg frei für die Senatsabstimmung. Aber dazu gleich mehr.

Am 12. Oktober war der spanische Nationalfeiertag (Día de la Hispanidad; früher auch „Día de la Raza“ – Tag der Rasse), der in Katalonien traditionell eher wenig bis gar nicht gefeiert wird. Meistens versammelten sich einige wenige Falange- oder Democracia Nacional-Anhänger mit ihren Franco-Flaggen auf der Plaça Espanya oder auf dem Montjuïc in Barcelona; in den letzten Jahren waren es aber immer ein paar Tausend Menschen, die von Ciudadanos und der SCC auf die Straße gebracht wurden. Dieses Jahr waren es mehr als jemals zuvor: Etwa 60.000 Menschen folgten dem Aufruf von SCC, PP, Ciudadanos, Vox, Comunión Tradicionalista Carlista, Hogar Social Madrid (ein von Neonazis betriebenes Sozialzentrum in Madrid, das ausschließlich Spaniern hilft), Somatemps und Hazte Oír. Sie verlief zwar friedlicher und ohne größere Zwischenfälle, aber es fehlten mal wieder nicht die Ultras. Zeitgleich fand in Madrid der traditionelle Militärmarsch statt: über 4.000 Soldaten und Polizisten marschierten durch Madrid, unter dem Motto „Wir sind stolz, Spanier zu sein“ (das Motto wurde vom Verteidigungsministerium festgelegt). Bereits zum Ende der Demo in Barcelona ging die Gewalt los. Dutzende Fußball-Hooligans, die nach Barcelona gekommen waren, um für die Einheit Spaniens zu demonstrieren, fingen an, sich untereinander zu schlagen (anscheinend wegen der Feindschaften im Fußball). Es wurde zu einer Straßenschlacht, bei der sie sich gegenseitig mit Stühlen, Tischen, etc. des Cafè Zurich (mitten in der Innenstadt an der Plaça Catalunya) bewarfen. Zuvor hatten die Mossos d’Esquadra schon dutzende Menschen durchsucht, und Schlagringe, Leuchtraketen, Schlagketten und faschistische Flaggen konfisziert. Ich möchte nicht, dass man denkt, dass jeder, der zu einer Unionisten-Demo geht, rechts oder faschistisch ist. Es gibt viele Menschen, die lange still waren, und die jetzt, wo sich alles so zugespitzt hatte, mal ihren Frust raus rufen wollten. Was ich allerdings nicht verstehen kann, ist, dass man bereit ist, mit solchen Menschen auf eine Demo zu gehen. Wenn man sieht, dass einige versuchen, ein Spruchband mit der Aufschrift „Més Democràcia“ (Mehr Demokratie) vom Rathaus Barcelonas abzureißen, und das auch noch bejubelt, dann kann man nicht wirklich viel Verständnis erwarten. Ich glaube, jeder normale Demokrat würde sich da kurz hinterfragen. Aber entweder fehlt vielen dieses demokratische Verständnis oder sie sind einfach nicht ausreichend über die Organisatoren informiert…

Besonders hilfreich war natürlich auch nicht, dass die Polizeigewerkschaft UFP ein Bild einer bewaffneten Sondereinheit auf Twitter postete, und Puigdemont fragte, ob sie mal „miteinander sprechen“ sollten (in Bezug auf die Bewegung Hablamos/Parlem, die einen Dialog forderte). Mir ist klar, dass die spanische Regierung keinen Einfluss auf Gewerkschaften hat (zumindest nicht offiziell), aber muss sowas sein?

Es beginnt die Repression

Am 16. Oktober mussten Jordi Sànchez, Jordi Cuixart und Josep Lluís Trapero vor der Audiencia Nacional (Nationaler Staatsgerichtshof; ein Überbleibsel der Diktatur und hauptsächlich für Terrorismus und organisierte Kriminalität zuständig) aussagen. Die Staatsanwaltschaft forderte U-Haft für alle drei, was neben der Anklage wegen Aufruhr einfach nur absurd war. Aber die Richterin Lamela kam dem teilweise nach: Sànchez und Cuixart kamen ins Gefängnis, Trapero musste seinen Pass abgeben und muss alle 15 Tage im Gericht in Madrid erscheinen. Allein die Tatsache, dass die Anklage vom Gericht angenommen wurde, zeigt, dass es sich hier um einen politischen Prozess handeln wird. Die Straftat des „Aufruhrs“ beschreibt einen „öffentlichen, tumultartigen Aufstand“, der „mit Gewalt oder außerhalb des gesetzlichen Rahmens“ verhindern will, dass „ein Gesetz oder Gerichtsbeschluss durchgesetzt wird bzw. sich staatliche Institutionen aneignen will“. In Deutschland gibt es diesen Straftatbestand seit den 70er Jahren nicht mehr. Die Anklage bezieht sich hierbei auf die Demonstration am 20. September vor dem Wirtschaftsministerium und wirft den Angeklagten vor, dazu aufgerufen zu haben, die Arbeit der Guardia Civil zu verhindern (Sànchez und Cuixart) bzw. dies erlaubt zu haben (Trapero). Das ist absurd. Und wo fängt das an? Sind z.B. die Demos der PAH (Plattform für die Betroffenen der Hypotheken), die versuchen, durch Sitzblockaden die Polizisten daran zu hindern, die Menschen einfach aus ihren Häusern zu zerren und auf die Straße zu setzen, auch Aufruhr? Oder einfach gewaltfreier Widerstand gegen unmenschliche Gesetzgebungen? Ist eine spontane Demo vor einem Gebäude – die schon längst am Laufen war, als die beiden Angeklagten sie anmeldeten, um die Organisation und Verantwortung zu übernehmen – vielleicht einfach nur eine Demo und kein Verbrechen, für das man 15 Jahre ins Gefängnis gehen muss? Die Staatsanwaltschaft und die Richterin sind der Meinung, dass Aufruhr vorliegt, weil die Demonstranten die Polizisten nicht aus dem Gebäude gelassen haben sollen, nachdem diese ihren Auftrag durchgeführt hatten.

Auf den Videos sieht man, dass Jordi Sànchez und Jordi Cuixart zwar in der Nacht auf die Polizeiautos steigen (den ganzen Tag über hatten allerdings schon Journalisten die Autodächer besetzt, was die Videoaufnahmen klar beweisen), jedoch von dort aus den Demonstranten zurufen, dass sie die Demo beenden müssten. Und die Antwort vieler Demonstranten war „Nein“, Buh-Rufe und „Verräter“. Es gab keine Gewalt, die Polizisten konnten ihre Arbeit ungestört durchführen, nur haben sie sich – warum auch immer – geweigert, das Gebäude zu verlassen. Obwohl Freiwillige der ANC (der ja Jordi Sànchez vorstand) und die Mossos extra Gassen gebildet hatten. Obwohl die Mossos mehrmals angeboten hatten, die Polizeibeamten sicher raus zu begleiten. Obwohl selbst Sànchez und Cuixart persönlichen Kontakt zu den Polizeibeamten im Gebäude hatten, die ihnen versicherten, dass sie selbst nach über 15 Stunden noch nicht mit der Durchsuchung fertig waren, und das Gebäude deshalb noch nicht verlassen konnten. Und trotzdem sollen diese beiden Menschen, die sich ihr Leben lang für Frieden und Gewaltlosigkeit eingesetzt haben, für bis zu 15 Jahre ins Gefängnis? Die Reaktion darauf war groß. In jeder Ecke Kataloniens erklangen die Cassolades (Schlagen auf Töpfe). Es war kein Zufall, dass Sànchez und Cuixart (die die beiden großen zivilgesellschaftlichen Vereine ANC und Òmnium Cultural repräsentieren, die seit Jahren die großen Unabhängigkeitsdemos organisieren) wenige Stunden, nachdem Puigdemont Rajoy’s Anfrage nicht zufriedenstellend beantwortet hatte, inhaftiert worden waren. Am nächsten Tag kam es zu landesweiten Protesten, nicht nur in Katalonien (hier z.B. in Girona), sondern auch im Rest Spaniens. In Barcelona versammelten sich am Abend des 17. Oktober über 200.000 Menschen mit Kerzen, Lichtern und Spruchbändern, um gegen die Inhaftierung der beiden „Jordis“ zu protestieren.

Hier eine Doku, für die tausende Handy-Aufnahmen und Aufnahmen der Sicherheitskameras, der Journalisten und Fernsehkameras gesichtet wurden, die Schritt für Schritt dokumentiert, was an jenem 20. September 2017 in Barcelona passierte. Wie die Straßen schon voll waren, als die „Jordis“ ankamen; wie das Ambiente auf der Demo war; wie die Polizei versuchte, ohne Gerichtsbeschluss die Parteizentrale der CUP zu durchsuchen und so versuchte, die militantesten Unabhängigkeitsbefürworter zu provozieren, etc. Soll sich doch jeder selbst ein Bild davon machen und beurteilen, ob die „Jordis“ und Trapero für bis zu 30 Jahre hinter Gitter verschwinden müssen (mittlerweile wurde die Anklage nämlich auf „Rebellion“ erhöht).

Mit der andauernden Dialogverweigerung von Seiten Rajoys, der Polizeigewalt am 1O, den Drohungen von Seiten der PP und Ciudadanos, der bevorstehenden Aussetzung der Autonomie und nun mit der Inhaftierung der beiden Vereinsvorsitzenden, stieg der Druck auf Puigdemont, endlich die Unabhängigkeit auszurufen. Besonders die antikapitalistische CUP und die ANC drängten darauf, die Unabhängigkeit endlich umzusetzen, um Madrid zuvorzukommen; nicht zuletzt, weil Teile der PP und besonders Ciudadanos immer wieder andeuteten, dass man die separatistischen Parteien und Organisationen verbieten möchte.

Mittlerweile hatte Rajoy auch sein Maßnahmenpaket vorgestellt, das er mit dem Artikel 155 anwenden wollte: Die katalanische Regierung absetzen, das Parlament auflösen, die Spitze der Mossos ersetzen (bei Bedarf die Mossos auflösen), die öffentlichen Medien Kataloniens (TV3, Catalunya Ràdio) intervenieren, hohe Geldstrafen für diejenigen, die nicht den Anweisungen folgen und Neuwahlen innerhalb der nächsten sechs Monate. Kurz: die Aussetzung der Autonomie Kataloniens und die Absetzung einer demokratisch gewählten Regierung. Das alles ist nicht nur undemokratisch, sondern höchstwahrscheinlich auch verfassungswidrig (laut der Meinung der meisten spanische Verfassungsrechtler, denn im Artikel 155 steht nirgendwo, dass man eine demokratisch gewählte Regierung absetzen und ein Parlament auflösen darf). Das hatte die spanische Regierung das letzte Mal im Jahr 1934 gewagt, nach der Unabhängigkeitserklärung von Lluís Companys; zwei Jahre später begann der Bürgerkrieg durch einen Militärputsch, weil die Putschisten u.a. der Meinung waren, dass die Einheit Spaniens gefährdet sei.

Am 21. Oktober versammelten sich deshalb wieder über 500.000 Menschen in Barcelona, um einerseits für die Freilassung der Inhaftierten und andererseits gegen den Artikel 155 zu demonstrieren. Und wie jede Nacht in den letzten Wochen, ertönten gegen 22:00 Uhr die Cassolades.

Am 22. Oktober behauptete der spanische Außenminister Dastis bei der BBC, dass die Bilder der Polizeigewalt am 1-O „Fake News“ seien. Die Polizei hätte keine Gewalt angewendet, viel mehr wären die Polizeibeamten Opfer von Gewalt geworden. Von den anwesenden britischen Journalisten erntete er nur fassungslose Blicke; die BBC hatte ja selber Journalisten und Kameras vor Ort gehabt, und die Polizeigewalt gefilmt. Später sollte der Innenminister Zoido diese Worte in ähnlicher Weise wiederholen: Es hatte keine Polizeiübergriffe gegeben, das normale Zusammenleben war nie in Gefahr und die Polizei hatte ordnungsgemäß gehandelt. Manchmal hat man das Gefühl, dass die spanische Regierung denkt, sie könnte die Welt genauso manipulieren wie die eigene Bevölkerung. Aber jeder weiß, was am 1-O passiert ist, es ist alles dokumentiert; es gibt zehntausende Bilder und Videos, und Arztberichte zu jeder Person, die an dem Tag verletzt wurde. Skynews war am 1-O live dabei in Barcelona; der Reporter sprach mit Dastis und schon damals sagte er, dass er keine Gewalt von Seiten der Polizisten gesehen hätte. „Im Europa des 21. Jhd. ist das inakzeptabel”, erwiderte der Reporter. Ich frag mich manchmal, was das Ziel der spanischen Regierung ist, denn mit diesen Aussagen verhärten sich die Fronten einfach noch mehr. Andererseits weiß jeder, dass die PP und Ciudadanos im „tiefen Spanien“ (la España profunda) umso mehr Stimmen bekommen, je härter sie mit Katalonien umgehen.

In der katalanischen Schwesterpartei des PSOE, dem PSC, regte sich Widerstand gegen die geplante Anwendung des Artikels 155. Die Bürgermeister mancher Großstädte, wie z.B. Núria Parlón (Bürgermeisterin von Santa Coloma de Gramanet), Jordi Ballart (Terrassa) und Josep Mayoral (Granollers), unterschrieben ein Manifest, in dem sie forderten, sich der Aussetzung der Autonomie entgegenzustellen. Doch von der Parteiführung wurde das ignoriert. Auch die Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau (von der linken, Podemos-nahen Barcelona en Comú) kritisierte die PSOE stark und sprach von einem Staatsstreich gegen die Demokratie. Und tatsächlich ist es für jeden, der nicht rechts ist oder aufgrund der Ereignisse in eine Hysterie verfallen ist, sehr verwunderlich, dass eine Partei, die – mehr schlecht als recht – gegen den Faschismus der Diktatur gekämpft hat, den direkten Nachfolgern der Diktatur so den Rücken stärkt. Puigdemont selbst verurteilte die geplante Aussetzung der Autonomie heftig, es wäre „der größte Angriff auf die katalanischen Institutionen seit der Franco-Diktatur“. Und, um ehrlich zu sein – auch wenn ich mit seinem Vorgehen bisher nicht einverstanden war – damit hatte er Recht. Er sagte zwar wieder, dass man noch zum Dialog bereit sei, aber dass man sich diese Erniedrigung nicht gefallen lassen würde. Am 26./27. Oktober sollte eine Parlamentssitzung stattfinden, in der über die nächsten Schritte debattiert werden würde; denn bereits am 27. Oktober wollte der spanische Senat die Inkraftsetzung des Artikels 155 verabschieden.

Sieben Tage, die die Geschichte Kataloniens veränderten

Doch schon der 26. Oktober war nichts für schwache Nerven. Die Medien berichteten, dass Puigdemont möglicherweise Neuwahlen anberaumen möchte, obwohl er das in den letzten Tagen immer vehement bestritten hatte. Twitter kochte, Puigdemont wurde von vielen Unabhängigkeitsbefürwortern massiv als „Verräter“ und „Judas“ beschimpft. Eine Studenten-Demo (eigentlich gegen die Anwendung des Artikels 155) änderte ihre Route und begab sich zum Regierungspalast, um Puigdemont als „Verräter“ zu beschimpfen und lauthals die Unabhängigkeitserklärung zu fordern. Keiner wusste was passieren würde; und als Puigdemont für 13:30 Uhr eine Regierungserklärung ankündigte, dachten viele, dass es tatsächlich Neuwahlen geben könnte. Selbst die Börse machte einen großen positiven Sprung. Doch die Regierungserklärung wurde mehrfach verschoben, und es machten sich Zweifel breit. Am Ende erklärte Puigdemont, dass es „keine demokratischen Garantien“ gäbe, um Neuwahlen anzuberaumen. Was für Garantien? Was war passiert? Damals wusste man nichts, es war alles geheim. Aber mittlerweile – nachdem mehrere Akteure Bücher darüber veröffentlicht und Journalisten mit über 30 involvierten Personen gesprochen haben – ist mehr oder weniger klar, was in jenen Tagen hinter den Kulissen passierte.

Bereits am 25. Oktober gab es die ersten Vermittlungsversuche: Mehrere katalanische Unternehmer waren nach Vitoria-Gasteiz (Hauptstadt des Baskenlands) gereist, um mit dem baskischen Präsidenten Urkullu über Lösungen zu diskutieren. Auch der heute verhasste Ex-Unternehmensminister Kataloniens Santi Vila stand in ständigem Kontakt mit Urkullu, der versuchte einen Gesprächskanal zu Rajoy herzustellen. Darüber hinaus versuchten u.a. der ehemalige katalanische Präsident José Montilla (PSC) und Miquel Iceta (Parteivorsitzender PSC) im Hintergrund mit Vertretern der Zentralregierung zu verhandeln (u.a. mit Soraya Sáenz de Santamaría), um die Anwendung des Artikels 155 zu verhindern. Zu dem Zeitpunkt hatte Puigdemont vier Forderungen:

  1. Jordi Sànchez und Jordi Cuixart sollten freigelassen werden
  2. Die Staatsanwaltschaft sollte den Fuß vom Gaspedal nehmen
  3. Die Anwendung des Artikels 155 durfte nicht beschlossen werden
  4. Die spanische Polizei sollte aus Katalonien abgezogen werden.

Hätte er diese Garantien, würde er Neuwahlen ausrufen. Urkullu überredete Puigdemont jedoch, alle Bedingungen fallen zu lassen, bis auf eine: die Maßnahmen des Artikels 155 durften nicht umgesetzt werden.

Obwohl er noch keine Antwort von Rajoy hatte, setzte Puigdemont sich noch am 25. Oktober mit seiner Regierung zusammen, um den Ministern zu erklären, was er vor hatte. Er hatte dabei drei Hauptargumente: 1. Er wolle schlimmeres auf den Straßen verhindern («Ho puc assumir tot menys morts al carrer» – “Ich kann für alles die Verantwortung übernehmen, aber nicht für Tote auf den Straßen”), 2. Die Regierung hätte es nicht geschafft, die staatlichen Strukturen so auszubauen, dass man tatsächlich unabhängig werden konnte, und 3. Er wolle den Artikel 155 und die damit verbundene Aussetzung der Autonomie verhindern. Bei der Besprechung erinnerte er an einen Satz, den er bei seinem Amtsantritt gesagt hatte: «Portaré el país de la post-autonomia a la pre-independència» “Ich werde das Land von der Post-Autonomie (das spanische Autonomie-System gilt als überholt) zur Vor-Unabhängigkeit führen”. Und jetzt fügte er hinzu, dass er „Katalonien aber auf keinen Fall von der Vor-Unabhängigkeit zur Vor-Autonomie führen wolle“ («No vull portar el país de la pre-independència a la pre-autonomia»). Und das würde der Artikel 155 ja bedeuten. Die anwesenden Minister waren gespalten: manche wollten unbedingt die Unabhängigkeitserklärung, andere wollten lieber Neuwahlen. Aber alle versicherten Puigdemont, hinter ihm zu stehen. Am 26. Oktober musste Puigdemont sich noch mit den anderen Abgeordneten von JxSí (dem Wahlbündnis von PDeCAT und ERC) treffen, um sie von diesem Schritt zu überzeugen. Das Dekret für die Neuwahlen war bereits verfasst, und Miquel Iceta hatte den PSOE dazu gebracht, dem Senat einen Änderungsantrag zur Debatte vorzulegen, der besagte, dass der Artikel 155 nicht zur Anwendung kommt, wenn Puigdemont Neuwahlen ausruft. Als Puigdemont den Abgeordneten seine Entscheidung erklärte, traf er fast ausschließlich auf Unverständnis und Widerstand. Der Großteil war für die Unabhängigkeitserklärung, manche forderten Puigdemont und Oriol Junqueras (Vizepräsident, ERC) sogar auf, „zum Balkon zu gehen, und den Menschen zu sagen, dass sie wegen Unfähigkeit hinschmeißen“. Es war wohl eine sehr angespannte Versammlung, manche sollen geschrien, andere geweint haben. Wiederum andere schrieben Nachrichten an ihre Parteifreunde, die nicht bei der Versammlung waren. Und so sickerte die Nachricht über mögliche Neuwahlen zu den Medien durch.

Wenige Minuten nach Versammlungsbeginn, war das Gerücht über Neuwahlen überall in den Schlagzeilen. Kurz darauf wurde Twitter von einem Shitstorm überflutet. Puigdemont sei ein Verräter, er hätte die Katalanen in die Irre geführt; vor dem Regierungspalast versammelten sich tausende Studenten, die Puigdemont als Traïdor (Verräter) betitelten und die Unabhängigkeitserklärung forderten. Viele Abgeordneten von ERC verließen entrüstet die Versammlung. Es sickerte durch, dass ERC aus der Regierung austreten würde, falls Puigdemont seine Meinung nicht änderte. Um 13:30 Uhr wollte Puigdemont eine Regierungserklärung abgeben; die schwierigste seiner politischen Karriere. Er wollte den 2 Mio. Menschen, die am 1-O abgestimmt hatten, sagen, dass er die Unabhängigkeit nicht ausrufen könne und Neuwahlen anberaumt. Aber dazu sollte es nicht kommen.

Kurz bevor er öffentlich erscheinen sollte, gaben drei hohe PP-Funktionäre nahezu zeitgleich ein Interview: Xavier García Albiol (Parteivorsitzender der PP in Katalonien), José Manuel Barreiro (Parteisprecher der PP im Senat) und Javier Arenas (Vize-Generalsekretär der PP). Alle drei gaben bekannt, dass der Artikel 155 auf jeden Fall angewendet werden wird, ganz egal was Puigdemont macht. Daraufhin verschob Puigdemont die Regierungserklärung auf 14:30 Uhr. Er brauchte eine schriftliche Zusage der PP. Zwar gab es wohl ein mündliches Versprechen (laut Santi Vila auch einen Handschlag) vor Zeugen, aber das reichte jetzt nicht mehr. Ohne die schriftliche Zusage, dass es keinen Artikel 155 geben würde, konnte Puigdemont keine Neuwahlen ausrufen. Weder er noch seine Regierung würden der Zentralregierung erlauben, sie zusätzlich zu erniedrigen, indem sie sie – nachdem sie ihre gesamte Wählerschaft enttäuscht hätten – einfach absetzte und die Autonomie suspendierte. Und der Staat suchte eben das: die größtmögliche Erniedrigung der Separatisten, als Rache dafür, dass man nun „ihretwegen in der Welt schlecht“ dastünde.

Urkullu und Iceta begannen daraufhin, hin und her zu telefonieren, um von Madrid das schriftliche Versprechen zu bekommen. Doch keiner von beiden schaffte es: «No ho he pogut aconseguir», “Ich habe es nicht geschafft”, waren die letzten Worte von Iceta an Puigdemont. Nach dieser Nachricht bricht es aus ihm heraus: «Ens la fotran! Ens la fotran un altre cop!» (“Sie werden uns reinlegen! Sie werden uns wieder reinlegen!”). Zeitgleich hatte die PP zudem angekündigt, dass der Änderungsantrag der PSOE (Kein 155 bei Neuwahlen) nicht angenommen wird. Puigdemont bläst die Pressekonferenz ab. Allen war nun klar, das Parlament würde am nächsten Tag über die Unabhängigkeit abstimmen. Für mich und viele andere war das eine vertane Chance, aber trotzdem irgendwie verständlich: warum sollte man Neuwahlen ausrufen, wenn man am nächsten Tag von den Zentralregierung abgesetzt wird? Santi Vila trat zurück, weil er der Meinung war, dass seine Bemühungen nichts gebracht hätten. Grund dafür war seiner Meinung nach das fehlende gegenseitige Vertrauen zwischen Puigdemont und Rajoy. Gegen 17 Uhr erschien Puigdemont vor den Kameras: die Parlamentssitzung würde stattfinden, da es „keine demokratischen Garantien für Neuwahlen“ gäbe. Die Menschen die draußen standen, und die ihn bis vor wenigen Minuten beschimpft hatten, jubelten ihm zu. Noch heute versuchen einige, nur einem der Umstände die Schuld für Puigdemonts Sinneswandel zu geben: Für manche war es ERC, die ihn alleine gelassen hatte, für andere waren es der Shitstorm auf Twitter und die Demonstranten auf der Straße, und für wiederum andere war es die fehlende schriftliche Bestätigung der PP. Fakt ist allerdings wohl, dass alles, was in den zwei Tagen passiert war, seinen Beitrag dazu geleistet hat.

Am 27. Oktober war es dann soweit: In Barcelona diskutierte das Parlament über die Unabhängigkeitserklärung – Puigdemont sagte kein Wort – und in Madrid diskutierte der Senat über die Maßnahmen, die mit dem Artikel 155 in Kraft treten würden. Am Nachmittag stimmte das katalanische Parlament über die Erklärung ab: 70 stimmten dafür, 10 dagegen, 2 Stimmzettel waren leer, und die 53 Abgeordneten von Ciudadanos, PP und PSC verließen das Parlament, ohne an der Abstimmung teilzunehmen. Damit wurde beschlossen, dass das Parlament die Regierung damit beauftragt, die suspendierte Unabhängigkeitserklärung vom 10. Oktober effektiv zu machen und das „Gesetz der Übergangszeit“ anzuwenden. Viele, die die Abstimmung verfolgten, wunderten sich ein bisschen über die Stimmung im Parlament; es wusste ja niemand, wie nervenaufreibend die vorangegangenen Tage gewesen waren. Statt der Freude vom 10. Oktober sah man bei der Regierung vor allem ernste und eher traurig wirkende Gesichter. Nur die anderen Abgeordneten von JxSí, CUP und die über 600 Bürgermeister, die extra angereist waren, jubelten. Für viele Katalanen war das die offizielle Unabhängigkeitserklärung, die Geburt der katalanischen Republik; vor dem Parlament feierten Zehntausende.

Aber was wurde dort eigentlich wirklich beschlossen? Formell handelte es sich um einen Entschließungsantrag (Proposta de Resolució), und solch eine Entschließung ist nicht rechtlich bindend, sondern stellt nur eine Aufforderung an die Regierung dar. Zudem wurde nur ein Teil des Antrags zur Abstimmung frei gegeben; nämlich nur der verfügende Teil (parte dispositiva), in dem man die Regierung aufforderte, die Republik effektiv zu machen. Nicht abgestimmt wurde dagegen über die Präambel, die u.a. die tatsächliche Unabhängigkeitserklärung enthielt. Zurecht fragen sich nun Juristen, was da nun passiert ist. Die Unabhängigkeitserklärung wurden noch nicht mal in den offiziellen Gesetzblättern der Generalitat (Butlletí Oficial del Parlament/ Diari Oficial de la Generalitat) veröffentlicht. Tatsache ist, dass irgendwie alle Politiker sagen, dass die Unabhängigkeit erklärt worden ist (die einen, um ihr Gesicht zu wahren; die anderen, um das spätere harte Vorgehen der Justiz zu rechtfertigen), aber es bleiben doch ein paar Zweifel daran.

Zeitgleich zur Abstimmung in Barcelona, „diskutierte“ der spanische Senat. Viel diskutiert wurde aber nicht mehr: die einzigen Parteien, die gegen den Artikel 155 waren, waren die „neue“ Linke von Unidos Podemos, die valencianische Compromís und natürlich die nationalistischen/separatistischen Parteien (die katalanischen PDeCAT und ERC; und die baskischen EH Bildu und EAJ-PNV). Doch alle zusammen stellen nur 47 Senatoren (von 266). Nach seiner 45-minütigen Rede, in der er die Maßnahmen ankündigte, erntete Rajoy Standing Ovations von seinen Parteikollegen; über 1 Minute lang klatschten sie ihm zu, und Rajoy stand sogar noch zweimal auf, um sich zu verbeugen (hier). Es war surreal, befremdlich und ziemlich schmerzlich zu sehen, wie sehr sie sich darüber freuten, den Katalanen die Autonomie wegzunehmen. Das Ergebnis der Abstimmung war: 47 Stimmen dagegen und 214 dafür. PP, Ciudadanos, PSOE, Coalición Canaria (zwar kanarisch-nationalistisch, aber ewiger Bündnispartner der PP) und UPN (navarresische, konservativ-regionalistische Partei; Bündnispartner der PP) stimmten für die Maßnahmen, und besonders Ciudadanos und die PP prägten eine sehr aggressive Intervention. Die Abgeordnete María López von Nueva Canarias (kanarisch-nationalistische, mitte-links Partei) konstatierte mit Tränen in den Augen und zittriger Stimme das Versagen der Politik. Am Ende enthielt sie sich. Allerdings gab es beim PSOE zwei symbolisch wichtige Politiker, die nicht zur Abstimmung erschienen waren, um nicht die Parteidisziplin zu brechen (sie waren gegen den Artikel 155): José Montilla (PSC; ehemaliger Präsident Kataloniens) und Francesc Antich (PSIB-PSOE; ehemaliger Präsident der Balearen). 

Nur wenige Stunden nach der Unabhängigkeitserklärung wurden die Maßnahmen des Artikels 155 im Staatsgesetzblatt (Boletín Oficial del Estado) veröffentlicht und traten sofort in Kraft. Damit wurde die gesamte katalanische Regierung abgesetzt; das katalanische Parlament aufgelöst; der Major der Mossos d’Esquadra Josep Lluís Trapero seines Amtes enthoben; und nahezu alle katalanischen Vertretungen im Ausland (in Spanien oft „katalanische Botschaften“ genannt) und das DIPLOCAT mit sofortiger Wirkung aufgelöst (Consell de Diplomàcia Pública de Catalunya; diplomatischer Rat Kataloniens, dem u.a. die Generalitat, die Stadtregierungen von Barcelona, Girona, Lleida, Tarragona und Vielha e Mijaran, der F.C. Barcelona, und verschiedene Unternehmerverbände, Universitäten und Gewerkschaften angehören; Ziel ist, Katalonien im Ausland bekannter zu machen). Besonders erniedrigend empfanden viele die zynischen Worte von Soraya Sáenz de Santamaría, die zur Auflösung des DIPLOCAT sagte: «Wisst ihr, wie das DIPLOCAT jetzt heißt? Es heißt jetzt nicht mehr DIPLOCAT, sondern „DIPLOCAT im Ausverkauf”» („DIPLOCAT en liquidasió“ – dabei sagte sie liquidación absichtlich auf Katalanisch und lachte hämisch). Auch, dass sie sich später damit rühmte, dass die PP die separatistischen Parteien „enthauptet“ habe, kam nicht gut an. Insgesamt entließ die Zentralregierung über 200 Personen, darunter die Berater/-innen, Sekretäre, etc. der Regierung; und 33 Angestellte der ausländischen Vertretungen. Nur die katalanische Vertretung in Brüssel durfte bleiben, weil fast alle Autonomen Gemeinschaften Spaniens eine eigene Vertretung in Brüssel haben.

Alle Autonomen Gemeinschaften haben politische bzw. wirtschaftliche Vertretungen im Ausland, Katalonien hatte 12: Brüssel, Washington, Berlin, Wien, London, Rom, Kopenhagen, Paris, Warschau, Lissabon, Zagreb und Genf. Alle bis auf die in Brüssel wurden einfach geschlossen und die Angestellten entlassen. In den spanischen Medien nennt man die Vertretungen wie gesagt „katalanische Botschaften“; nicht, weil sie tatsächlich als Botschaften fungieren würden, sondern mal wieder um gegen Katalonien und die Generalitat zu hetzen. Die Generalitat würde dutzende Botschaften eröffnen, die Millionen verschlingen würden, nur um Verwandten und Freunden einen gut bezahlten Arbeitsplatz zu verschaffen. Mal ganz davon abgesehen, dass immer nur Katalonien erwähnt wurde, obwohl es insgesamt über 150 Vertretungen von Autonomen Gemeinschaften im Ausland gab, warf man auch mit Zahlen um sich, die einfach nicht stimmten. Von Kosten von bis zu 30 Mio. € war teilweise die Rede, obwohl sie jährlich „nur“ ca. 3 Mio. € kosten. Verwechselt – oder besser gesagt, absichtlich in einen Topf geworfen – werden die Vertretungen oft mit den Dienststellen von ACCIÓ, von denen es tatsächlich ca. 40 weltweit gibt (u.a. mehrere in der EU, Johannesburg, Accra, Dubai, Teheran, Tel-Aviv, Casablanca, Bombay, Hongkong, Tokio, Sidney, Buenos Aires, Bogotá, São Paulo, Mexico, Boston, New York, Washington, etc.). ACCIÓ ist eine Regierungsbehörde, die dem katalanischen Ministerium für Unternehmen und Wissenschaft (Departament d’Empresa i Coneixement) untersteht, und deren Aufgabe es ist, die katalanische Unternehmensstruktur im Inland besser mit dem Ausland zu vernetzen, katalanische Unternehmen bei der Internationalisierung und Innovation zu unterstützen, und ausländische Investoren nach Katalonien zu locken. Besonders in den letzten Jahren wurde viel Wert darauf gelegt, da durch die Krise die Kaufkraft im eigenen Land gesunken war, und viele kleine und mittlere Unternehmen nun gezwungen waren, auch im Ausland zu verkaufen. ACCIÓ betreut über 5.000 Firmen in Katalonien, über 24.000 im Ausland und hat z.B. 2016 über 100 Mio. € an ausländischen Investitionen nach Katalonien gebracht. Diese Strukturen bleiben jedoch vom Artikel 155 unberührt und funktionieren wie bisher (ansonsten hätten sich die katalanischen Arbeitgeberverbände auf Rajoy gestürzt). Die Vertretungen der Generalitat waren dagegen eher auf die Promotion Kataloniens, der katalanischen Kultur und Sprache fokussiert. Als Regierungsvertretungen dienten sie aber auch als Ansprechpartner für Medien, Politiker, etc., besonders, um die Haltung der katalanischen Regierung im Ausland zu vertreten und so zu verhindern, dass nur die spanische Regierung ihre Sichtweise der Dinge verbreitet (so wurde u.a. Marie Kapretz, damalige Vertreterin der Generalitat in Berlin, im Rahmen der Katalonien-Krise mehrfach von Phoenix, ARD, Welt, Spiegel etc. interviewt). Zwar hatte die PP schon mal Verfassungsbeschwerde eingereicht, aber das Verfassungsgericht sah in der Arbeit der Vertretungen keine Probleme. Groß war die Überraschung der Gesandten Madrids, als sie von den Mitarbeitern des Ministeriums für Auslandsangelegenheiten (Departament d’Afers Exteriors) die Liste der Mitarbeiter der Vertretungen bekamen, und da nur 30 – 40 Namen drauf standen. Sie sollen gerufen haben „Alle Namen, wir wollen alle Namen!“. Doch das waren alle. Man hatte anscheinend den Lügen der Medien geglaubt, und gedacht, dass es pro Vertretung dutzende Mitarbeiter gibt. Nein, das sind keine spanischen Botschaften mit mehr als 40 Mitarbeitern. Auch als die Gesandten eine Liste mit Dienstwagen und -wohnungen haben wollten, konnte man ihnen nicht wirklich dienen: Die Mitarbeiter der Vertretungen bezahlten ihre Wohnungen selbst und hatten keine Dienstfahrzeuge. Man hatte anscheinend überhaupt keine Ahnung, was die katalanischen Vertretungen tatsächlich waren. Und trotzdem schloss man sie und entließ die Mitarbeiter. Das ganze Vorhaben wird ca. 2 Mio. € kosten, da Mietverträge, Rechnungen etc. weiter bezahlt werden müssen, bis sie auslaufen oder fristgerecht gekündigt werden. Außerdem werden Abfindungen und vielleicht sogar Prozesskosten fällig, da die Mitarbeiter örtliche Arbeitsverträge haben, die je nach Land nicht einfach so gekündigt werden können. Deshalb ist die Schließung einfach nur unnötig und verantwortungslos, denn die nächste katalanische Regierung kann, und wird sie aller Wahrscheinlichkeit nach, wiedereröffnen.

Außerdem wurden Neuwahlen am 21. Dezember 2017 angekündigt. Das war für viele eine beruhigende Nachricht, denn so konnte man die Auswirkungen der Intervention in Grenzen halten (vorausgesetzt, Rajoy akzeptiert die Wahlergebnisse). Erstaunlicherweise hatte die PP einen Änderungsantrag der PSOE zugelassen, der verhindern sollte, dass auch die öffentlichen Medien Kataloniens interveniert werden. Allerdings hätten sie sich das wohl eh nicht mehr getraut, denn TV3, Catalunya Ràdio und die katalanische Presseagentur (Agència Catalana de Notícies) hatten ein paar Tage vorher in einer gemeinsame Pressekonferenz vor dutzenden ausländischen Journalisten bekannt gegeben, dass sie eine staatliche Intervention nicht akzeptieren würden. Und das war das große Risiko für Rajoy mit dem Artikel 155: Er konnte sich nicht sicher sein, dass die katalanischen Beamten seinen Anweisungen folgen würden. Allerdings hatte Rajoy ein Ass im Ärmel: die Steuererleichterungen, die TV3 genießt. Diese hat er nun abgeschafft und treibt den Sender an den Rand der Pleite. Über 30 Mio. € fordert das Finanzministerium jetzt rückwirkend „zurück“. TV3 hat dagegen schon Klage eingereicht, aber bis zu einer Entscheidung kann es noch dauern. Um die Tragweite und Tragik einer Intervention von TV3 durch die PP zu verstehen, muss man aber erstmal verstehen, was TV3 ist:


TV3, la televisió dels catalans – TV3, das Fernsehen der Katalanen

TV3 ist der wichtigste öffentlich-rechtliche TV-Sender Kataloniens (gehört als Teil von Televisió de Catalunya, zu dem auch andere Sender wie 3/24 oder Esport3 gehören, zur öffentlich-rechtlichen Rundfunkgesellschaft Kataloniens, der CCMA). Außerdem sendet TV3 fast ausschließlich auf Katalanisch (von spanischsprachigen Talkshow-Gästen und Werbung mal abgesehen). Da er nicht der spanischen Zentralregierung untersteht (wie z.B. TVE), sondern dem katalanischen Parlament (und damit dem katalanischen Volk), ist er vielen Politikern in Madrid ein Dorn im Auge (das Parlament wählt mit einer 2/3 Mehrheit einen Rundfunkrat). Sie werfen dem Sender Parteilichkeit, Spanien-Hass, Separatismus und Fake News vor. Man „indoktriniere katalanische Kinder“, damit sie Spanien hassen. Mit dem Artikel 155 wollte man sicher stellen, dass TV3 nur noch „wahrhaftige, objektive und ausgeglichene“ Informationen vermittelt. Da bekommt man es mit der Angst zu tun.

Was man in Madrid weder verstehen noch akzeptieren will, ist, dass TV3 die Welt einfach aus der katalanischen Perspektive betrachtet und erzählt. Kein Moderator oder Nachrichtensprecher ruft dort zur Unabhängigkeit auf, schürt Hass gegen Spanien oder ähnliches. Allerdings gibt es gewisse Konsense, die auch in der katalanischen Bevölkerung mehrheitlich sind und die in Madrid bitter aufstoßen: Katalonien ist eine Nation, Katalonien hat eine eigene Sprache, Kultur und Geschichte. Und politische Entscheidungen, die vielleicht für Madrid positiv sind, sind es manchmal eben nicht für Katalonien. Im Team gibt es Unionisten und Separatisten, und das war noch nie ein Problem. Und natürlich viele, von denen man nicht weiß, wie sie bei einem Referendum abstimmen würden.

Die Nachrichtensendungen von TV3 haben stets die höchsten Einschaltquoten in Katalonien, und manche Programme (Els Matins und vor allem FAQS-Preguntes Freqüents und die Satire-und Zapping-Programme Polònia, Està Passant!, APM?, Zona Zàping) übertreffen regelmäßig selbst die großen spanischen Privatsender. Bei den Nachrichten ist das besonders markant: 36% sehen sie auf TV3, 20% sehen keine Nachrichten und nur 9% sehen sie auf TVE (8% La Sexta, 8% Telecinco, etc.). Beliebt sind vor allem die Politsatire-Programme bzw. Parodie-Sendungen Polònia, Crackòvia, Està Passant und APM?. Warum? Jeder bekommt da sein Fett weg: Der König, der Wettermann von TV3, Rajoy, Soraya Sáenz de Santamaría, Inés Arrimadas und Albert Rivera (Ciudadanos), aber auch Puigdemont, Artur Mas, Miquel Iceta (PSC) oder Oriol Junqueras (ERC). Auch Hitler oder Franco lassen sich ab und zu bei Polònia blicken. Sowas sucht man bei TVE vergeblich. Auch die Namen „Polònia“ und „Crackòvia“ belegen die Fähigkeit der Katalanen, über sich selbst lachen zu können: im Rest Spaniens beschimpft man Katalanen gerne als „polacos“ (Polen) – wohl wegen der „unverständlichen Sprache“ – weshalb die Namen „Polen“ und „Krakau“ eine Art waren, dieser Beleidigung den Wind aus den Segeln zu nehmen (Polònia hat meist die höchsten Einschaltquoten – zwischen 20 und 30% – Crackòvia wurde mittlerweile abgesetzt, erreichte manchmal aber sogar Einschaltquoten von knapp 40%).

Bei einer durchschnittlichen Einschaltquote von 15 – 20% — von den Spitzenprogrammen abgesehen — von Indoktrination zu sprechen, ist jedoch hanebüchen. Außerdem bezieht sich diese Zahl ja nur auf diejenigen, die auch tatsächlich fernsehen, nicht auf die gesamte Bevölkerung. Die Menschen wählen Fernsehsender nach ihrem persönlichen Geschmack aus, nach nichts anderem. Von 1997 – 2003 und von 2010 bis heute war/ist TV3 Marktführer in Katalonien. Warum? Eben weil sie vielfältig, kritisch und sehr gut gemacht ist (in Qualität/Vertrauenswürdigkeit erhalten sie von den Zuschauern 8,5 von 10 Punkten). In den politischen Diskussionsrunden wird tatsächlich diskutiert und debattiert, und nicht – wie in den privaten Sendern üblich – rumgeschrien und sich gegenseitig beleidigt. Es gibt gesellschaftskritische Reportagen und Dokus über Korruption, die Wichtigkeit der Seenotrettung, den Kampf der LGBTIQ-Community und der Feministinnen, Kapitalismus-Kritik, Umwelt- und Klimaschutz, Zwangsräumungen und prekäre Jobs, Rassismus, die Transición, etc., die man so im spanischen TV vergeblich sucht. Natürlich gibt es dort auch Reportagen zu den Themen, aber in den seltensten Fällen ist dort das Ziel, die Zuschauer für ein Thema zu sensibilisieren und die Gesellschaft positiv zu verändern, sondern entweder das Spektakel/die Polemik (= mehr Zuschauer) oder das versteckte Aufdrängen von rechts-konservativen und neoliberalen Denkmustern (alle Privatsender sind halt entweder in Hand von Silvio Berlusconi [Mediaset, inklusive Telecinco und Cuatro] oder der Familie Lara [u.a. Antena3 und La Sexta], die dank Franco schon während der Diktatur zu einer der reichsten Familien Spaniens wurde; und TVE im Moment in der Hand der PP: der Intendant erklärte z.B. im spanischen Parlament, dass er PP-Wähler ist und immer sein wird). 

Letztens ist eine Studie erschienen, die u.a. untersuchte, wie die politischen Talkshows bei TVE (Televisión Española), spanienweiten Privatsendern und TV3 zum Thema Katalonien bisher so zusammengesetzt waren. Heraus kam, dass bei TV3 die Talkshow-Gäste meist zu annähernd gleichen Teilen Unabhängigkeitsbefürworter und Unionisten waren, bei TVE waren nur 2% für ein Referendum. Am Beispiel der Morgensendungen (meist von 8:00 – 13:00 Uhr) sieht man es klar: Bei Els Matins von TV3 waren 23% der Meinung, das Referendum wäre illegal, 28% waren der Meinung, es wäre legal; der Rest hatte sich entweder nicht dazu geäußert oder sich nicht positioniert. Bei Los Desayunos/La Mañana von TVE sagten 77% der Gäste, das Referendum sei illegal, 1,7%, dass es legitim sei und 21,6 % äußerten sich nicht dazu. Im Programm von Ana Rosa (Telecinco) waren 56% gegen das Referendum, 44% äußerten sich nicht; niemand war für die Unabhängigkeit. Im Programm Espejo Público (Antena 3) war es ähnlich; für 55% war das Referendum illegal, für 1,5% war es legal und 43,5% äußersten sich nicht. Dabei ist wichtig zu wissen, dass Espejo Público, Ana Rosa und Los Desayunos zusammen die höchste Einschaltquote in Spanien haben (laufen gleichzeitig, insgesamt ca. 41%; im September/Oktober 2017 allerdings bis zu über 52%), und dementsprechend die spanische Öffentlichkeit stark beeinflussen. TV3 kann im Rest Spaniens nicht empfangen werden. Nur ca. 8% der spanischen TV-Zuschauer sehen Al Rojo Vivo (La Sexta), wo zumindest ein bisschen ausgeglichener über das Thema diskutiert wird (60% illegal; 5% legitim aber nicht legal; 10% legal); und nur ca. 9% sehen Las Mañanas en Cuatro, wo auch objektiver berichtet wird (wie jetzt bekannt wurde, wird diese letzte Sendung im Juni 2018 abgesetzt, womit die objektive Berichterstattung massiv eingeschränkt wird).

Im Jahr 2015 wurde RTVE (die staatliche Medienanstalt zu der TVE gehört) sogar von der Europäischen Rundfunkunion wegen mangelnder Neutralität ausgeschlossen. Fast 2.200 Mitarbeiter von RTVE beschwerten sich öffentlich über die Parteiinteressen und Einmischung, nachdem die PP nach den Wahlen 2011 95% des Führungspersonals durch regierungsafine Mitarbeiter ersetzt hatte. Dies war möglich, weil die PP die absolute Mehrheit gewonnen hatte und das Gesetz zur Neubesetzung änderte: statt einer 2/3 Mehrheit im Kongress reichte jetzt eine einfache Mehrheit. Nicht nur internationale Journalisten-Verbände und das EU-Parlament (Mai 2018) kritisieren die Manipulation bei RTVE, selbst der eigene Nachrichtenrat (Consejo de Informativos de TVE) veröffentlicht jedes Quartal einen Bericht, in dem durchschnittlich 50-70 Fälle von Manipulation, Zensur oder unzulässige Praktiken während der Nachrichtensendungen angezeigt werden. So hinterlegte man z.B. eine Rede von Puigdemont mit der Musik von „Der Exorzist“, berichtete kaum über die Korruptionsfälle der PP (so eröffnete man z.B. einmal die Nachrichten mit einem ausführlichen Beitrag zu einem umgekippten Baum in den Niederlanden, während der nächste aufgedeckte Korruptionsskandal der PP nur kurz am Ende in den Kurznachrichten auftauchte); lud zu Gesprächsrunden über Katalonien immer nur Unionisten ein (z.B. einmal gleich 3 Repräsentanten der SCC), aber niemanden aus dem Umfeld der Unabhängigkeitsbewegung; ignorierte die Tatsache, dass Rajoy vor Gericht wegen der Korruptionsfälle aussagen musste;  manipulierte oder verheimlichte die Zahl der Arbeitslosen oder die Tatsache, dass die Sozialkasse fast leer ist; berichtete kaum von den 60 Milliarden €, die man den Banken geliehen hatte und die jetzt nicht zurückgezahlt werden oder von der hohen Staatsverschuldung (über 100% des BIP), und wenn, dann kopierte man den Diskurs der PP, um diese Nachrichten zu erklären, etc.

TV3 mag zwar nicht perfekt sein, aber noch hat sich keine Institution, kein Journalisten-Verband o.ä. über fehlende Pluralität beschwert. Mehr noch, internationale Expertenteams haben sowohl im Januar als auch im Mai 2018 konstatiert, dass TV3 der vielfältigste und objektivste Sender Spaniens ist. Kritik kommt eigentlich nur von der PP, Ciudadanos, Vox und der SCC, obwohl auch sie regelmäßig an den Debatten von TV3 teilnehmen und dort ihr Gift versprühen können (z.B. PP- und Vox-Politiker, die in einem Interview bei TV3 sagten, dass TV3 manipuliert und deswegen geschlossen werden muss). Und wenn nicht, dann nicht, weil sie nicht eingeladen wurden, sondern, weil sie nicht kommen wollten („man wolle TV3 nicht helfen, Pluralität vorzutäuschen“). Es ist also verständlich, dass einige Alarmglocken läuten, wenn die PP meint, man müsse TV3 der TVE angleichen. Und wenn Albiol (Parteichef der PP in Katalonien) fordert, dass man TV3 schließen müsste, um sie danach „mit normalen Personen“ neu zu eröffnen, dann läuten sie um so doller.


Die Tage nach der Unabhängigkeitserklärung und des Artikels 155 waren sehr komisch. Noch am Abend des 27. Oktobers liefen Gruppen von spanischen Ultras durch Barcelona und griffen Menschen an. Eine andere Gruppe von extremistischen Unionisten attackierte das Studio von Catalunya Ràdio, schlug die Fenster und Türen ein und bedrohte die Mitarbeiter. Auch ein Fernsehteam von BTV (Barcelona TV), das die Ausschreitung filmte, wurde von den „Demonstranten“ angegriffen. Wenig später stürmten ein paar Ultras eine Abendschule und griffen zwei Lehrer an, die gerade unterrichteten. 

Hier noch ein Video, das mehrere Übergriffe von spanischen Nationalisten seit dem 1-O zeigt:

Doch der 28. Oktober war angespannt ruhig. Am Regierungspalast der Generalitat (Palau de la Generalitat) hing immer noch die spanische Flagge (laut Puigdemont ein Zugeständnis an die Unionisten), und einige katalanische Minister taten so, als würden sie ihrer Arbeit nachgehen, obwohl sie ja offiziell abgesetzt worden waren (tatsächlich holten sie nur ihre persönlichen Gegenstände ab). Es machte aber nicht den Anschein, als würde die katalanische Regierung versuchen, die Institutionen zu beschützen. Die Beamten schienen alle dem Artikel 155 Folge zu leisten, auch die Mossos. Katalonien hatte einen neuen Präsidenten: Mariano Rajoy, der diese Kompetenz dann an Soraya Sáenz de Santamaría abtrat. Alle katalanischen Ministerien wurden nun von den entsprechenden spanischen Ministern geführt. Katalonien wurde also von einer Partei regiert, die bei den letzten katalanischen Parlamentswahlen nur 8% der Stimmen bekommen hatte. Unidos Podemos legte Verfassungsbeschwerde beim Verfassungsgericht ein, weil nirgendwo im Artikel 155 steht, dass die Regierung eine autonome Regierung absetzen und ein Parlament auflösen darf. Auch steht dort nichts von Neuwahlen, und laut Gesetz, darf nur der gewählte Präsident der Generalitat Neuwahlen ausrufen. Das Verfassungsgericht nahm die Beschwerde an, und wird sich wohl irgendwann dazu äußern (Nachtrag Juli 2019: Wie erwartet, gab das Verfassungsgericht leider der Regierung von Rajoy recht. Damit untermauerte es erneut den demokratischen Rückschritt in Spanien und verwandelte den Artikel 155 in eine Art schwarzes Loch, mit dem die Zentralregierung einfach demokratisch gewählte Parlamente und Regierungen auflösen kann, wenn ihr etwas nicht gefällt. Außerdem schränkte es so erneute die verfassungsrechtlichen Autonomierechte weiter ein. Nicht umsonst werben PP, Ciudadanos und Vox damit, in Katalonien einen „unbefristeten Artikel 155“ anzuwenden [was das Verfassungsgericht jetzt allerdings für verfassungswidrig erklärt hat]; oder drohen den Regierungen in Navarra [von einer linken, baskisch-nationalistischen Koalition von Geroa Bai/ Podemos/ EH Bildu/ Izquierda-Ezkerra regiert], Kastilien-La Mancha [Koalition von PSOE/ Podemos] und im Baskenland [Koalition PNV-EAJ/ PSOE] damit).

Am 29. Oktober hatte die SCC erneut zu einer großen Demo für die Einheit Spaniens und gegen die Unabhängigkeitserklärung aufgerufen. Wieder kamen tausende Menschen aus Spanien in Bussen, Zügen und Autos. Insgesamt nahmen 300.000 Menschen an der Demo teil (Zahlen der Polizei), obwohl die SCC mal wieder behauptete, dass über 1 Mio. Menschen teilgenommen hatten. Aber diese Zahl kann man ganz einfach widerlegen: Links im Bild die Länge der Demo für die Unabhängigkeit (Diada 11.09.2017), bei der die Polizei von 1 Mio. Teilnehmern sprach und die SCC von 225.000. Rechts im Bild die Länge der Demo der SCC, die nach eigenen Angaben viermal so viele Teilnehmer hatte (1,1 Mio.) wie die Diada 2017. Die Demo von SCC war 1 km lang, die der Separatisten 3,3 km.

Auch wenn die Demo größtenteils friedlich verlief, waren die Diskurse sehr aggressiv; so forderte Josep Borrell (ehemaliger Minister des PSOE und jetzt Mitglied der SCC), dass die Justiz jetzt die Separatisten zur Verantwortung ziehen sollte, man müsse „Katalonien desinfizieren“. Die Massen skandierten „Puigdemont a prisión“ (Puigdemont in den Knast) und sangen Manolo Escobars „Viva España“. Viele PP-Politiker aus Madrid waren gekommen, um den „guten Katalanen“ zur Seite zu stehen. Und dieses Mal nahm auch der PSC offiziell teil; das Selfie con Miquel Iceta (Parteichef des PSC) mit dem fremdenfeindlichen Xavier García Albiol (Parteichef der PP in Katalonien und vom Europarat als Beispiel für rassistische und xenophobe Politiker in Europa aufgeführt), Enric Millo (Regierungsvertreter Spaniens in Katalonien, PP) und Dolors Montserrat (spanische Gesundheitsministerin, PP), war für viele, die noch dachten, dass der PSC sich wenigstens jetzt auf keine der beiden Seiten schlagen würde, ein erneuter Schlag ins Gesicht.

Leider kam es auch bei dieser Demo wieder zu Gewalt von Seiten von irgendwelchen spanischen Ultras. Eine Gruppe versammelte sich vor dem Palau de la Generalitat, machte Hitlergrüße, wünschte sich lauthals Franco zurück und jagte Menschen über den Platz, die sogar von den Mossos vor ihnen beschützt werden mussten. In einer anderen Straße griff eine Gruppe einen Sikh an und beschimpfte ihn als „Mauren“ («Morito»). Andere „schlenderten“ durch die Innenstadt, riefen „Wo sind die Schweine von der CUP?“ und sangen die Hymne der Falange. Außerdem wurden noch zwei weitere Menschen verletzt: Ein Taxifahrer, dem sie die Scheibe eingeschlagen hatten und der davon Schnittverletzungen davontrug, und eine Bahnmitarbeiterin, die von einer Gruppe Ultras angegriffen wurde.

Am 30. Oktober kam die Nachricht, dass sich Carles Puigdemont und 7 (Ex)Minister (Joaquim Forn, Toni Comín, Clara Ponsatí, Lluís Puig, Dolors Bassa, Meritxell Borràs und Meritxell Serret) in der vorherigen Nacht auf den Weg nach Brüssel gemacht hatten. Kurz nachdem diese Nachricht bekannt wurde, gab der Generalstaatsanwalt Maza bekannt, dass er Puigdemont, die gesamte abgesetzte katalanische Regierung und die Mitglieder des Parlamentspräsidiums (Mesa del Parlament) wegen Rebellion, Aufruhr (Sedición), Veruntreuung öffentlicher Gelder (Malversación) und anderen Delikten anklagen wird. Auf Rebellion stehen bis zu 30 Jahre Haft; es ist die höchste Strafe, die das Strafrecht in Spanien vorsieht; nicht einmal für Mord muss man so lange in den Knast. Für Rebellion muss es allerdings eine Sache gegeben haben, und zwar Gewalt. Keine vereinzelte Ausschreitungen, keine Nötigung (etwa durch Massendemonstrationen oder zivilen Ungehorsam), sondern solch eine Gewalt, die den Staat gefährden kann. Und die hat es in keinem Moment gegeben. Am 31. Oktober gingen dann die Vorladungen an die Beschuldigten raus. Das Problem war, dass einige sie erst am Abend oder am nächsten Tag bekamen, die Medien schon Bescheid wussten, bevor die Beschuldigten überhaupt benachrichtigt wurden und dass die Beschuldigten kaum Zeit hatten, ihre Verteidigung zu organisieren und vorzubereiten: Am 31. Oktober kam die Vorladung, der 1. November war ein Feiertag und am 2. November sollten sie schon in Madrid aussagen. Niemand wusste, ob Puigdemont und die anderen Minister zum Termin erscheinen würden. Nur Joaquim Forn (Ex-Innenminister) und Dolors Bassa (Arbeitsministerin) reisten am Abend des 31. Oktobers zurück nach Barcelona. Empfangen wurden sie von einer Gruppe Ultras, die sie mit Spanien-Flaggen bedrängten und beschimpften („ins Gefängnis“, „auf geht’s nach Soto del Real“ [ein Gefängnis in Madrid], „Hurensohn“, etc.).

Am 2. November sagten dann die verbliebenen Ex-Minister vor der Audiencia Nacional aus. Der Generalstaatsanwalt forderte unbefristete U-Haft für alle Beschuldigten, und die Richterin Carmen Lamela tat ihm den Gefallen: Oriol Junqueras (Vizepräsident), Joaquim Forn, Dolors Bassa, Meritxell Borràs (Regierungsministerin), Carles Mundó (Justizminister), Jordi Turull (Regierungssprecher), Josep Rull (Minister für Territorium und Nachhaltigkeit) und Raül Romeva (Außenminister) wurden in der Nacht ins Gefängnis gefahren (die Männer nach Estremera, die Frauen nach Alcalá-Meco; im Umland von Madrid). Nur Santi Vila, der ehemalige Unternehmensminister, der einen Tag vor der Unabhängigkeitserklärung sein Amt niedergelegt hatte, durfte am nächsten Tag das Gefängnis unter Auflagen verlassen (+50.000 € Kaution). Der Anwalt Andreu Van den Eynde (Anwalt der Mitglieder von ERC) beschwerte sich am nächsten Tag darüber, dass es beim Transport anscheinend zu „Unregelmäßigkeiten“ gekommen war, denn einige seiner Mandanten hätten wohl Kratzer gehabt (die Verhafteten waren in Handschellen und unangeschnallt zum Gefängnis gefahren worden, und durch absichtliche Fahrmanöver immer wieder im Polizei-Transporter hingefallen).

Außerdem veröffentlichte La Vanguardia noch am selben Abend ein Video von drei Polizisten der Policía Nacional, die auf die Ankunft von Oriol Junqueras warteten, und sich währenddessen auf übelste Art und Weise über ihn lustig machten („den dicken Bären werden sie bestimmt fertig machen“, Anspielungen auf Vergewaltigungen, die ihm sein hängendes Auge reparieren würden, etc.). Zwar wurden Disziplinarverfahren gegen die drei eingeleitet, was daraus wurde, weiß man aber nicht. Die Mitglieder des Parlamentspräsidiums – deren Fall vor dem Obersten Gerichtshof (Tribunal Supremo) verhandelt wird, weil sie ihre Immunität beibehalten haben – durften stattdessen wieder nach Hause fahren, da der dortige Richter, Pablo Llarena, ihnen eine Woche Zeit gab, um ihre Verteidigung vorzubereiten (er war der Meinung, dass die Tatsache, dass die Vorladung nur 24 Stunden vor der Anhörung zugestellt wurde, die Rechte der Beschuldigten eingeschränkt hatte). Die Angehörigen des Präsidiums sind Carme Forcadell (Parlamentspräsidentin; ERC), Anna Simó (ERC), Lluís Corominas (PDeCAT), Lluís Guinó (PDeCAT), Ramona Barrufet (PDeCAT) und Joan Josep Nuet (CSQEP). Auch ihnen wird u.a. Rebellion und Aufruhr vorgeworfen. Die Nachricht über die Inhaftierung der Minister in Madrid blieb natürlich in Katalonien nicht unbeantwortet: Überall ertönten die Cassolades, lauter als jemals zuvor (z.B. hier, hier oder hier).

Die Vorwürfe wegen Rebellion und Aufruhr sind haltlos und absurd, nicht nur für separatistische Katalanen, sondern auch für über 120 Strafrechtler, Verfassungsrechtler und Jura-Professoren aus ganz Spanien, die ein Manifest veröffentlichten, in dem sie die Fehler der Anklage und die Entscheidung der Richterin heftig kritisierten. Die Anklageschrift sei mit über 100 Seiten eher ein Roman, der mit einer regelkonformen Anklageschrift nichts zu tun habe. Es werde eine Geschichte erzählt, die 2015 begann, ohne jedoch einen einzigen konkreten Fall zu benennen, der strafbar wäre. Die Staatsanwaltschaft versuche die gesamte Unabhängigkeitsbewegung zu kriminalisieren, indem sie jedes Ereignis der letzten Jahre als Teil eines geheimen Plans deutet, der von einem „Strategiekomitee“ ausgetüftelt worden sein soll; ohne dafür allerdings Beweise vorlegen zu können. Um die für Rebellion und Aufruhr nötige „gewaltsame und öffentliche“ Erhebung zu beweisen, nennt die Staatsanwaltschaft den 1-O. Sie wirft der Regierung und den zivilen Organisationen einen gewaltsamen Aufstand vor, um sich einem Gerichtsbeschluss entgegenzustellen. Die Juristen sind der Meinung, dass man damit den selbstorganisierten gewaltfreien Widerstand kriminalisiere, der nichts mit den Politikern zu tun hatte. Selbst wenn Puigdemont einen Tag vorher oder am selben 1. Oktober das Referendum abgesagt hätte, hätte es stattgefunden; das hatten die zehntausenden Freiwilligen bereits verkündet, als einige Politiker angesichts der Polizeigewalt erwägten, das Referendum abzubrechen. Eine Anklage wegen Rebellion oder Aufruhr dürfe nicht zugelassen werden, da durch die Aufweichung des Gewaltbegriffs in Zukunft jeglicher Protest unverhältnismäßig hart bestraft werden könnte. Widerstand gegen die Staatsgewalt, ob passiv oder aktiv, findet seit jeher statt: der aktive wird strafrechtlich verfolgt, der passive nicht (manchmal höchstens als Nötigung). Ansonsten könnten z.B. Aktivisten, die Zufahrtsstraßen blockieren, um einen Atommülltransport zu behindern oder die durch Sitzblockaden verhindern, dass ein gerichtlich angeordneter Zwangsräumungsbescheid durchgesetzt wird, für bis zu 30 Jahre ins Gefängnis gehen. Und damit wäre das Land auf direktem Weg zu einem autoritären Staat.

Außerdem kritisieren die Experten die unbefristete U-Haft: U-Haft soll – zumindest in Spanien – nur im äußersten Notfall und immer als letzte Lösung angeordnet werden. Die Gründe, die die Richterin Lamela angegeben hat (Fluchtgefahr, Zerstörung von Beweisen und Wiederholung der Tat), würden nicht der Realität entsprechen. Fluchtgefahr wäre nicht gegeben, da alle Beschuldigten freiwillig zur Anhörung erschienen waren; einige sogar extra aus Belgien zurückkehrten, um in Madrid auszusagen. Die Tatsache, dass Puigdemont und vier Minister nicht erschienen seien, dürfe man nicht gegen die anderen Beschuldigten verwenden, da jeder Fall individuell verhandelt wird. Außerdem hätte man andere Maßnahmen ergreifen können, wie z.B. Pass-Abgabe, elektronische Fußfesseln, Hausarrest, etc. Auch die mutmaßliche Zerstörung von Beweisen oder die Wiederholung der vorgeworfenen Tat wären mehr als fragwürdig, weil keiner der Beschuldigten mehr in seinem Amt sei und keiner von ihnen mehr Zutritt zu den Büros, dem Parlament, dem Regierungspalast, etc., hätte.

Selbst Diego López Garrido, der den heutigen Straftatbestand der Rebellion verfasst hat (1995 ins Strafrecht aufgenommen), bestreitet vehement, dass man der katalanischen Regierung Rebellion vorwerfen kann. Die Gründe dafür, den Straftatbestand der Rebellion auszuarbeiten, waren zum einen die Geschichte Spaniens (bewaffnete Militärputsche, die die Regierung stürzten, u.a. im Jahr 1923 und 1936), zum anderen aber auch – und einer der Hauptgründe – der missglückte Putschversuch vom 23. Februar 1981 (23-F).


Der 23-F

Damals stürmten der Guardia Civil Antonio Tejero und ca. 200 weitere bewaffnete Polizisten den Spanischen Kongress, bedrohten die Abgeordneten mit Maschinenpistolen, schossen in die Luft und nahmen die Abgeordneten 18 Stunden lang als Geiseln. Ziel war es, zu verhindern, dass Spanien eine Demokratie wird, und durch eine Militärregierung wieder zum franquistischen Regime zurückzukehren. Das Spanien der Transición (1975 – 1982) hatte vier große Probleme: eine Wirtschaftskrise; die Territorialfrage; den Terrorismus/bewaffneten Kampf von ETA/ GRAPO/ LAR/ Terra Lliure (linksradikal/ kommunistisch/ separatistisch) und AAA/ATE/ANE/GAE/BVE (rechtsextrem/ faschistisch/ antikommunistisch); und natürlich die wachsende Unzufriedenheit des Militärs, das schon 1978 einen Putsch geplant hatte (auch hier war Tejero der Hauptakteur, wurde aber nur zu 7 Monaten Gefängnis verurteilt), u.a. weil die zivile Regierung die Kommunistische Partei (PCE) legalisiert hatte.

Mehrere Zeitungen (z.B. ABC) forderten offen eine Militärintervention, um Spanien „wieder auf Kurs zu bringen“. Der Plan von Tejero und Teilen des Militärs war es deshalb, die Präsidentschaftsabstimmung im Kongress zu verhindern und den stellvertretenden Stabschef der Armee Alfonso Armada (kämpfte für Franco im Bürgerkrieg und später für Hitler vor Leningrad; persönlicher Freund des Königs) als neuen Präsidenten einzusetzen. Die Geiselnahme wurde zunächst live im Fernsehen und Radio übertragen, weil sie stattfand, während die Kongressabgeordneten gerade Calvo Sotelo (vom König ernannt) zum neuen Präsidenten Spaniens wählen wollten. Nach ein paar Stunden besetzten die Militärs jedoch auch die Studios von RTVE, sodass die Übertragung abgebrochen wurde. Zeitgleich kam es in Valencia zum Militäraufstand: Jaime Milans del Bosch y Ussía – der im Bürgerkrieg auch für Francos Truppen und während des 2. Weltkriegs als Teil der Blauen Division (División Azul) für Hitler gekämpft hatte, und der nun General und Befehlshaber der III. Militärregion (Valencia, Murcia, Albacete und Cuenca) war – rief in der III. Militärregion den Ausnahmezustand aus, ließ über 40 Panzer durch València fahren und mehrere öffentliche Gebäude militärisch besetzen.

Doch der Putsch schlug fehl: Armada sollte beim König sein, um sich mit ihm zu besprechen; war es aber nicht, als der skeptische General Juste nach ihm fragte. Die Antwort «Ni está, ni se le espera» “Er ist weder hier noch wird er erwartet” des königlichen Generalsekretärs Sabino Fernández Campo gab Juste zu verstehen, dass der König den Putsch nicht (mehr?) unterstützte, sodass er entschied, seine Truppen nicht zu erheben. Seinem Beispiel folgten die meisten Militärregionen. Am Ende gab der König Juan Carlos – oberster Befehlshaber des Militärs – um 01:14 Uhr eine Rede im Fernsehen, in der er sich der Demokratie verpflichtete und die Putschisten so zum Aufgeben bewegte. Tejero und die anderen wurden wegen militärischer Rebellion und Aufruhr zu 30 Jahren Haft verurteilt; nach 13 Jahren waren aber alle wieder auf freiem Fuß. Armada wurde sogar nach nur 5 Jahren von der neuen Regierung (Felipe González; PSOE) begnadigt.

Bis heute weigern sich die jeweiligen Regierungen, die Akten zum Geschehen offen zu legen, damit die Öffentlichkeit endlich erfahren kann, wer tatsächlich hinter dem Putschversuch steckte und wer jener ominöse „weiße Elefant“ (Elefante blanco) war, dessen Ankunft die Putschisten im Kongress zwar angekündigt hatten, der allerdings nie erschien (man sagt, es war Armada, aber vielleicht war es ja doch der von Franco ernannte und vom Volk deshalb verachtete König, um sich vor dem Volk als Retter der Demokratie zu inszenieren?). Was blieb von diesem Tag? Der Satz «Ni está, ni se le espera» ging als geflügeltes Wort in die Alltagssprache über; und noch heute erinnern die Einschusslöcher in der Decke des Kongresses an den Tag, an dem die Demokratie in Spanien mal wieder am seidenen Faden hing.


Beim Verfassen des Paragraphen zur Rebellion, akzeptierte López Garrido einen Änderungsantrag, der das Vorhandensein von Gewalt unentbehrlich machte, um wegen Rebellion angeklagt werden zu können. Vor 1995 war es Rebellion, wenn ein Parlament die Unabhängigkeit einer Region erklärte, seit 1995 ist es das nicht mehr. Denn man verstand, dass eine parlamentarische Erklärung nicht strafbar sein kann; so wollte man verhindern, dass das friedliche Streben nach Unabhängigkeit bestraft wird (besonders der ETA hatte man jahrelang versprochen, dass man über alles reden kann, wenn die Gewalt aufhört). Jeder in Spanien weiß also, was Rebellion ist, und dass das, was in Katalonien passiert ist, überhaupt nichts damit zu tun hatte. Und was die Richter zu vergessen scheinen, ist, dass die Politiker ein demokratisches Mandat hatten. Es waren nicht sie, die die Menschen instrumentalisiert haben, sondern es waren die Menschen, die bei den Wahlen 2015 die Parteien gewählt haben, die am besten ihren Wünschen entsprachen. Die absolute Mehrheit hatten dann diejenigen gewonnen, die sagten, dass sie in 18 Monaten die Unabhängigkeit ausrufen würden.

Kurz vor der Anhörung bei der Audiencia Nacional wurde bekannt, dass Puigdemont und die anderen Ex-Minister erstmal in Brüssel bleiben würden, um den Fall Kataloniens zu internationalisieren. Die spanischen Medien bezeichneten sie als Flüchtige, als Feiglinge, die einfach ihrem fairen Gerichtsprozess entkommen wollten; in Katalonien nennt man sie Exilanten. Am 03. November erließ die Richterin Carmen Lamela einen europäischen Haftbefehl für die fünf. Als die belgischen Behörden diesen erhielten, wurden alle fünf bei der belgischen Polizei vorstellig. Freiwillig, aus eigenen Stücken; sie waren nicht flüchtig. Alle fünf wurden danach wieder auf freien Fuß gesetzt, durften aber Belgien während des Verfahrens nicht verlassen. Das war die erste Schlappe für die spanische Justiz, denn die Richterin hatte angeordnet, dass man sie inhaftieren sollte und doch wurden sie freigelassen. Die U-Haft für die Politiker und Vereinsvorsitzenden in Spanien erschien so noch willkürlicher als ohnehin schon. Auch die Begründung der Staatsanwaltschaft, um den europäischen Haftbefehl zu beantragen, war ziemlich absurd: sie forderte den Haftbefehl, weil die Beschuldigten nicht zur Anhörung erschienen waren. Puigdemont und die vier Minister hatten die Vorladung aber überhaupt nicht erhalten, da sie sich ja schon in Brüssel aufhielten, bevor der Staatsanwalt die Vorladungen verschickte. Da die Presse jedoch über die bevorstehende Anhörung berichtet hatte, setzt die Staatsanwaltschaft voraus, dass die Beschuldigten gewusst haben müssten, dass sie vorgeladen sind. Und trotzdem wären sie nicht erschienen. Seit wann reicht es aber in einem Rechtsstaat bitte aus, dass ein Beschuldigter aus dem Fernsehen über seine Vorladung erfährt?! Zumal die Presse ausführlich über das Hotel, in dem sich Puigdemont und die anderen einquartiert hatten, berichtet hatte. Der Aufenthaltsort war also bekannt, weshalb man die Vorladung auf „normalem Wege“ hätte überbringen können. 

Neben den allnächtlichen Cassolades, versammelten sich auch jede Nacht tausende Katalanen vor ihren Rathäusern, um gegen die Inhaftierung ihrer gewählten Vertreter zu demonstrieren. Allein in Barcelona wurden über 30.000 Plakate aufgehängt, die forderten, die Gefangenen frei zu lassen. Überall in Spanien gab es Demonstrationen gegen die Inhaftierung, die größte war wohl die vom 04. November in Bilbao: 50.000 Basken forderten bei strömendem Regen die Freilassung der katalanischen Politiker und Vertreter der Zivilgesellschaft (Jordi Sànchez und Jordi Cuixart).

Am 8. November fand in Katalonien erneut ein Generalstreik statt, zu dem mehrere kleinere Gewerkschaften aufgerufen hatten, und dem sich die ANC und Òmnium Cultural anschlossen. Überall in Katalonien sperrten die CDRs die Grenzübergänge nach Frankreich, Valencia und Aragón; die wichtigsten Autobahnen Kataloniens und die Hauptverkehrsstraßen Barcelonas. Andere CDRs besetzten z.B. in Girona und Barcelona die Gleise des AVE (Hochgeschwindigkeitszug) oder der Rodalies (Nahverkehrszüge). Ca. 80% der Arbeiter des Schulsystems und ca. 40% der Verwaltung nahmen am Streik teil. Im Großhandelsmarkt von Barcelona (Mercabarna) — dem größten Großhandelsmarkt für Frischware Südeuropas — fiel der Verkauf von frischen Lebensmitteln um 80%. Am Abend versammelten sich wieder zehntausende vor ihren Rathäusern, um gegen die Repression und für die Freilassung der Gefangenen zu demonstrieren. Und doch behauptete die spanische Regierung, dass niemand gestreikt hätte (wahr ist allerdings, dass dieses Mal die Kleinunternehmer nicht teilgenommen hatten, weshalb dieser Streik kleiner ausgefallen war). Die Aussage der Zentralregierung stimmt mal wieder nicht mit den Tatsachen überein: über 50 Teilnehmer stehen zur Zeit wegen des Streiks am 8. November vor Gericht, was ja eigentlich nicht möglich wäre, wenn es doch keinen Streik gab.

Am 9. November mussten die Mitglieder des Parlamentspräsidiums vor dem Obersten Gerichtshof (TS) aussagen. Carme Forcadell kam in U-Haft, durfte aber am nächsten Tag die Haft unter Auflagen verlassen, da sie eine Kaution von 150.000 € hinterlegt hatte. Vier andere Mitglieder mussten jeweils 25.000 € Kaution hinterlegen; Joan Josep Nuet kam ohne Kaution und Auflagen frei, da er zwar auch die Abstimmung über die Unabhängigkeitserklärung zugelassen hatte, aber später dagegen gestimmt hatte. Die ANC hatte ihrerseits bereits im September dazu aufgerufen, eine „solidarische Kasse“ (Caixa de Solidaritat) einzurichten: unzählige Menschen spendeten. Ende September waren schon 2 Mio. € in der Kasse, um die Politiker bei der Bezahlung der Kautionen, etc. zu unterstützen. So bezahlte die ANC sowohl die Kaution von Forcadell als auch die 100.000€ der anderen Mitglieder. Am 11. November fand die Demo „Llibertat presos polítics. Som República“ (Freiheit für die politischen Gefangenen. Wir sind Republik) statt, die von der ANC und Òmnium Cultural organisiert wurde: Zwischen 750.000 und 1 Mio. Menschen nahmen teil und verwandelten Barcelona in ein Lichtermeer.

In der darauffolgenden Woche sorgte Marta Rovira (Generalsekretärin von ERC) mit ihrer Aussage, dass man die Unabhängigkeit nicht hätte durchsetzen können, weil ihnen „sichere Quellen gesagt hatten, dass es ansonsten zu Toten auf den Straßen kommen würde“, für viel Wirbel. Man hätte daher u.a. entschieden, die Beamten nicht dazu aufzurufen, die Anweisungen Madrids zu ignorieren; und die Leute, die vor dem Parlament warteten, um die Republik zu beschützen, nach Hause zu schicken. Nicht nur in Spanien war der Aufschrei groß. Auch in Katalonien sorgte die Aussage für Furore, nicht zuletzt, weil Rovira die Quellen nicht nennen wollte. Ob das nun stimmt oder nicht, weiß man meines Wissens bis heute nicht. Als mögliche Quellen waren Urkullu, Ribó (Bürgerbeauftragter Kataloniens) und der Kardinal Omella (Erzbischof von Barcelona) im Gespräch, allesamt dementierten allerdings, von Toten gesprochen zu haben. Ribó sprach z.B. von einer „sehr harten Antwort“ des Staats; alle sprachen jedoch von einer härteren Antwort als am 1-O. Aber überrascht hat es in Katalonien, glaub ich, kaum jemanden. Die spanische Verteidigungsministerin Cospedal hatte regelmäßig damit gedroht, dass das Militär bereit wäre, um die Einheit Spaniens zu verteidigen. Mehrere ranghohe Militärs und Ex-Militärs hatten im spanischen Fernsehen schon gefordert, dass das Militär eingreifen müsste. Und Militärhubschrauber hatten bewiesenermaßen Katalonien überflogen und kartographiert. Außerdem war jedem bekannt, dass das spanische Militär mehrere Brigaden nach Aragón und Valencia versetzt hatte (allein 9.000 Soldaten der Brigade Castillejos wurden nach dem 1-O von Madrid nach Zaragoza versetzt). Besonders die rechten Medien Spaniens berichtetet davon voller Stolz. Auch die in Katalonien stationierten Soldaten führten vermehrt Militärübungen durch.

Mitten in dieser angespannten Situation wurde zudem bekannt, dass der Iman von Ripoll – Abdelbaki Es Satty – der den Anschlag in Barcelona im August 2017 geplant und mehrere Bruderpaare dafür rekrutiert hatte, seit Jahren ein geheimer Informant des spanischen Geheimdienstes (CNI) gewesen war. Dem Geheimdienst war bekannt, dass Es Satty 2014 von belgischen Imanen verboten wurde, in Belgien als Iman zu arbeiten, da er zu radikal gewesen sei. Und doch hatte man den Mossos d’Esquadra, die seit Jahren eine hervorragende Arbeit in der Terrorismus-Bekämpfung machen, nichts davon erzählt. Gab man vor dem 17. August 2017 den Namen Es Satty in die Datenbanken der Mossos ein, gab es keinen Eintrag; weder darüber, dass die spanische Polizei mehrmals gegen ihn wegen Terrorismus ermittelt hatte, noch dass er zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war.

Dazu muss man sagen, dass Katalonien DAS Salafisten-Zentrum Europas ist. Man geht davon aus, dass es 25.000 – 30.000 Salafisten in Katalonien gibt (ca. 5% der über 500.000 Muslime, die in Katalonien leben), jedes dritte islamische Gebetshaus wird von Salafisten kontrolliert (ca. 80 von insgesamt 265). Damit beherbergt Katalonien 80% der salafistischen Zentren Spaniens. Zum Vergleich: in ganz Deutschland sollen ca. 11.000 Salafisten leben. Seit Jahren herrscht in Katalonien die Terrorismus-Warnstufe 4 von 5. Auch nach den Anschlägen im August. Dank der Arbeit der Mossos wurden unzählige Anschläge verhindert – es gab Zeiten, wo beinahe wöchentlich Terrorzellen hochgenommen wurden – und es war unverantwortlich, ihnen nichts von Es Satty zu erzählen.

Die spanische Regierung gibt bis heute keine Antwort auf die Fragen und verhindert die Bildung einer parlamentarischen Untersuchungskommission. Stattdessen versuchte man, den Mossos die Schuld für die Anschläge in die Schuhe zu schieben (man leakte z.B. eine gefälschte CIA-Nachricht an El Periódico, um den Mossos vorwerfen zu können, von der Gefahr gewusst zu haben und nichts unternommen zu haben). El Periódico veröffentlichte diese Nachricht eine Stunde nach dem Anschlag, während auf der Rambla noch Tote geborgen und Verletzte behandelt wurden. Es war einfach nur abartig. Woher man weiß, dass die Nachricht gefälscht war? Mal ganz davon abgesehen, dass spanische Anführungszeichen benutzt wurden statt englische («» statt “”), manche Wörter auf Spanisch waren (z.B. the nota statt notice, Irak statt Iraq), das Datumsformat nicht amerikanisch war (25 May 2017 statt May 25, 2017), man ISIS schrieb, obwohl die CIA sie ISIL nennt, etc., dementierte der Director of National Intelligence die Existenz einer solchen Benachrichtigung. Außerdem würden die Mossos so eine Nachricht nie direkt von der CIA bekommen, schließlich haben sie noch nicht einmal Zugang zu den Datenbanken der Guardia Civil oder der Policía Nacional. Und selbst wenn die Nachricht – in der sogar stand, dass es keine konkreten Ziele, Zeitpunkte oder Verdächtigen gab  – echt war (und von jemand anderem als der CIA kam): jeder wusste, dass was passieren würde. Die Mossos erhalten nahezu täglich Warnungen, haben überall Informanten und Geheimagenten infiltriert und machen mindestens eine so gute Arbeit wie die spanische Polizei. Seit Jahren ist die Frage in Barcelona nicht ob, sondern wann ein Anschlag stattfindet. Dieses Verlangen mancher Medien und Parteien, den Mossos — die wir in Katalonien schon selbst mehr als genug kritisieren, wenn sie beim Auflösen von Demonstrationen zu hart vorgehen — zu schaden, wird immer unerträglicher. Aber genug davon; irgendwann werden wir erfahren, ob der Geheimdienst absichtlich Informationen über Es Satty verheimlicht hat oder ob das ein „Fehler“ war. Für einige in Katalonien warf die Nachricht, dass Es Satty ein Informant war und der spanische Geheimdienst die katalanischen Behörden nicht über ihn informiert hatte, allerdings trotzdem ein ganz neues Licht auf die Anschläge und die Aussagen von Marta Rovira.

Am 24. November machte der Richter Llarena (TS) bekannt, dass er alle Fälle der katalanischen Politiker und der „Jordis“ übernimmt. Somit werden ab jetzt alle vor dem Obersten Gerichtshof verhandelt; nur noch der Major Josep Lluís Trapero und seine Polizeikommissarin (Intendenta) Teresa Laplana werden von der Richterin Lamela an der Audiencia Nacional prozessiert (mittlerweile sogar wegen Rebellion). Am Tag darauf, machte die Zentrale Wahlkommission im Angesicht der bevorstehenden Parlamentswahlen in Katalonien mehrere Verbote öffentlich. So verbot sie z.B. TV3 und Catalunya Ràdio Puigdemont als „President“, und die Minister als „Consellers“ zu bezeichnen, da sie ja abgesetzt worden waren (> ex-president, ex-consellers). Auch die Ausdrücke „president/govern a l’exili“ (Präsident/Regierung im Exil), „llista del president“ (Liste des Präsidenten) und „consellers exiliats/empresonats“ (exilierte/inhaftierte Minister) wurden verboten. Die Wahlkommission vergisst oder ignoriert dabei die Tatsache, dass in Katalonien jeder Ex-Präsident weiterhin mit „President“ angesprochen wird, egal ob er im Amt ist oder nicht (oft mit dem Zusatz Molt Honorable – ‘Sehr Ehrenwerter’): Molt Honorable President Maragall, M. H. President Montilla, oder eben M. H. President Puigdemont. Außerdem verurteilte sie die Live-Übertragung der Demonstration am 11. November (nach einer Beschwerde von Ciudadanos), weil die Demonstration parteiisch gewesen sei (Freiheit für die politischen Gefangenen). Dabei ignoriert die Wahlkommission, dass TV3 z.B. auch die Demonstrationen der Sociedad Civil Catalana live übertragen hatte. Als TV3 dies zur Verteidigung anführte, war die Antwort nur, dass „dagegen aber keine Partei-Beschwerden vorgelegen hätten“. Am Rathaus von Barcelona hing ein großes Plakat, dass die Freilassung der politischen Gefangen forderte. Auch das musste abgehängt werden. Es wurde allen Gemeinden generell verboten, an ihren Gebäuden Solidaritätsbekundungen, gelbe Schleifen (Symbol der Solidarität mit den Inhaftierten) oder Plakate anzubringen, die irgendwas mit den Inhaftierungen oder Exilanten zu tun haben. Später wurde ein Disziplinarverfahren gegen Mònica Terribes (Radiomoderatorin) eingeleitet, weil sie in ihrer 2 minütigen „Kommentar-Spalte“ (Editorial) nicht die politische Neutralität beachtet hatte, und „Thesen vertreten hätte, die behaupten, dass es in Katalonien eine Repression gegen die separatistische Regierung gegeben hätte“. Die Beschwerde dazu kam von der PP.

Die Besessenheit einiger Parteien mit der gelben Farbe führte zu absurden Situationen: Neben der Tatsache, dass an keinem öffentlichen Gebäude gelbe Schleifen oder Banner hängen durften, legte die PP u.a. auch Beschwerde ein, weil das Rathaus von Barcelona mehrere Springbrunnen gelb beleuchten lassen wollte, oder weil die drei Heiligen Könige auf der Weihnachtskarte der Gemeinde El Prat de Llobregat auf einem gelben Pinselstrich „flogen“. Außerdem ließ die Wahlkommission die Mossos in den Büros der Generalitat antanzen, weil die Mitarbeiter die Weihnachtsbäume teilweise mit gelben Schleifen geschmückt hatten. Diese wurden dann von den Mossos entfernt; als hätte die Polizei Kataloniens nichts besseres zu tun als Schleifen zu beschlagnahmen. Aus Protest dagegen hängten die Mitarbeiter dann Schilder mit der Aufschrift „Aquí hi havia un llaç groc“ (Hier hing eine gelbe Schleife) an die Bäume, und deckten einen Weihnachtsbaum sogar mit einer schwarzen Decke zu. Doch wer glaubt, dass das die Befürworter der Unabhängigkeit eingeschüchtert hat, der irrt sich. Und wer glaubt, dass nur Unabhängigkeitsbefürworter gelbe Schleifen aufhängen/tragen und die Freilassung der Gefangenen fordern, der irrt sich genauso. Jeden Morgen erwachte ein neues Gebäude mit unzähligen gelben Schleifen; an Brücken, Zäunen, Fenstern, Laternen, überall wo es geht, hängen die Menschen gelbe Schleifen auf. Dabei wurden einige aber leider auch angegriffen. Es gibt nämlich ein paar hobbylose Ultras, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Schleifen wieder abzureißen oder die Menschen daran zu hindern, sie überhaupt erst aufzuhängen; wenn es sein muss, dann auch mit Gewalt. Theoretisch können sie die Schleifen ja wieder entfernen, wenn sie sich dadurch so gestört fühlen. Es ist ja schließlich ein öffentlicher Raum. Aber kann es einen wirklich so sehr stören, dass Menschen ihre Solidarität bekunden wollen? Was sagt das über einen Menschen, dem es wichtiger ist, andere Menschen einzuschränken, als selber ein Symbol aufzuhängen? Diesen Menschen geht es nicht um Symbole, sie hassen nur die Andersdenkenden und wollen um jeden Preis verhindern, dass andere ihre Meinung öffentlich zeigen können. In manchen Dörfern hängten die Leute gelbe Schleifen an ihre Obstbäume (im eigenen Garten). Was passierte? Viele der Bäume wurden nachts einfach von Ultras gefällt. Manche Gemeinden waren ziemlich einfallsreich, um den Verboten zu entgehen: so hängten manche einfach Plakate mit „Llibertat d’expressió“ (Meinungsfreiheit), „Tu ja m’entens…“ (Du weißt schon, was ich meine) oder andersfarbige Schleifen auf. Lustig war auch die Werbung des Primavera Sound (ein Festival): eine riesige gelbe Plane, auf der stand  „Això no és un cartell.“ (Das hier ist kein Plakat).

Die Parteien, die für die Unabhängigkeit sind, hatten inzwischen entschieden, an den aufgezwungenen Wahlen teilzunehmen. Somit akzeptierten sie indirekt, dass es keine tatsächliche Unabhängigkeitserklärung gegeben hatte. Wenn man unabhängig ist — auch wenn kein anderer Staat einen anerkennt — dann nimmt man nicht an Wahlen teil, die die Regierung eines anderen Staates auf dem eigenen Territorium abhalten will. ERC und PDeCAT (Nachfolgepartei der weiter oben erwähnten Convergència), die bei den letzten Wahlen 2015 gemeinsam als Junts pel Sí angetreten waren, entschieden, dieses Wahlbündnis nicht zu wiederholen. ERC lag bei Umfragen klar vorne (bei bis zu 30%), sodass man diese historische Situation für sich nutzen wollte (noch 2010 bzw. 2012 bekam ERC nur 7 bzw. 13,7 % der Stimmen). Auch die antikapitalistische CUP, die treibende Kraft der Unabhängigkeitsbewegung, entschied an den Wahlen teilzunehmen, auch wenn sie sie als illegitim ablehnte. Der PDeCAT, dem auch Puigdemont angehört, lag bei den Umfragen zunächst sehr weit hinten (teilweise bei nur 10%); doch als Puigdemont entschied, als Präsidentschaftskandidat anzutreten und das Wahlbündnis Junts per Catalunya (JuntsxCat; Zusammen für Katalonien) zu gründen, fingen sie an, in den Umfragen aufzuholen. Der PDeCAT ist zwar auch Teil von JuntsxCat, aber viele Kandidaten auf der Wahlliste sind parteilos/unabhängig, wie z.B. der inhaftierte Jordi Sànchez (von der ANC), Eduard Pujol (Journalist; ehemaliger Radiomoderator und Direktor von RAC1), Quim Torra (Anwalt, Schriftsteller und früherer Vorsitzender von Òmnium Cultural), Laura Borràs (promovierte Sprachwissenschaftlerin; u.a. Professorin der Uni Barcelona), Teresa Pallarès (früher Abgeordnete des PSC), Jaume Cabré (Schriftsteller), etc. Sowohl ERC als auch JuntsxCat fokussierten ihren Wahlkampf auf die Wiedererlangung der katalanischen Institutionen, die Wiederherstellung der legitimen Regierung, die Befreiung der Gefangenen und die Rückkehr der Exilanten. Es war mal wieder eine Art Plebiszit: gegen den Artikel 155, gegen die PP von Rajoy, für die Souveränität des katalanischen Volkes, für die Verteidigung der Ergebnisse des 1-O.

Am 4. Dezember ließ der Richter Llarena Turull, Rull, Mundó, Bassa, Romeva und Borràs unter Auflagen und der Zahlung von jeweils 100.000 € Kaution, frei. Auch ihre Kaution wurde aus der „Solidarätskasse“ der ANC bezahlt. Allerdings behielt er Junqueras, Forn, Sànchez und Cuixart weiterhin in Haft, ohne stichhaltige Gründe dafür anzugeben. Am nächsten Tag zog er den europäischen Haftbefehl gegen Puigdemont und die exilierten Ex-Minister zurück, weil durchgesickert war, dass die belgische Justiz sie nicht wegen Rebellion ausliefern würde. Für viele Strafrechtler war das ein Skandal, noch nie hätte ein Richter einen Haftbefehl zurückgezogen, obwohl sich am Fall objektiv nichts geändert hatte.

Zudem begann am selben Tag der offizielle Wahlkampf. Oriol Junqueras, der Spitzenkandidat von ERC, im Gefängnis. Carles Puigdemont, Spitzenkandidat von JuntsxCat, im Exil. Und diejenigen, die am Vortag freigelassen wurden, mussten aufpassen, was sie sagen, da später im Prozess alles gegen sie verwendet werden würde. Acht Kandidaten der Unabhängigkeitsparteien konnte nicht am Wahlkampf teilnehmen, weil sie entweder nicht nach Spanien einreisen durften oder im Gefängnis saßen. Von einem fairen Wahlkampf war das alles weit entfernt, vor allem weil aus den Kreisen von Ciudadanos und PP immer wieder zu hören war, dass man den Artikel 155 wieder anwenden würde, falls die Separatisten gewinnen sollten.

Am 7. Dezember fand die Demo „Omplim Brussel·les“ (Wir füllen Brüssel) statt. Die ANC und Òmnium Cultural hatten dazu aufgerufen, sich nach Brüssel zu begeben, um die Stärke der Bewegung im Herzen Europas zu zeigen. Im Rest Spaniens wurde die Initiative belächelt, in Katalonien gespannt erwartet. Zwischen 45.000 und 60.000 Katalanen folgten dem Aufruf, und demonstrierten auf den Straßen der Hauptstadt Europas unter dem Motto «Europa, desperta’t! Democràcia per a Catalunya» (Wach auf Europa! Demokratie für Katalonien). Es war die größte ausländische Demonstration, die Belgien je gesehen hatte; schon Tage vorher berichteten die belgischen Zeitungen, dass «Brüssel zusammenrückt, um 50.000 Katalanen zu beherbergen».

Ansonsten verlief die Kampagne ohne größere Zwischenfälle. Auffällig war allerdings das riesige Propaganda-Aufgebot, das Ciudadanos an den Tag legte. Überall standen Wahlkampfstände, selbst vor Schulen. An manchen Orten, wie z.B. in den Tunneln der U-Bahn, blickte einen Inés Arrimadas durchgehend von links und rechts an (alle Werbeflächen waren von Ciudadanos gemietet worden). Und ihre Meetings erinnerten in Größe und Aggressivität eher an einen US-amerikanischen Wahlkampf als an einen katalanischen. Viele fragten sich, wie die das bezahlen, schließlich waren sie weder in Katalonien noch im Rest des Staates wirklich vertreten: In Katalonien, wo die Partei seit 2006 existiert, stellten sie nicht einen einzigen Bürgermeister (von über 900); spanienweit, wo sie 2015 das erste Mal zur Wahl antraten, stellten sie nur insgesamt 82 Bürgermeister (die meisten in Kastilien und León) von über 8.000; und sie waren in keiner Regionalregierung vertreten. Nach den Wahlen erfuhren wir dann die Beträge, die die einzelnen Parteien für den Wahlkampf ausgegeben hatten und – der Eindruck hatte nicht getäuscht – Ciudadanos belegte den ersten Platz, mit 2,99 Mio. €. Auf die Frage, wie sie zu so viel Geld gekommen waren, antworteten sie: „Wir haben weniger Kaffee getrunken und haben so Geld gespart“. Sollten wir wohl auch mal machen. Fakt ist, dass 2,5 Mio. direkt von der Partei kommen, aber mehr weiß man auch nicht (allerdings sollen wohl Gelder der Gemeinderatsfranktionen [Grupos Municipales] abgezweigt worden sein, was nicht legal wäre; hier). Die Tatsache, dass über 100 gewählte Abgeordnete/Stadträte in den letzten Monaten die Partei verlassen haben und nahezu einstimmig eine illegale Finanzierung durch Spendengelder von großen Börsenunternehmen und Banken anklagen, und dass der Spanische Rechnungshof „Unregelmäßigkeiten“ in den Rechnungen und Konten der Partei festgestellt hat, spricht vielleicht für sich. Auf Platz 2. der Wahlkampfkosten stand übrigens der PSC, mit knapp 2,4 Mio. €; erst danach kommen Junts per Catalunya (mit 1,8 Mio.) und PP (mit 1,66 Mio.). Für die PP hat sich das ganze Geld übrigens am wenigsten gelohnt, wie wir gleich sehen werden.

21-D — Die Wahl, die nichts änderte

Denn am 21. Dezember 2017 (21-D) wählte Katalonien zum vierten Mal in 7 Jahren ein neues Parlament. Die Wahlbeteiligung war so hoch wie noch nie: über 79% der Wahlberechtigten gingen wählen. Von Seiten von Ciudadanos und PP wurde immer behauptet, dass eine hohe Wahlbeteiligung die Unabhängigkeitsbewegung besiegen würde, da große Teile derjenigen, die nicht in Katalonien geboren wurden (und eher anti-separatistisch sind), selten zu Autonomie-Wahlen gingen. Und würden diese Leute jetzt massiv wählen gehen, dann würde man die Separatisten besiegen. Und auf den ersten Blick sieht es auch so aus: Ciudadanos wurde stärkste Kraft, mit ca. 25,4% der Stimmen (1,1 Mio. Wähler). Auf Platz 2 und 3 kamen JuntsxCat (21,66%) und ERC (21,4%). Das war die Gefahr dabei, kein Wahlbündnis zu bilden: Obwohl die beiden großen Unabhängigkeitsparteien zusammen klar die Mehrheit hatten (43%), konnte Ciudadanos den Sieg für sich verbuchen. Ciudadanos, die die aggressivste Anti-Unabhängigkeitskampagne geführt hatten, waren für viele zum „Voto útil“ (Leihstimme) geworden, d.h. vor der „Gefahr“, dass Katalonien tatsächlich unabhängig wird, wählten viele die radikalsten Oppositionspartei (die PP war aufgrund der Korruptionsskandale unwählbar geworden), auch, wenn sie sie unter normalen Umständen nicht gewählt hätten. So wählten 36% derjenigen, die 2015 PSC gewählt hatten, 44% der damaligen PP-Wähler, 31% der Unió-Wähler und 35% der damaligen Nichtwähler dieses Mal Ciudadanos. Die PP landete auf dem letzten Platz, mit nur 4,2% der Stimmen.

Was sagten uns diese Wahlen? Die Unabhängigkeitsbewegung hatte wieder die absolute Mehrheit an Parlamentsmandaten gewonnen, mit 70 Sitzen (und 47,5% der Stimmen). Diejenigen, die sich klar gegen die Unabhängigkeit aussprechen (Ciudadanos, PP und PSC), bekamen 43,5% der Stimmen. CatComú-Podem, die sich zwar gegen eine einseitige Unabhängigkeitserklärung aussprechen, aber sehr wohl das Selbstbestimmungsrecht verteidigen, erhielten ca. 7,5% der Stimmen. Tatsächlich hatten die Unabhängigkeitsparteien an Stimmen zugelegt, obwohl man ja immer sagte, dass die traditionellen Nichtwähler alle Unionisten seien. Ca. 24% der Nichtwähler von 2015 hatten jetzt für die Unabhängigkeitsparteien gestimmt. 2015 erhielten sie 1,96 Mio. Stimmen, beim Referendum stimmen 2,04 Mio. für die Unabhängigkeit und jetzt hatten 2,08 Mio. Menschen für die Unabhängigkeitsparteien gestimmt. Allerdings kann eine Parlamentswahl natürlich kein richtiges Referendum ersetzen, vor allem, weil es Unabhängigkeitsbefürworter gibt, die andere Parteien wählen (so geben z.B. 7% der PSC-Wähler an, die Unabhängigkeit zu wollen, und knapp 20% der Wähler von CatComú-Podem; selbst 5% der PP-Wähler würden bei einem Referendum mit „Ja“ stimmen). Klar wurde auch, dass die Wähler vor allem Parteien wählten, die ausdrücklich gegen den Artikel 155 waren (55%; was die Umfragen bestätigte: 56% waren demnach gegen den Artikel 155, nur 36% dafür).

Regional fiel die Wahl ziemlich unterschiedlich aus: wie zu erwarten, waren die Unabhängigkeitsbefürworter im katalanischen Hinterland am stärksten, während die Unionisten in den mehrheitlich spanischsprachigen Satelliten- und Schlafstädten rund um Barcelona und in Tarragona am stärksten waren. So gewannen die Unabhängigkeitsparteien in Landkreisen wie La Garrotxa (78%), Pla de l’Estany (82%), Berguedà (78%), Pallars Sobirà (80%), oder Priorat (81%) haushoch, während sie es in den Landkreisen Baix Llobregat (33%), Tarragonès (37%), Vallès Occidental (41%) und im Val d’Aran (31%) schwerer hatten.  In diesen Landkreisen gewann Ciudadanos ziemlich deutlich, mit zwischen 29 und 36%. Und doch hatten hier die Unabhängigkeitsparteien den größten Stimmenzuwachs; um durchschnittlich 6 – 10%. In Santa Coloma de Gramanet z.B. betrug der prozentuale Zuwachs fast 19% (2015: 11.012 Stimmen, 19,2%; 2017: 13.080 Stimmen, 21,3%).


Das Val d’Aran im äußersten Nordwesten Kataloniens ist allerdings ein Sonderfall: innerhalb Kataloniens genießt es einen Sonderstatus mit einer eigenen autonomen Regierung (dem Conselh Generau d’Aran), da es eine eigene Geschichte, Kultur und Sprache hat (als Teil Okzitaniens; die Bewohner des Tals — seit 1313 Teil der Krone von Aragonien — stimmten 1411 für die Eingliederung in Katalonien, aber nur unter der Bedingung, dass sie ihre Sonderrechte – Era Querimònia – beibehalten können). Allerdings sind heute nur 36% der knapp 10.000 Einwohner auch im Aran-Tal geboren und nur knapp 22% haben das aranesische Okzitanisch als Muttersprache (insgesamt können es 60% der Bevölkerung sprechen). Ca. 21% sind im Rest Kataloniens geboren und über 42% der Einwohner sind entweder Einwanderer aus dem Rest Spaniens (21,1%) oder aus dem Ausland (21,1%; vor allem aus Südamerika, Rumänien und dem Maghreb). Während aber fast 85% der katalanischen Einwanderer Aranesisch sprechen können, können es von den spanischen bzw. ausländischen Einwanderern nur 35% bzw. 22% sprechen. Obwohl Spanisch die Muttersprache von „nur“ etwa 38% der Einwohner ist, ist es für 45% die Alltagssprache; was vor allem am spanischsprachigen Tourismus liegt, der den Großteil der Wirtschaft im Tal ausmacht. Dies erklärt das gute Ergebnis von Ciudadanos im Aran-Tal (33,4%); denn kein aranesischsprachiger Aranese hätte diese Partei, die damit wirbt, Spanien auf allen Ebenen vereinheitlichen und u.a. die sprachliche Vielfalt bekämpfen zu wollen, jemals gewählt. Außerdem wurde später deutlich, dass das gute Ergebnis wohl nur an den Umständen (aufgeheizte, polarisierte Stimmung) lag: denn bei den Wahlen zum spanischen Parlament im April 2019 erhielt Ciudadanos im Aran-Tal nur 16,7%, bei den Europawahlen im Mai 2019 16,4% und bei bei Wahlen zum Conselh Generau (am selben Tag wie die Europawahlen) nur noch 2,3%.


Aber wer hatte denn nun Ciudadanos gewählt? Natürlich vor allem Gegner – verbissene Gegner – des Unabhängigkeitsprozesses. Gegner, die Angst hatten, dass der PSC zu lasch sei und denen es egal war, dass Ciudadanos das neoliberalste Wahlprogramm überhaupt hat. Aber wie sind sie? Folgendes haben mehrere Studien und Umfragen ergeben: Ciudadanos wurde vor allem von rein spanischsprachigen Bürgern gewählt (62% spanischsprachig, 28% zweisprachig, nur zwischen 5% und 10% katalanischsprachig; bezieht sich immer auf die Muttersprache, denn die meisten Einwohner Kataloniens — ca. 81% — können auch Katalanisch sprechen). Selbst die PP hat einen größeren katalanischsprachigen Anteil (14%). Das steht im großen Kontrast zu den Unabhängigkeitsparteien, deren Wähler um einiges heterogener sind, was die Muttersprache angeht (45% katalanischsprachig, 30% spanischsprachig und 25% zweisprachig). Außerdem geben die meisten Ciudadanos-Wähler an, zur Mitte zu gehören (auf einer Skala von 0 – 10, wobei 0 ganz links, und 10 ganz rechts ist, geben sie im Durchschnitt 5,5 an). Doch das ist eigentlich immer nur die Antwort derjenigen, die nicht genau wissen oder sagen wollen, wo sie sich einordnen (die Existenz einer politischen Mitte wird ja zurecht angezweifelt) und bekräftigt die Vermutung, dass es nur die anti-separatistische Haltung von Ciudadanos war, die die Wähler für sie hat stimmen lassen. Knapp 87% der Ciudadanos-Wähler haben keine katalanischen Großeltern und 49% wurden außerhalb Kataloniens geboren; über 44% interessieren sich wenig bis gar nicht für Politik und 62% haben absolut kein Vertrauen in andere Menschen. Außerdem sagen 63%, dass sie sich „genauso spanisch wie katalanisch“ fühlen (dieses duale Zugehörigkeitsgefühl ist allerdings selten ausgeglichen — die katalanische Identität ist immer der spanischen untergeordnet — und wird oft als Antwort gegeben, da man in Katalonien wegen der Vergangenheit das „Sich-Nur-Spanisch-Fühlen“ mit Rechts und Rechtsextremismus verbindet). Beim PSC und PP sieht es ähnlich aus, allerdings sind die PSC-Wähler älter (über 70% sind über 50) und linker (40% ordnen sich links der Mitte ein), und die PP-Wähler ungebildeter (41% haben nur einen Grundschulabschluss), rechter (fast 60% ordnen sich rechts der Mitte ein), noch gläubiger (96%; bei Ciudadanos 79%) und noch desinteressierter (71% interessieren sich wenig oder gar nicht für Politik). Das steht wieder in krassem Gegensatz zu den Unabhängigkeitsparteien: die Wähler von JuntxCat, ERC und CUP sind zu 90% in Katalonien geboren, haben ein größeres Vertrauen in die Menschen (durchschnittlich 56%; am höchsten bei den CUP-Wähler mit fast 70%), sind stark politisiert (fast 80% interessieren sich sehr für Politik) und fühlen sich zu 92% entweder mehr als Katalanen als als Spanier oder ausschließlich als Katalanen. Außerdem sind diese Wähler oft besser ausgebildet (32,3% Abitur oder Höhere Berufsausbildung/FP Superior, 23,2% Studium und 8% Master/Promotion; also knapp 64% haben Abitur oder einen höheren Abschluss).

Obwohl die nationale Identität eine Rolle spielt, hat das nicht ganz so viel mit der eigenen familiären Herkunft zu tun, wie man vermuten würde: 26% der Wähler der Unabhängigkeitsparteien haben keine katalanischen Großeltern, 37,1% haben vier katalanische Großeltern (die meisten haben die PDeCAT-Wähler mit 51%), und der Rest hat entweder einen (7%), zwei (21,3%) oder drei katalanische Großeltern (8%). Dazu muss man sagen, dass insgesamt nur 24% der Katalanen auch wirklich vier katalanische Großeltern haben (und nur 16% haben 8 katalanische Nachnamen, d.h. dass auch alle ihre Urgroßeltern aus Katalonien stammten).

Diese Polarisierung wird nur von den Wählern von CatComú-Podem durchbrochen: sie sind vor allem links (über 65% links der Mitte; auf der Skala von 1 – 10 durchschnittlich bei 2,8); sie fühlen sich entweder sowohl als Katalanen als auch als Spanier (45%) oder vor allem/ausschließlich als Katalanen (42%); sie sind stark politisiert (74% interessieren sich sehr für Politik); vor allem nicht gläubig (55% Atheisten/Agnostiker); gut ausgebildet (64% Abitur oder höherer Abschluss) und sind zwar zu 68% in Katalonien geboren, aber über 71% haben keine katalanischen Großeltern (6,5% haben vier). Außerdem gibt es eine Sache, die die Ciudadanos- und PP-Wähler von allen anderen unterscheidet: während die anderen Wähler die Franco-Diktatur mit großer Mehrheit vollkommen negativ beurteilen (über 80%), findet die Mehrheit der Ciudadanos-Wähler (52%) und PP-Wähler (49%), dass die Diktatur auch gute Seiten hatte. Mehr noch, knapp 24% der PP-Wähler sind der Meinung, dass die Diktatur gut für Katalonien war. Nur 38% der Ciudadanos-Wähler und 24% der PP-Wähler finden, dass die Franco-Diktatur schlecht für Katalonien war. Insgesamt denken 22% der Katalanen, dass der Franquismus gute und schlechte Seiten hatte; in ganz Spaniens sind es doppelt so viele: 44%.

Die Wahlen hatten nichts wirklich verändert. Von der Zentralregierung aufgezwungen, um zu erreichen, dass die unionistischen Parteien gewinnen, hatten die Menschen trotzdem wieder mehrheitlich souveränistische Parteien gewählt und die Unabhängigkeitsbefürworter konnten trotz der hohen Wahlbeteiligung an Stimmen zulegen und die absolute Mehrheit beibehalten. Niemand wollte mit Ciudadanos koalieren oder eine Minderheitenregierung von ihnen unterstützen; noch nicht einmal die PP oder PSC. Allerdings versuchte Ciudadanos auch nicht wirklich, eine Regierung zu bilden (wurde ihnen vor allem von der Hauptstadtpresse vorgeworfen). Also versuchten sich die drei Unabhängigkeitsparteien JuntsxCat, ERC und CUP an der Regierungsbildung und versuchten, einen Präsidenten zu wählen. Doch das gestaltete sich ziemlich schwierig: man war sich zwar einig darin, dass Puigdemont wieder Präsident werden sollte, aber da dieser sich in Brüssel befand und erstmal nicht nach Katalonien zurückkehren konnte, ohne verhaftet zu werden, wusste man nicht genau, wie man das anstellen sollte.

Was war das Problem? Von den 70 Abgeordneten der Unabhängigkeitsparteien waren 5 im Exil und 3 im Gefängnis. Doch während der Richter Llarena den drei inhaftierten Abgeordneten (Junqueras, Forn und Jordi Sànchez) erlaubte, ihre Stimmen zu delegieren, verbot er es den Exilanten. Aber ohne die Stimmen der Exilanten hatten sie keine absolute Mehrheit, um z.B. den Parlamentspräsidenten zu wählen. Am Ende konnte allerdings Roger Torrent (ERC) dank der Enthaltung von CatComú-Podem am 17.01.2018 zum Parlamentspräsidenten gewählt werden (nicht zu verwechseln mit dem Präsidenten der Generalitat, also dem katalanischen Ministerpräsidenten). Jetzt begann jedoch das eigentliche Problem: Roger Torrent schlug den Fraktionen Carles Puigdemont als Präsidenten der Generalitat vor, da er die einzige Person war, die eine Mehrheit bekommen konnte; aber Rajoy und die spanische Regierung wollten nicht akzeptieren, dass die Person, die sie abgesetzt hatten, jetzt erneut gewählt wird. „Ich werde alles tun, um den Amtsantritt von Puigdemont zu verhindern“, sagte Rajoy. Wozu haben die Katalanen gewählt, wenn es am Ende doch die Zentralregierung ist, die bestimmt, wer in Katalonien Präsident werden darf?

Obwohl der Staatsrat (Consejo de Estado) der Zentralregierung davon abriet, eine Beschwerde beim Verfassungsgericht einzureichen, weil es es keine objektiven Gründe dafür gab, machte die Zentralregierung weiter und legte Verfassungsbeschwerde ein. Verfassungsrechtler warnten schon öffentlich vor Rechtsmissbrauch, sollte das Verfassungsgericht die Beschwerde annehmen. Und tatsächlich erntete Rajoy die nächste Ohrfeige: die Beschwerde wurde abgelehnt. Allerdings wollte man Rajoy wohl nicht im Regen stehen lassen – zumal alle großen Hauptstadtzeitungen dazu aufgerufen hatten, den Amtseintritt Puigdemonts zu verhindern – und nach einem Anruf der Zentralregierung beim Verfassungsgericht erließ dieses mehrere einstweilige Verfügungen: Puigdemont durfte zwar zum Präsident gewählt werden, aber nur, wenn er vorher persönlich vor dem Richter Llarena vorstellig geworden war und dieser ihm dann erlaubt hatte, im Parlament anwesend zu sein. Außerdem verbot es ausdrücklich, dass Puigdemont per Videokonferenz oder Delegation gewählt wird. Doch Puigdemont konnte natürlich nicht einfach wiederkommen, um gewählt zu werden; zwar hatte Llarena den Europäischen Haftbefehl zurückgezogen, aber der spanische Haftbefehl gegen ihn war immer noch gültig. Es ist auch unnötig zu erwähnen, dass dieser Schritt des Verfassungsgerichts von vielen Verfassungsrechtlern kritisiert wurde: es hätte die Beschwerde entweder annehmen oder ablehnen müssen, aber der Rest war nicht in seinem Zuständigkeitsbereich, solange der vermeintliche „Tatbestand“ (die Wahl Puigdemonts) noch gar nicht eingetreten war.

Diese Einmischung der Zentralregierung und des Verfassungsgericht verstößt nicht nur gegen die Souveränität des katalanischen Parlaments, sondern auch gegen die politischen Rechte Puigdemonts und der Exilanten. Denn solange es kein rechtskräftiges Urteil gibt, das ihre politischen Freiheiten einschränkt, sind sie intakt; d.h. sie dürfen wählen und gewählt werden, und niemand hat da zwischen zu funken. Außerdem richtet es sich gegen das Wahlrecht der katalanischen Bevölkerung, die den Parteien die Mehrheit gegeben hatten, die Puigdemont zum Präsidenten machen wollten. Indem man das nun verhindert, übergeht man den Wählerwillen, der in jeder Demokratie das höchste Gut sein sollte. Und das alles, während man immer noch nicht weiß, ob die Anwendung des Artikels 155 und die damit verbundene Absetzung der katalanischen Regierung überhaupt verfassungskonform waren.

Da Puigdemont in Europa ein freier Mann war, begab er sich Ende Januar 2018 von Brüssel nach Dänemark, um an der Universität Kopenhagen eine Konferenz zu halten und sich mit einigen dänischen Abgeordneten zu treffen. Die Zentralregierung forderte vom Richter Llarena, dass er den Europäischen Haftbefehl wieder aktiviert, doch dieser weigerte sich (es lebe die Gewaltenteilung!). Seine offizielle Begründung war mal wieder mehr als abenteuerlich: Puigdemont wolle verhaftet werden, um nach Spanien zurückzukehren und zum Präsidenten gewählt zu werden, und deshalb wäre es falsch, ihn jetzt zu verhaften. Wo hat man sowas schon mal gesehen? Entweder du denkst, dass eine Person eine Straftat begangen hat, für die sie 30 Jahre ins Gefängnis gehen soll, und dann aktivierst du jeden Haftbefehl, den es gibt, um die Person zu fassen; oder eben nicht. Man kann nicht Haftbefehle aussprechen und zurückziehen, nur um als Richter in der Politik mitzumischen. Aus Angst davor, durch die Delegierungsverbote nicht genug Stimmen im Parlament zu haben, verzichteten in den folgenden Tagen Clara Ponsatí (mittlerweile wieder in Schottland, wo sie als Uni-Professorin arbeitet), Meritxell Serret (Brüssel), Lluís Puig (Brüssel) und Joaquim Forn (Gefängnis in Madrid) auf ihre Mandate.

Für den 30. Januar 2018 war die Debatte zur Amtseinführung und die entsprechende Abstimmung angesetzt. Die Zentralregierung aktivierte eine breitangelegte Sicherheitsmaschinerie, um zu verhindern, dass Puigdemont das katalanische Parlament betritt. Schon Tage vorher fing man an, die Grenzen zu Frankreich zu kontrollieren, Kofferräume von Unbeteiligten zu öffnen, Häuser zu durchsuchen und man nahm sogar aus Versehen einen Komiker fest, der sich für die Aufnahme eines Sketches als Puigdemont verkleidet hatte. Außerdem verstärkte man die Patrouillen der Küstenwache, überwachte die Flughäfen, bewachte das Parlament mit hunderten spanischen Polizisten und fragte sogar bei Privatflughäfen nach, ob Puigdemont dort gelandet sei (ein aufsehenerregender Fall war eine Fallschirm-Schule). Keine Ahnung, was man sich dabei gedacht hat; als würde Puigdemont schnorchelnd oder per Fallschirmsprung nach Katalonien einreisen. Wenn es tatsächlich so wichtig war, hätte man nur das Parlament bewachen müssen, denn das wäre ja der Zielort von Puigdemont gewesen. Egal, es war alles unnötig: Puigdemont kam nicht, und der Parlamentspräsident Roger Torrent setzte den Amtsantritt aus, weil es keine Garantien gäbe. Als Reaktion darauf demonstrierten tausende Mitglieder der CDRs gegen diese Entscheidung und forderten, Puigdemont endlich zum Präsidenten zu ernennen. Diese Entscheidung hatte auch einen Bruch innerhalb der Unabhängigkeitsparteien zur Folge: während JuntsxCat und die CUP unbedingt Puigdemont und die vorherige Regierung wiederherzustellen wollten – auch wenn man so dem Verfassungsgericht den Gehorsam verweigerte – forderte ERC und Teile des PDeCAT eine „effektive Regierung“, d.h. jemanden, der auch tatsächlich in Katalonien war und regieren konnte. Innerhalb der Unabhängigkeitsbewegung gab es diese Spaltung aber nicht: immer wieder gingen zehntausende auf die Straße, um Zusammenhalt und eine einheitliche Route zu fordern.

Zwischenzeitlich hatte der Richter Llarena entschieden, auch gegen Anna Gabriel i Sabaté – ehemalige Abgeordnete der CUP während der letzten Legislaturperiode – wegen Rebellion und Aufruhr zu ermitteln. Deshalb lud er sie für den 19. Februar vor. Doch sie erschien nicht, da sie sich dazu entschieden hatte, nach Genf zu gehen. In Spanien – so ihre Begründung – konnte sie mit keinem gerechten Verfahren rechnen. Llarena erließ einen nationalen Haftbefehl gegen sie, aber keinen internationalen (die Schweiz gehört ja nicht zur EU, weshalb er keinen europäischen Haftbefehl erlassen konnte). Warum erließ er keinen internationalen Haftbefehl bzw. ein Auslieferungsgesuch? Weil das Schweizer Bundesamt für Justiz bereits öffentlich verkündet hatte, dass die Schweiz – wie die meisten anderen Staaten – niemanden wegen politischer Delikte ausliefert. Sollte die spanische Justiz doch ein Auslieferungsgesuch aussprechen, so würde man es sorgfältig prüfen. Da es sich aber nicht um Völkermord, Kriegsverbrechen, Geiselnahme, etc. handelte, wären die Erfolgschancen rechtlich gesehen sehr gering. Die nächste Ohrfeige für Llarena, Rajoy, etc.

Ende Februar besuchte dann der König Felipe VI. im Rahmen des Mobile World Congress — der größten Mobilfunk-Ausstellung der Welt (findet seit 2006 in Barcelona statt) — Barcelona. Etwas Dümmeres – oder Arroganteres – hätte er in dieser Zeit nicht machen können. Niemand hatte seine harten Worte vom 3. Oktober vergessen und die Ablehnung der Monarchie in Katalonien war so stark wie selten zuvor (über 80% der Katalanen lehnen die Monarchie ab, 60% bewerten sie mit einer 0 von 10 möglichen Punkte; tatsächlich ist die Monarchie mit einer 1,8 die am schlechtesten bewertete Institution in Katalonien, 1,8 entspricht einer glatten 6). Niemand der Generalitat ging zum traditionellen „Handküssen“ (Besamanos), auch nicht der Parlamentspräsident und auch nicht die Bürgermeisterin Barcelonas, Ada Colau (von der linken Barcelona en Comú; einer Bürgerplattform, der u.a. die ökosozialistische ICV, EUiA – ‘Vereinte und Alternative Linke’, die grüne/ökosozialistische Equo, Procés Constituent – ‘Verfassungsgebender Prozess’ und Podem angehören). Das Handküssen sei „ein Akt der Knechtschaft und in einer Demokratie unangebracht“, so Colau. Überall in Katalonien gab es Proteste gegen den Besuch des Königs, überall ertönten die bekannten Cassolades. Vor dem Palau de la Música, wo sich der König befand (dort fand das Eröffnungsessen statt), versammelten sich tausende Demonstranten (vor allem CDRs) und riefen „Unabhängigkeit“, „Raus mit den Bourbonen“, „Wir haben keinen König“, „Raus mit den Besatzungstruppen“ und „Wir sind Republik“. Obwohl die Mossos d’Esquadra die Demonstranten auf Distanz hielten (mehrere hundert Meter), konnte man nicht verhindern, dass der König mit Pfiffen, Rufen, Topfgeschlage und der republikanischen Hymne Spaniens (Himno de Riego) verabschiedet wurde, als er das Gebäude verließ. 19 Personen wurden verletzt, als die Mossos anfingen, auf die Demonstranten einzuschlagen, um zu verhindern, dass sich diese dem Gebäude näherten.


Karneval von Cádiz

Hier möchte ich kurz etwas einschieben, weil es chronologisch und thematisch gerade passt. Im Februar 2018 war wieder Karneval und eine der spanischen Karnevalshochburgen – Cádiz (Andalusien) – rückte ins Licht der katalanischen Öffentlichkeit. Zum einen, weil natürlich über Puigdemont und  die Unabhängigkeitsbefürworter hergezogen wurde, zum anderen aber auch – und vor allem – weil zwei Comparsas (Musikgruppen) Pasodobles vortrugen, die streng mit der Reaktion vieler Spanier auf den Unabhängigkeitsprozess ins Gericht gingen. Für viele Katalanen war das Balsam für die Seele. Viele hatten einen Diskurs linker spanischer Intellektueller vermisst, der sich dem offiziellen nationalistischen Diskurs der spanischen Regierung entgegenstellte. Da der nicht kam, wurden diese beiden Gruppen gefeiert, als hätten sie den Konflikt gelöst. Mich persönlich haben sie sehr berührt, da sie genau das Gefühl widerspiegeln, das viele Katalanen haben, die sich zwar immer noch auch als Spanier fühlen, aber ein anderes Spanien und ein neues Katalonien wollen. Hier die beiden Lieder, mit den übersetzten Texten:

„Sie vergiften mich nicht und da ich ein Engel bin,

interessieren mich die Fahnen nicht.

Ich kann sogar verstehen, dass sie für ihre Unabhängigkeit kämpfen,

denn auch ich schäme mich oft für dieses Land.

Ich schäme mich für diejenigen, die die Polizei geschickt haben,

um ein Volk windelweich zu prügeln.

Und für den Patriotismus, mit dem so viele Spanier geprotzt haben,

mit den Fahnen an ihren Balkonen.

Ich habe nicht gesehen, dass sie das Fähnchen jemals ausgepackt hätten,

um gegen die Gauner, die Kürzungen oder die kleinen Renten zu kämpfen.

Ich habe nicht gesehen, dass sie die Fahne für das Gesundheitssystem aufgehängt hätten.

Und für die ganzen Arbeitslosen, die nicht mehr können.

Wenn wir irgendwann mit den ganzen Gaunern fertig sind;

Wenn endlich kein Kind mehr friert oder hungert;

Wenn es endlich keine Frauen mehr gibt, die von Männern misshandelt und getötet werden;

Wenn die Zukunft klarer wird und wir in der Bildung nicht mehr an hinterster Stelle stehen;

Wenn in dieser Nation selbst der König gewählt werden kann,

und wenn sein Schwager geklaut hat, auch mit dem Gefängnis bezahlt;

Wenn das Fest mit dem Schwert und der Muleta abgeschafft wird (Stierkampf);

Wenn endlich niemand mehr in einem Massengrab verscharrt ist;

Dann geh raus und hol deinen Stofffetzen raus,

dann hol deinen Stofffetzen raus und prahle mit deiner Fahne.“

„Du, der du deine Fahne hisst,

mit so viel Stolz wie noch nie.

Es zerkratzt dich bis ins Innerste, dass sie von Katalonien aus versuchen, Spanien zu zerstören.

Es geht dir richtig auf die Eier,

dass es in deiner Nation Menschen gibt, die begeistert schreien,

dass sie keine Spanier sind.

Du stürzt auf die Straße und machst diesen Krieg zu deinem,

für deinen Patriotismus, für dein Land, für deine Heimat.

Für deine Leute, die Andalusien verlassen mussten,

nach Katalonien gingen und noch heute dort leben.

Aber wie traurig, kleiner Spanier, dass du nicht dieselbe Wut empfunden hast,

als all die jungen Menschen, exilierte Spanier, die Grenze überqueren mussten (Krise 2008-heute).

Und wie schade, dass es dir an Patriotismus fehlt, um auf die Straße zu gehen

und gegen eine unverschämte Regierung zu kämpfen, die so viele Arbeiter ins Unglück gestürzt hat.

 Aber mach weiter so, schwenk weiter unermüdlich Fahnen für die Einheit des Territoriums deines Spaniens,

obwohl dein Spanien seinen eigenen Hunger wiederkäut,

Mach weiter, aber ich muss dir etwas sagen, obwohl es dir wehtut:

Im Grunde ist das Neid, der in deinem Inneren kocht, weil sie so für ihr Katalonien kämpfen,

wie du es in deinem ganzen Leben noch nicht für dein Spanien getan hast.“


Um wieder Ruhe ins separatistische Lager zu bringen, verzichtete Puigdemont am 1. März 2018 auf seine Kandidatur und schlug stattdessen Jordi Sànchez als Präsidentschaftskandidaten vor. Zwar war Sànchez in U-Haft, aber da seine politischen Rechte noch intakt waren, hätte der Richter ihm erlauben müssen, nach Barcelona zu reisen (wenn der Richter will, in Polizeibegleitung), um sich der Parlamentsdebatte und der Abstimmung zu stellen. Außerdem gab es bereits einen Präzedenzfall: Juan Carlos Ioldi – ehemaliges ETA-Mitglied, der seit 1985 in Untersuchungshaft saß – war 1986 als Abgeordneter für Herri Batasuna (links-separatistische Partei, die später wegen ihrer mutmaßlichen Nähe zur ETA verboten wurde) ins baskische Parlament gewählt und zum Präsidentschaftskandidaten ernannt worden. Der Richter erlaubte ihm – von der Polizei eskortiert – im Parlament zu erscheinen und sich der Abstimmung zu stellen. Direkt danach kehrte er ins Gefängnis zurück. Er verlor die Abstimmung zwar und musste 1988 sein Mandat abgeben, weil er zu 25 Jahren Haft wegen ETA-Mitgliedschaft und Sabotage-Akten an Bahngleisen verurteilt wurde, aber es wird deutlich, dass auch seine politischen Rechte intakt waren, solange er nicht rechtskräftig verurteilt worden war. Außerdem hatte die Kandidatur von Jordi Sànchez einen entscheidenden Vorteil für die Unabhängigkeitsbefürworter: sollte der Richter verbieten, dass Sànchez im Parlament vorstellig wird, konnte man mit dem Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen und den Richter sogar wegen Rechtsbeugung anklagen.

Und tatsächlich verbot Llarena, dass Sànchez im Parlament erscheint. Auch das Verfassungsgericht bestätigte am 7. März, dass Sànchez in Haft bleiben muss. Seit 5 Monaten saßen er und Jordi Cuixart mittlerweile in Untersuchungshaft in Madrid, obwohl Amnestie International mehrmals forderte, den Vorwurf wegen Aufruhr (Sedición) fallen zu lassen und die beiden aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Das wurde ignoriert. Mehr noch, nur wenige Tage später legte die Staatsanwaltschaft noch einen drauf, und erhöhte den Vorwurf von „Aufruhr“ auf „Rebellion“. Ähnliches passierte mit Josep Lluís Trapero (Polizeichef/Major der Mossos d’Esquadra) bei der Audiencia Nacional: statt „Aufruhr“, lautete der Vorwurf jetzt „Rebellion“. Derjenige, der durch seine Professionalität, sein Engagement, sein schnelles Handeln und seine Besonnenheit nach den Attentaten in Barcelona und Cambrils (August 2017) zum Helden der Katalanen geworden war — denn er war da, als der spanische Staat nicht präsent war — wird jetzt einer Straftat bezichtigt, für die er 30 Jahre ins Gefängnis gehen kann. Wegen eines ausgedachten Polizeiberichts der Guardia Civil, den er bei seiner Anhörung komplett auseinander nehmen konnte, da nichts von dem, was im Bericht stand, stimmte.

Wenige Tage, nachdem der Richter Llarena verboten hatte, dass Jordi Sànchez persönlich im katalanischen Parlament erscheint, forderte das Menschenrechtskomitee der UNO von Spanien, die politischen Rechte von Sànchez zu garantieren. Doch auch diese Forderung stieß auf taube Ohren: Llarena ließ Sànchez in Haft. Seine Begründung? Weil er „immer noch ein Unabhängigkeitsbefürworter war“. Eine rein politische Begründung, die auf keinerlei juristisch relevanten Tatsachen beruht. Denn die politische Meinung sollte in einer Demokratie kein Haftgrund sein. Da Sànchez keine Möglichkeit hatte, zum Präsidenten der Generalitat gewählt zu werden, zog er seine Kandidatur zurück. An seine Stelle rückte nun Jordi Turull, ehemaliger Regierungssprecher der Regierung Puigdemonts, der zwar auch wegen Rebellion angeklagt ist, der aber von Llarena am 4. Dezember 2017 unter Auflagen aus der U-Haft entlassen worden war.

Theoretisch sprach nichts dagegen, dass Turull nun am 22. März 2018 vom Parlament zum Präsidenten gewählt wird. Doch die antikapitalistische CUP, von der die Wahl abhing, weigerte sich, ihn zu unterstützen, da er für sie (und auch für CatComú-Podem) zu sehr mit der alten Partei Convergència verbunden war (seit 1983 Parteimitglied und seit 2006 durchgehend Abgeordneter im katalanischen Parlament), die ja in der Zwischenzeit wegen illegaler Partei-Finanzierung in die Schlagzeilen geraten und in Folge dessen aufgelöst worden war. Besonders für CatComú-Podem und die CUP war Turull eigentlich unwählbar, da er 2014 (damals Pressesprecher und Fraktionsvorsitzender von CiU) als einer der Hauptbelastungszeugen im Prozess gegen 20 Demonstranten der Protestbewegung 15-M ausgesagt und ihnen vorgeworfen hatte, einen „verdeckten Staatsstreich“ gewollte zu haben (tausende Demonstranten hatten im Juli 2011 die Zufahrt zum Parlament blockiert, damit die Abgeordneten nicht den Haushaltsplan, der das größte Sparprogramm seit dem Ende der Diktatur beinhaltete, verabschieden können). 8 der Angeklagten wurden zu drei Jahren Gefängnis verurteilt.  Außerdem erklärte die CUP, dass das Programm, mit dem Turull sich zur Abstimmung stellte, nicht sozial genug war und zu wenig auf dem Erlangen der Unabhängigkeit beharrte.

Allerdings war letzteres verständlich: Turull war immer noch angeklagt und musste am folgenden Tag, am 23. März, vor dem Richter Llarena erscheinen. Alles, was er sagte, konnte später gegen ihn verwendet werden. Dementsprechend angespannt, verunsichert und nichtssagend fiel auch seine Rede im Parlament aus. Man merkte ihm an, dass er wusste, dass er am nächsten Tag erneut inhaftiert werden würde. Doch die Mitgliederversammlung der CUP hatte bereits eine Entscheidung gefällt: die vier Abgeordneten der CUP würden sich enthalten. Und so kam Turull nicht auf die nötigen 68 Stimmen (64, von JuntsxCat und ERC; es fehlten noch die Stimmen von Puigdemont und Comín, die in Brüssel waren, ihre Stimme aber nicht hatten delegieren dürfen). Theoretisch hätte in zwei Tagen eine zweite Abstimmung stattgefunden, bei der Turull dann nur eine einfache Mehrheit gebraucht hätte; doch es war mehr als unklar, ob er daran teilnehmen können würde. Das Klima im Parlament war sehr angespannt, besonders, weil sich nach der missglückten Abstimmung alle separatistischen Abgeordneten von den vorgeladenen Abgeordneten im Parlament mit Umarmungen und unter Tränen verabschiedeten. Alle wussten, dass sie für längere Zeit nicht zurückkommen würden.

Am 23. März erschienen dann Jordi Turull, Josep Rull, Dolors Bassa, Raül Romeva und Carme Forcadell im Obersten Gerichtshof in Madrid (Tribunal Supremo). Bassa und Forcadell waren bereits am Vorabend als Abgeordnete zurückgetreten, wohl um dem Richter weniger „Gründe“ für die U-Haft zu geben (ohne im Parlament zu sein, war eine Wiederholungsgefahr ja ausgeschlossen). Doch das half nichts: alle fünf mussten ins Gefängnis und gesellten sich so zu Jordi Sànchez und Jordi Cuixart (seit Oktober 2017 in U-Haft), Oriol Junqueras und Joaquim Forn (seit November 2017 in U-Haft). Marta Rovira, Generalsekretärin von ERC, die zwar auch vorgeladen war, erschien nicht zum Termin, weil auch sie sich – zusammen mit ihrem Mann und ihrer gemeinsamen Tochter – in die Schweiz begeben hatte. Allerdings trat auch sie als Abgeordnete zurück, um die Parlamentsmehrheit zu halten. Damit waren nun 9 Personen in U-Haft und 7 im Exil (Puigdemont, Puig, Serret und Comín in Brüssel, Ponsatí in Schottland, Gabriel und Rovira in der Schweiz). Am Abend des 23. März kam es überall in Katalonien zu Massenprotesten gegen die Inhaftierungen. Die verbreitetsten Rufe waren „Llibertat presos polítics“ (Freiheit für die politischen Gefangenen) und „Us volem a casa“ (Wir wollen euch Zuhause).

Die für den 24. März geplante zweite Abstimmung wurde abgesagt und stattdessen ein Plenum anberaumt, bei dem sowohl JuntsxCat, ERC und die CUP als auch CatComú-Podem die Inhaftierungen verurteilten, ihre Solidarität mit den Inhaftierten verkündeten und die Haltung des Staates, der Justiz und der Zentralregierung heftig kritisierten. Der Versuch von CatComú-Podem auch den PSC ins Boot zu holen, um gemeinsam gegen die Repression zu kämpfen, scheiterte; der PSC stellte sich wieder in eine Reihe mit Ciudadanos und PP (die PP-Abgeordneten verließen das Parlament; die Abgeordneten von Ciudadanos und PSC weigerten sich demonstrativ, den Familienangehörigen der Inhaftierten, die im Parlament anwesend waren, ihre Solidarität auszusprechen).

Doch am nächsten Tag passierte etwas, mit dem die wenigsten gerechnet hatten: Carles Puigdemont wurde in Deutschland verhaftet. Wie war es dazu gekommen? Puigdemont, der sich ja frei in Europa bewegen konnte, war nach Finnland gereist, um dort vor dem finnischen Parlament zu sprechen (er war von mehreren Parlamentariern eingeladen worden) und an der Universität Helsinki eine Konferenz abzuhalten. Am 23. März hatte Llarena den europäischen Haftbefehl für alle Exilanten wieder aktiviert, sodass sich Puigdemont mit dem Auto auf den Weg nach Brüssel machte, um bei der dortigen Polizei vorstellig zu werden (da dies jetzt sein Wohnort war). Doch nur wenige Kilometer hinter der dänisch-deutschen Grenze wurde er dann verhaftet und ins Gefängnis von Neumünster gebracht. Wie war das möglich? Woher wusste die deutsche Polizei, wann er kommen würde? Alles spricht dafür, dass er vom spanischen Geheimdienst CNI überwacht wurde (u.a. fand man einen spanischen GPS-Sender am Auto von Puigdemont und bis zu acht weitere Abhörgeräte bzw. Geolokationssoftwares). Die spanische Regierung dementierte es nicht und erklärte die mutmaßliche Spionage zum Staatsgeheimnis. Aber sowohl in Belgien als auch in Finnland und Deutschland war man sehr beunruhigt darüber, da sowas illegal ist. Der Bundestag z.B. veröffentlichte einen Bericht, in dem sie klar stellten, dass ausländische Geheimdienste auf deutschen Boden nichts verloren hätten, und in Belgien hat die Staatsanwaltschaft Ermittlungen eingeleitet.

Die anderen Exilanten stellten sich in Brüssel und Edinburgh den dortigen Behörden zur Verfügung, wurden aber alle wenige Stunden später ohne Auflagen wieder freigelassen. Die Straßen in Katalonien kochten: sowohl die ANC und Òmnium Cultural als auch die CDRs riefen zu Demonstrationen, Mahnwachen und Protesten auf. In der Nacht kam es zu Zusammenstößen mit den Mossos, weil Mitglieder der CDRs versuchten, bis vor die Spanische Regierungsvertretung (Delegación del Gobierno) in Barcelona vorzurücken; diese war allerdings von den Mossos umstellt worden, um zu verhindern, dass dort demonstriert wird. Manche Mossos rasteten ziemlich aus; manche versuchten, Demonstranten umzufahren und andere jagten Demonstranten durch die Straßen. Es gab insgesamt 55 Verletzte. Die großen Hauptstadtmedien titelten am nächsten Tag „Danke Deutschland“ (sogar auf Deutsch) und fast alle konservativen und rechten Politiker Spaniens twitterten Dankesreden, Bilder mit deutschen und spanischen Flaggen und Sätze wie „die Deutschen sind rechtschaffene Bürger“, „auf Deutschland kann man sich verlassen“ oder „in Deutschland wird die Rebellion noch stärker bestraft“. Diese Euphorie sollte nicht allzu lange anhalten.

Am 5. April wurde Puigdemont auf Kaution freigelassen, weil das Oberlandesgericht in Schleswig den Vorwurf der Rebellion nicht akzeptierte („die Auslieferung wegen Rebellion erweist sich als von vornherein unzulässig“). Allerdings ließ das OLG offen, ob Puigdemont wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder ausgeliefert werden kann, da man dafür noch mehr Informationen brauchte. Llarena schickte tausende Unterlagen, um dies zu beweisen, doch sowohl Rajoy als auch der spanische Finanzminister Montoro erklärten öffentlich, dass „kein Cent aus der öffentlichen Kasse für das Referendum ausgegeben worden war“. Und sie mussten das ja wissen, schließlich kontrollierte die Zentralregierung die Ausgaben der Generalitat seit 2015. Und seit September 2017 konnte die Generalitat keinen Cent ausgeben, ohne vorher das „Ok“ von Madrid bekommen zu haben. Was genau die beiden dazu veranlasste, sich gegen die Behauptungen des Richters und der Guardia Civil zu stellen, weiß man nicht, aber es scheint vieles dafür zu sprechen, dass Rajoy vor hatte, die Spannungen mit Katalonien etwas zu verringern; doch er hatte die „Bestie“ (die Justiz) bereits losgelassen, womit die Möglichkeit einer politischen Lösung des Konfliktes in weite Ferne rückte. Denkbar wäre jedoch auch, dass Rajoy und Montoro ihre eigene Haut retten wollen: Wären nämlich tatsächlich öffentliche Gelder von der Generalitat für das Referendum verwendet worden, könnte Montoro mitverantwortlich sein, da er ja die Finanzen der Generalitat überwacht hatte. 

Solange das OLG also nicht über die Auslieferung entschied, war Puigdemont in Deutschland ein freier Mann (durfte Deutschland nicht verlassen und musste sich einmal pro Woche bei der Polizei melden). Für die rechten Medien und Politiker in Spanien war das ein Schlag ins Gesicht. Von einem Tag auf den anderen verschwanden die Deutschland-Fahnen von den Twitter-Profilen, und die großen Medien (allen voran die rechte ABC, meistgelesene Zeitung Madrids) begannen, mit Verschwörungstheorien und Beleidigungen um sich zu werfen. „Die europäische Justiz unterstützt die Putschisten“, „Deutschland zeigt Spanien den Mittelfinger“ oder „Die spanische Justiz muss Deutschland die Stirn bieten“ waren nur einige der Schlagzeilen auf den Titelseiten. Für sie war es unverzeihlich, dass ein „Regionalgericht“ bzw. „Provinzialgericht“ nicht das tat, was vom Obersten Gerichtshof Spaniens verlangt wurde. Am weitesten ging allerdings der Journalist und Radiomoderator Federico Jiménez Losantos in seiner Radioshow, in der er dazu aufrief, bayrische Biergärten in die Luft zu sprengen; in der er davon sprach, dass „wir auf Mallorca 200.000 deutsche Geiseln haben“ und dass die Gerichtsentscheidung ein „rassistischer Akt“ gewesen sei, „typisch für jenen evangelischen Rassismus gegenüber den Katholiken“. Von diesem Herrn kennt man aber auch nichts anderes; im Jahr 2016 sagte er z.B. dass er Errejón, Bescansa und Maestre (von Podemos) erschießen würde, wenn er seine Lupara (abgesägte Flinte/Wolfstöter) dabei hätte, und nur kurze Zeit nach dem Bierzelt-Diskurs forderte er die Zentralregierung dazu auf, Barcelona zu bombardieren. Aber diese Reaktion der spanischen Rechten ist symptomatisch. Anstatt sich selbst mal kritisch zu hinterfragen, hatte sich mal wieder die ganze Welt gegen Spanien verschworen. Auch Franco sprach von einer Weltverschwörung gegen Spanien.



Vormarsch des Rechtsextremismus und wachsende Repression

In diesem Zusammenhang sind auch die sogenannten GDRs (Grupos de Defensa y Resistencia – ‘Gruppen zur Verteidigung und des Widerstands’) zu nennen, die sich in Anlehnung an die CDRs diesen Namen gaben. Andere Gruppen nennen sich CBL (Cuerpos de Brigada de Limpieza – ‘Säuberungskommandos’) oder Segadores del Maresme (Schnitter des Maresme), aber eigentlich unterscheiden sie sich nicht voneinander. In den Hauptstadtmedien wurden sie gehypt, die „guten Katalanen wehren sich“! Was taten sie? Sie entfernten die gelben Schleifen, die die Menschen seit Monaten überall in Katalonien anbrachten, um ihre Solidarität mit den Gefangenen und Exilanten kundzutun. Davon fühlten sich einige so angegriffen, dass sie durch fremde Dörfer liefen, um sie wieder abzureißen.

Anfangs waren es – wie weiter oben beschrieben – nur einzelne Menschen, die Schleifen abrissen und Menschen bedrohten; jetzt waren es organisierte Gruppen. Aber die GDRs/CBL (der Einfachheit halber ab jetzt GDRs) treten nicht als normale Bürger auf; denn sie sind auch keine. Entweder mit weißen Einweg-Overalls bekleidet oder komplett in schwarz und vermummt, mit Cuttern, Scheren, Leitern, und Messern bewaffnet, durchstreifen sie in der Dunkelheit der Nacht die Innenstädte und Dörfer, um „die Straßen zu säubern“. Stolz präsentieren sie dann ihre „Beute“ – die gelben Schleifen – in Müllsäcken und laden das Bild in den sozialen Netzwerken hoch. Und es sind nicht wenige Medien – egal ob online, Print oder TV – die sie dann als Retter der guten Katalanen inszenieren. „Gute Katalanen“, die dutzende Kilometer durchs Land fahren, um in fremden Dörfern gelbe Schleifen abzureißen. Nicht selten kommt es bei ihren Aktionen zu gewaltsamen Zwischenfällen, wenn Passanten oder Anwohner versuchen, sich ihnen in den Weg zu stellen. Faustschläge, Tritte – auch ins Gesicht -, Beleidigungen, Drohungen…ist alles schon passiert. Bei einer Aktion in Manresa wurden 7 Menschen durch GDRs verletzt. In Vic fuhr einer sogar mit seinem Auto auf den Hauptplatz, um mit Vollgas die dort aufgestellten gelben Kreuze umzufahren (dabei überfuhr er fast zwei Passanten). Es gab schon über 100 Übergriffe. Die Hauptstadtmedien verkauften das Phänomen als spontane Protestaktionen „besorgter Katalanen“, doch man brauchte nicht lange zu suchen, um herauszufinden, wer dahinter steckte.

Finanziert werden sie vor allem von rechtsextremen Parteien und Vereinen, allen voran Vox und Somatemps. Aber auch die Neofaschisten von Democracia Nacional, Falange und Plataforma per Catalunya mischen mit. Als privater Unterstützer tritt vor allem José Manuel Opazo auf, ein spanischer Unternehmer, der in der Schweiz lebt und sehr rechts-nationalistisch ist. Ihm ist es u.a. zu verdanken, dass Swiss-Air auf ihren Flügen nach Barcelona keine Ansagen mehr auf Katalanisch macht (er hatte einen öffentlichen Beschwerdebrief im Namen seiner damaligen Partei UPyD verfasst, der in den großen Zeitungen veröffentlicht wurde, und in dem er sich in anmaßender Weise als Generalsekretär von UPyD ausgab; er war aber bloß ein Parteimitglied ohne Amt).

Alle „Gruppenanführer“ sind katalonienweit wegen ihrer Mitgliedschaft in diesen rechtsextremen Parteien und Organisationen bekannt. Auch die Angreifer sind hauptsächlich polizeibekannte Schläger aus dem rechtsextremen Milieu, die in der polarisierten Stimmung eine Chance sehen, um ihren Hass ungesühnt ausleben zu können. Am Ende sind die GDRs nichts anderes als ein koordinierteres Auftreten derselben ca. 100 Rechtsextremisten, Neofaschisten und Neonazis, die man seit Jahren auf anti-katalanischen, pro-franquistischen oder spanisch-nationalistischen Demonstrationen und Ausschreitungen gesehen hat. Es wurden allerdings auch einige Guardias Civiles und Stadträte von Ciudadanos bei den GDR-Aktionen identifiziert. Wenn man dann im spanischen Fernsehen sieht, wie sie gefeiert werden, als wären es normale Bürger, fühlt man sich wie im falschen Film. Und als Ciudadanos dann anfing, sie zu verteidigen, mit ihnen Demonstrationen zu veranstalten und lächerliche Auftritte im katalanischen Parlament hinzulegen (z.B. das demonstrative Entfernen von gelben Schleifen, die sich auf den Sitzen der Abgeordneten befanden, die im Gefängnis oder im Exil waren), war die Legitimation und die Schönfärberei (Whitewashing) perfekt. Doch die Allianz von Ciudadanos mit den Rechtsextremen hielt nicht lange: bei einer gemeinsam organisierten Demonstration im August kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Politikern von Ciudadanos, Vox und Democracia Nacional. Außerdem kam es bei der Demo zu einem tätlichen Angriff auf einen Kameramann von TeleMadrid; doch man entschuldigte sich: Man hatte gedacht, er wäre von TV3. Dann ist ja alles gut. Mittlerweile werden die „Schleifen-Abreißer“ in Zentralkatalonien (besonders Manresa und Balsareny) und Tarragona von Vox kontrolliert, und die im Umland von Barcelona (Baix Llobregat, Maresme, Garraf) von Plataforma per Catalunya. Das hielt Ciudadanos aber nicht davon ab, weiterhin Videos zu veröffentlichen, in denen sie selber gelbe Schleifen abreißen, „um die Neutralität des öffentlichen Raums zu wahren“.

Aber der öffentliche Raum ist nicht neutral, und war es auch noch nie. Weil die Gesellschaft nicht neutral ist. Der öffentliche Raum muss pluralistisch sein, d.h. vielseitig, divers, vielfältig. Seit jeher manifestieren die Menschen ihre politischen, gesellschaftlichen oder sogar privaten Forderung im öffentlichen Raum. Sei es durch Plakate, Spruchbänder, Banner, Flaggen, Graffitis oder Symbole. Neutralität im öffentlichen Raum zu fordern ist autoritär, denn anstatt über die Nutzung des Raums zu diskutieren und darüber, was es heißt, das Recht auf freie Meinungsäußerung zu leben – und auch das Recht der anderen zu respektieren, nicht deiner Meinung zu sein – versucht man die Meinungsäußerung einer Gruppe einzuschränken. Denn es geht ja nur um die Unabhängigkeitsbefürworter (die von ihnen gerne als „separratas“ [Mischung aus separata – ‘abwertend für Separatist’ und rata – ‘Ratte’] oder lazis“ [Mischung aus lazos – ‘Schleifen’ und nazis – ‘Nazis’] bezeichnet werden); niemand hat bisher die Plakate von Greenpeace, Spanien-Flaggen, Werbeplakate oder Graffitis von Nachbarschaftsvereinen in Frage gestellt. Aber für Ciudadanos und PP (und für den ganzen braunen Sumpf, der sich hinter ihnen versteckt) sind die gelben Schleifen oder Plakate mit der Aufschrift „Democràcia“ Symbole der Separatisten. Ich weiß nicht, ob sie es einfach nicht besser wissen oder ob sie es willentlich verschweigen (eigentlich weiß ich es schon, jedoch ist es schwer, sich eingestehen zu müssen, dass es Menschen gibt, die einfach nur wehtun wollen), aber diese Symbole gehören keiner Ideologie. Ja, viele Separatisten tragen eine gelbe Schleife an der Jacke oder hängen sich ein Plakat an den Balkon. Und es sind vor allem Unabhängigkeitsbefürworter, die gelbe Schleifen in der Öffentlichkeit anbringen. Aber es gibt auch viele, die keine Separatisten sind, und die trotzdem eine gelbe Schleife tragen.

Denn für die Mehrheit der katalanischen Bevölkerung ist die Inhaftierung der Politiker und der beiden Jordis ungerechtfertigt, und für viele nur schwer erträglich (fast 80% sind gegen die U-Haft, selbst 45% der Ciudadanos-Wähler). Die Schleifen sind eine Erinnerung daran, dass man in Katalonien gerade anormale, außergewöhnliche und demokratisch gesehen mehr als fragwürdige Zeiten durchlebt. Eine Erinnerung daran, dass zwei Vertreter der Zivilgesellschaft, zwei Menschenrechtler und anerkannte Pazifisten, seit über einem halben Jahr in U-Haft sitzen (Stand Januar 2019: seit über 14 Monaten) und bis zu 30 Jahre ins Gefängnis gehen könnten, weil sie bei einer Demonstration als Vermittler tätig waren. Eine Erinnerung daran, dass eine demokratisch gewählte Regierung abgesetzt und inhaftiert wurde, weil sie ihr Wahlprogramm, das von niemandem bemängelt worden war, umgesetzt hatte. Die gelben Schleifen an Brücken, Zäunen, Ampeln oder Laternen können einem gefallen oder nicht – ich persönlich finde viele Aktionen ziemlich unästhetisch und diskutabel, besonders diejenigen, wo Plastikschleifen verwendet werden – aber die Situation, die damit angeprangert wird, empfinde ich als unerträglich. Allerdings haben Teile der Unabhängigkeitsbewegung bereits begonnen, sich neue Strategien zu überlegen, um den öffentlichen Raum für ihre Forderungen zu nutzen, ohne, dass andere Teile der Gesellschaft dies als zu invasiv empfinden. Rechtlich gesehen haben die GDRs natürlich das Recht, die Schleifen abzureißen (solange sie sich nicht an Privateigentum vergehen, wie sie es oft tun), denn auch das ist wohl freie Meinungsäußerung (die Diskussion darüber in Katalonien ist ziemlich groß, die einen sagen, es sei freie Meinungsäußerung, die anderen, es sei die Unterdrückung der freien Meinungsäußerung). Moralisch und menschlich gesehen sehe ich aber einen großen Unterschied zwischen jemandem, der ein Solidaritätssymbol anbringt, und jemandem, der dieses wieder abreißt. 

In dieser polarisierten Stimmung fand das rechte Lager ein neues Zielobjekt: die katalanische Schule. Seit den 80ern, als angefangen wurde, in den öffentlichen Schulen Kataloniens das Katalanische als Hauptunterrichtssprache einzuführen, ist das katalanische Schulsystem eine beliebte Zielscheibe der spanischen Nationalisten. Die katalanischen Kinder würden kein Spanisch lernen – und wenn, dann nur als Fremdsprache – die Kinder würden wegen der Immersion „psychisch krank“, die katalanische Schule „fabriziere“ Separatisten und indoktriniere kleine Kinder im Spanien-Hass. Beweisen konnte man diese absurden Anschuldigungen aber natürlich nie. Tatsächlich stimmt nichts davon, mehr noch, im Jahr 2007 führte die EU-Kommission das katalanische Schulmodell als Beispiel einer gelungenen mehrsprachigen Erziehung an. Die sprachliche Immersion – also die Verwendung des Katalanischen als Hauptverkehrssprache während der gesamten Schulbildung – wurde 1983 einstimmig vom katalanischen Parlament beschlossen (Llei de Normalització lingüística; nur eine Enthaltung) und 1998 mit großer Mehrheit aktualisiert (Llei de Política Lingüística; 76% dafür, PP und ERC stimmten dagegen, weil der PP das Gesetz zu weit ging und ERC nicht weit genug; d.h. 87% des Parlaments war indirekt für das Gesetz, auch wenn ERC ein weitreichenderes wollte).

Was hat die Immersion gebracht? Vor allem sozialen Zusammenhalt (Cohesió social) – einem der Hauptbestandteile des katalanischen Schulsystems – und eine nicht unwichtige Trendwende: konnten 1983 nur 53% der Bewohner Kataloniens Katalanisch sprechen (aufgrund der großen spanischsprachigen Binnenmigration zwischen 1960 und 1980, fast 40% der damaligen katalanischen Bevölkerung war außerhalb Kataloniens geboren worden), sind es mittlerweile 80% (2013). Spanisch sprechen übrigens 99,7%. Und auch die Behauptung, die katalanischen Schüler würden kein Spanisch lernen, wurde unzählige Male widerlegt: sowohl bei den PISA-Studien als auch bei den Uni-Aufnahmeprüfungen (Selectividad/PAU) erzielen die katalanischen Schüler in „Spanische Literatur und Sprache“ regelmäßig bessere Noten als der spanische Durchschnitt und viele einsprachige Autonome Gemeinschaften. Bei der letzten PISA-Studie (2015) lag Katalonien sogar sowohl über dem EU-Durchschnitt als auch über dem spanischen Durchschnitt. Beim Vergleich der Abschlussprüfungen wird zudem deutlich, dass die katalanischen Schüler am Ende der Schulzeit in Katalanisch und Spanisch gleich gut sind (Hauptziel der Immersion; im Spanischen oft sogar noch etwas besser als im Katalanischen). Im Jahr 2010 entschied das Verfassungsgericht, dass die Generalitat garantieren müsste, dass die Eltern, die ihre Kinder auf Spanischen unterrichtet haben wollen, dieses Recht wahrnehmen können. Diese Eltern konnten sich seitdem beim Bildungsministerium melden, das ihren Fall prüfte und dann entschied, ob es ihnen 6.000€/Jahr gab, um ihr Kind in einer Privatschule anzumelden. Dieses Geld wurde der Generalitat dann von ihrer Finanzierung abgezogen. Der Aufschrei in Katalonien war groß, die Folgen allerdings minimal: nur zwischen 20 und 40 Familien forderten jährlich dieses Recht ein. Von insgesamt über 800.000 Schülern. Die Katalanen sind eben in der großen Mehrheit mit ihrem Schulsystem zufrieden.

Immer wieder hört man auch von Schulbüchern, in denen die „Geschichte manipuliert“ wird. Da soll manchmal von der „Katalanisch-aragonesischen Krone“ statt von der „Krone Aragoniens“ die Rede sein, oder Katalonien zusammen mit den anderen katalanischsprachigen Ländern auf einer Karte auftauchen, als seien sie unabhängig. Außerdem benutze man für die katalanischsprachigen Länder den Begriff Països Catalans, was „pankatalanistisch“ sei. Das kann sein, aber, dass es solche Schulbücher auf dem Markt gibt, heißt noch lange nicht, dass sie auch benutzt werden. Jeder Lehrer hat hunderte Bücher zur Auswahl, und nur 2/3 benutzen Schulbücher im Unterricht. Außerdem werden Schulbücher immer unwichtiger, da die Lehrer heutzutage viel mehr mit digitalen Medien und Projekten arbeiten. Und das mit den katalanischsprachigen Ländern? Die Bilder, die „zum Beweis“ angeführt wurden, belegen deutlich, dass die Karte kein politisches Gebilde zeigte, sondern nur aufzeigte, wo überall Katalanisch gesprochen wird. Und das ist nichts verwerfliches. Auch die anderen Kontexte, in denen der Begriff Països Catalans in manchen Büchern angeblich politisch gebraucht wird, zeigen deutlich, dass immer von einem kulturellen und sprachlichen Rahmen die Rede ist und nie von einer politischen Einheit.

Ich weiß, dass viele sich wünschen, in Katalonien würde man den Kindern beibringen, dass die spanische Nation seit Jahrtausenden existiert (wie z.B. das Buch „Historia de España: 800.000 a.C. a 2001 d.C. Guía imprescindible para jóvenes“/ „Geschichte Spaniens: von 800.000 v. Chr. bis 2001 n. Chr. Ein unverzichtbarer Wegweiser für die Jugend“ von Ricardo de la Cierva, einem neofaschistischen Geschichtsrevisionisten, Professor an mehreren Unis und 1980 kurzzeitig spanischer Kulturminister, der die „Geschichte“ der spanischen Nation von den Urmenschen von Atapuerca bis zur Regierung Aznars beschreibt, als wäre es das normalste der Welt); dass Spanien ein tolles Imperium war, das mit allen Menschen in der Welt gut umging; dass man Loblieder auf jeden spanischen König singt und die Reconquista und die Kolonialisierung verherrlicht; dass man sagt, Katalonien wäre nur eine Grafschaft des Königreichs Aragonien gewesen (von rechten Kreisen werden gerne die Begriffe „Königreich“ und „Krone“ verwechselt, was vollkommen falsch ist); dass der Spanische Bürgerkrieg ein „Krieg zwischen Brüdern“ war und nicht das Ergebnis eines bewaffneten Militärputschs der Faschisten; und dass die Franco-Diktatur doch nicht ganz so schlimm war, wie viele behaupten (wie es z.B. einige spanische Schulbücher tun, in denen steht, dass „Antonio Machado mit seiner Familie nach Frankreich auswanderte“ — er floh vor Francos Truppen und starb kurz danach — oder dass Federico García Lorca „in der Nähe seines Dorfes starb“; als wäre er einfach friedlich in seinem Bett eingeschlafen und nicht von faschistischen Milizen hingerichtet worden; bis heute weiß niemand, wo sein Körper verscharrt ist). Aber das wäre Geschichtsrevisionismus und um einiges manipulativer und falscher als von einer katalanisch-aragonesischen Krone zu sprechen; was zwar geschichtlich falsch ist (niemand nannte die Krone damals so), aber der Realität um einiges näher kommt, weil das politische und wirtschaftliche Zentrum dieser Krone eben das Fürstentum Katalonien war, und nicht das Königreich Aragonien. Dass ca. 40% der Lehramtsstudenten in Spanien nicht wissen, dass während der Diktatur Menschen hingerichtet wurden (über 50.000 allein zwischen 1939 und 1946), sagt – glaube ich – alles. 

Was war jetzt der Skandal? Am 2. Oktober – also am Tag nach den Ereignissen des 1-O – wurde in fast allen Schulen Kataloniens über die Ereignisse des Vortags gesprochen. Zehntausende Schüler hatten die Nachrichten gesehen; viele hatten mit ihren Eltern gesprochen und manche hatten sie sogar zum Referendum begleitet; und viele kamen in eine Schule, wo die Türen und Klassenräume von der Polizei zerstört worden waren. Es musste darüber gesprochen und diskutiert werden. Viele Lehrer entschieden zudem, den Unterricht am 2. Oktober für 10 Minuten zu unterbrechen: die Lehrer legten dann im Lehrerzimmer eine Schweigeminute ein, während die Schüler eine zusätzliche Pause hatten. Allein das war für viele im Rest Spaniens schon ein Skandal. An zwei Schulen hatte das aber ein Nachspiel: mehrere Familien von Guardias Civiles erstatteten Anzeige wegen Hassverbrechen gegen mehrere Lehrer. Laut ihrer Aussage sollen die Lehrer sich negativ über die Guardia Civil geäußert und die Kinder von Guardias Civiles diskriminiert haben. Die Mitschüler und Lehrer bestreiten das. Besondere mediale Aufmerksamkeit erhielt der Fall von Sant Andreu de la Barca, einer Kleinstadt in der Nähe von Barcelona, in der sich die größte Kaserne der Guardia Civil befindet (200 Familien). Ca. 40 dieser Familien haben Kinder in der Sekundar- bzw. Oberschule IES El Palau, direkt gegenüber der Kaserne, in der insgesamt über 1.200 Schüler unterrichtet werden. Noch nie gab es dort Probleme, weil der Lehrkörper dort besonders auf das Zusammenleben achtete. Auch die meisten Guardia Civiles des Ortes bestätigen das. Aber vier Familien gingen zur Polizei, erstatteten Anzeige und Ende April 2018 erhob die Staatsanwaltschaft dann Anklage gegen 9 Lehrer des Palau wegen Hassverbrechen. Keines der vermeintlichen Opfer ging zur Schule, um mit den Lehrern oder der Schulleitung über die vermeintlichen Kommentare der Lehrer zu sprechen; sie gingen direkt zur Polizei. Und am Tag darauf veröffentlichte El Mundo – die zweitgrößte Zeitung Spaniens – auf der Titelseite die Fotos und die vollständigen Namen der beschuldigten Lehrer. Der Titel: Die Lehrer der Schande. Verschwunden ist die Unschuldsvermutung, das Recht auf Privatsphäre.

Nur wenige Stunden später teilte Albert Rivera – Parteichef von Ciudadanos – den Artikel auf Twitter und die Hysterie war angerichtet. Separatistische Lehrer, die die Kinder indoktrinieren, die schutzlose Kinder von Guardias Civiles diskriminieren, Hass verbreiten. Katalonien ist voller Hass. Ein Guardia Civil, Bartolomé Barba, der Anzeige erstattet hatte und der seine rechte Gesinnung kaum verstecken kann, erschien in jeder Talkshow, in jedem spanienweiten Fernsehprogramm und erzählte seine Version; während die Schulbehörde die Lehrer zum Schweigen verdonnerte. Die Medien belagerten die Schule Tag und Nacht, verfolgten die Schülerhielten ihnen Mikrophone unter die Nase und forderten sie auf, über die Indoktrination, den Hass und die Diskriminierung zu sprechen. Einfach nur ekelhaft. Übrigens, keiner der befragten Schüler bestätigte die Vorwürfe und selbst die zuständige Stadträtin für Bildung von Sant Andreu de la Barca – von Ciudadanos – verurteilte diese Hexenjagd vehement. Und eines Morgens erwachten die Schulwände dann vollgesprayt mit Wörtern wie „Nazis“, „Separatisten“, „Ratten“ und den Namen der Lehrer. Manche der Lehrer erhielten Morddrohungen, das Auto einer ERC-Politikerin wurde zerstört und viele der angeklagten Lehrer ließen sich krankschreiben, weil sie mit der Situation nicht mehr klar kamen. Und wofür wurde das friedliche Zusammenleben geopfert? Was hat das gebracht? Nichts. Die Anklage wurde fallen gelassen. Auch die Anklage gegen 8 Lehrer aus La Seu d’Urgell wurde fallen gelassen. Reaktionäre Kräfte zerstören das Leben der Lehrer, die jetzt teilweise mit Depressionen und Angstzuständen zu kämpfen haben, und das Zusammenleben in den Schulen (viele Lehrer trauen sich nicht mehr über Politik zu sprechen), und ihnen passiert nichts. Mehr noch, die Hauptstadtmedien geben ihnen eine riesige Plattform, um gegen Katalonien, die Katalanen, die katalanische Schule und gegen unschuldige Menschen zu hetzen. Und was tat die Zentralregierung? Sie richtete eine Website ein, wo die Menschen „Indoktrination“ anzeigen können. Aber natürlich nur in Katalonien. Denn außerhalb Kataloniens gibt es sowas nicht. Erinnert sich jemand an das Denunziationsportal der AfD, um Lehrer anzuzeigen, die „nicht neutral genug“ sind? In Katalonien gibt es das bereits. Ein Schelm, wer bei all diesen Ereignissen an die Worte von Jordi Cañas (Ciudadanos) denkt, der damit drohte, Katalonien in ein zweites Nordirland zu verwandeln.

Generell hat man das Gefühl, dass die Guardia Civil und die Policía Nacional die Anzeige wegen Hassverbrechen (Delito de odio) für sich entdeckt haben. Dabei wurde dieser Straftatbestand nicht für sie geschaffen, sondern für wehrlose Minderheiten (Ethnie, Religion, Geschlecht, Ideologie, sexuelle Identität/Orientierung, Menschen mit Behinderung, etc.). Der Gewaltapparat des Staates fällt nicht wirklich darunter. Aber trotzdem zeigte die Polizei u.a. eine Frau aus Tarragona wegen Hassverbrechen an, weil sie ein Plakat mit „Police go home“ an ihrem Balkon angebracht hatte. Auch Jordi Pesarrodona, ein professioneller Clown und ERC-Stadtrat, wurde von der Guardia Civil wegen eines Hassverbrechens angezeigt, weil er sich am 20. September 2017 mit einer roten Clownsnase neben einen Polizeibeamten gestellt hatte. In diesem Fall ließ die Richterin die Anklage wegen Hassverbrechens allerdings nicht zu. Was sie aber zuließ war die Anklage wegen „schweren Ungehorsams“, weil er am 1-O die Türen des Wahllokals schloss, als die Guardia Civil – die ihn wiedererkannte und ihn mit „dieser Clown schon wieder“ ansprach bevor sie auf ihn einschlug – kam, um die Schule in Sant Joan de Vilatorrada zu schließen. Überall in Katalonien sind hunderte Menschen wegen ähnlicher „Vergehen“ wegen Hassverbrechen angeklagt. In Reus z.B. sind es über 20, darunter mehrere Politiker, die am 2. Oktober ein Manifest unterschrieben hatten, in dem sie den Abzug der Guardia Civil forderten; mehrere Feuerwehrleute, die gegen die Polizeigewalt demonstriert hatten und zwei Fitnessstudio-Besitzer, die mehrere Polizisten gebeten hatten, das Fitnessstudio zu wechseln, weil ihre Anwesenheit bei den anderen Mitgliedern Unbehagen auslöste.

Und als wäre das alles nicht schon genug, gerieten nun auch die CDRs ins Visier der Guardia Civil, der Staatsanwaltschaft und der Audiencia Nacional. Während man in den Hauptstadtmedien versuchte, die CDRs mit der ETA und der Kale Borroka (gewaltsamer Straßenkampf im Baskenland) gleichzusetzen und mit Fake News bewusst versuchte, die Proteste in Katalonien mit Gewalt in Verbindung zu bringen (z.B. indem man über die CDRs berichtete, aber stattdessen Videos von einer Neonazi-Demo in Valencia oder den USA zeigte, oder Bilder vom Kampf der asturischen Bergarbeiter), klagte die Staatsanwaltschaft eine junge Sozialarbeiterin, Tamara Carrasco García, wegen Terrorismus und Rebellion an. Was hatte sie getan? Sie hatte in einer Sprachnachricht in einer privaten Whatsapp-Gruppe einen Generalstreik und die Öffnung der Mautschranken (Peatges) als Protest gegen die Festnahme Puigdemonts vorgeschlagen. Außerdem hatte sie in der Sprachnachricht beschrieben, wie man am besten eine Autobahn sperren könnte. Und das war jetzt gleichzusetzen mit einem bewaffneten Aufstand oder einem Bombenattentat (die Staatsanwaltschaft sprach davon, dass sie ein Attentat auf eine Polizeikaserne plante, weil auf einer Karte ein Punkt vor einer Kaserne eingezeichnet war; tatsächlich war dies nur der Treffpunkt für eine Demo). Es war alles nur noch surreal. Tamara Carrasco wurde am 10. April 2018 von zehn bewaffneten Guardias Civiles in ihrer Wohnung in Viladecans festgenommen, während draußen schon alle Medien der Hauptstadt warteten, um die Festnahme live zu übertragen. Nach einem Aufenhalt im Polizeirevier wurde sie dann direkt zur Audiencia Nacional nach Madrid transportiert, um dort auszusagen. Glücklicherweise wies das Gericht die Anschuldigungen wegen Terrorismus und Rebellion zurück und ließ Tamara nach mehreren Tagen wieder auf freien Fuß. Allerdings ermittelt das Gericht weiter gegen sie (wegen Belästigung der Allgemeinheit) und setzte unverhältnismäßige Auflagen fest: so muss Tamara jede Woche beim Gericht vorstellig werden und darf seither ihre Stadt nicht mehr verlassen, wohl bis der Prozess anfängt (ein halbes Jahr später, Ende November 2018, entschied die Audiencia Nacional, dass sie nicht zuständig ist und verwies den Fall an ein Gericht in Katalonien; an den Auflagen änderte sich nichts). Bis dahin hatten die Medien und rechts-populistische Politiker allerdings ihr Leben schon zerstört: neben der Tatsache, dass in aller Öffentlichkeit über ihr Privatleben hergezogen wurde, ihre Adresse, die Namen ihrer Familie und Freunde, ihr Arbeitsplatz etc., veröffentlicht wurden und unglaublich viele Verleumdungen verbreitet wurden, ist ihr Leben lahmgelegt. Sie musste sich krankschreiben lassen und ist seit einigen Monaten in Therapie.

Ähnliches passierte auch mit Adri Carrasco Tarrés, einem anderen CDR-Mitglied. Er floh allerdings (nur mit ein paar Turnschuhen und einer Extra-Hose), als seine Mutter der Guardia Civil die Tür öffnete und schaffte es irgendwie nach Brüssel. Seit April 2018 finden in seinem Heimatort (Esplugues de Llobregat) regelmäßig Solidaritätsdemonstrationen statt, um zu fordern, dass er als freier Mensch zurückkehren kann. Adri wird beschuldigt, an einer Straßensperre der CDRs und der Öffnung der Mautschranken beteiligt gewesen zu sein und ein Attentat vorzubereiten, weil man bei ihm Zuhause Watte und einen Schnürsenkel fand. Und das soll Terrorismus und Rebellion sein; für beides stehen dutzende Jahre Gefängnis (Rebellion bis zu 30, für Terrorismus in diesem Fall bis zu 15 Jahre). Einfach nur absurd. Allein die Tatsache, dass die Polizei in ihren Berichten Tamara als „Anführerin“ der CDRs darstellte, bewies, dass sie überhaupt keine Ahnung hatten, was die CDRs sind. Es gibt über 400 lokale Gruppen, die aber keine Anführer haben. Es sind Nachbarschaftsvereine, in denen sich Nachbarn und Aktivisten treffen, und die autonom und unabhängig voneinander in basisdemokratischen Versammlungen Aktionen planen, wie z.B. Demonstrationen, Straßensperren, Öffnung der Mautschranken, etc. Aber es ist keine Organisation und es gibt erst recht keine Hierarchie. Das gefährlichste, was man bei Tamara fand waren Plakate mit der Aufschrift „Democràcia“, eine Maske mit dem Gesicht von Jordi Cuixart, einen Stimmzettel vom 1-O und einen Stadtplan. Wären die Folgen für die betroffenen Menschen nicht so dramatisch, könnte man sich totlachen.


Nach diesem ereignisreichen April, mussten sich die Unabhängigkeitsparteien erstmal wieder sammeln. Die Kandidaten Puigdemont, Sànchez und Turull wurden von der Justiz verboten und es gestaltete sich als ziemlich schwierig, sich auf einen neuen Kandidaten zu einigen. Am Ende schlug Puigdemont den parteilosen Joaquim (Quim) Torra i Pla vor, der über die Liste von JuntsxCat ins Parlament gewählt worden war. Quim Torra ist Jurist, Kolumnist und Schriftsteller und war relativ unbekannt; nur wenige hatten mitbekommen, dass er mal für ein paar Monate vorübergehender Präsident von Òmnium Cultural (Juli – Dezember 2015) oder Leiter des Kulturzentrums Born Centre Cultural i Memòria gewesen war (2012 – 2015). Beim ersten Wahlgang am 12. Mai 2018 erhielt er nicht die erforderlichen 68 Stimmen, weil die CUP sich enthielt. Für sie war das Regierungsprogramm von JuntxCat und ERC zu „autonomistisch“ und würde das „Mandat des 1-O“ verraten. Kurz vor dem zweiten Wahlgang stand sogar die gesamte Legislatur auf der Kippe, weil die CUP ankündigte, beim nächsten Wahlgang sogar mit „Nein“ zu stimmen. Damit wären automatisch Neuwahlen ausgerufen worden. Die Mitgliederversammlung der CUP entschied allerdings noch im letzten Moment, die Enthaltungen beizubehalten. Damit konnte Torra dann am 14. Mai zum Präsidenten der Generalitat gewählt werden. Die CUP ging in die Opposition, Katalonien hatte endlich einen Präsidenten und eine Regierung, was theoretisch bedeutete, dass die Zeit der Zwangsverwaltung durch den Artikel 155 zu Ende war.

Aber natürlich war auch Torra kein guter Kandidat für Madrid. Schon bevor im Parlament abgestimmt wurde, wurde die spanische Medienlandschaft von Schlagzeilen über Torra überflutet. Er sei ein Rassist, weil er 2012 getwittert hatte, dass „Spanier das Wort Scham schon vor Jahrhunderten aus ihrem Wörterbuch gelöscht hätten“ oder dass „Spanier nur plündern könnten“. Er sei xenophob, ein Spanien-Hasser, ein Supremacist. Besonders breitgetreten und medial ausgeschlachtet wurde der von ihm im Jahr 2012 veröffentlichte Artikel „La llengua i les bèsties“ (Die Sprache und die Tiere). In dem Artikel schreibt er über eine Fabel (De quan les bèsties parlaven – ‘Als die Tiere sprachen’, von Manuel Folch), die er als Kind gelesen hatte, und an die er sich jetzt oft erinnerte. Weil man nun auch im echten Leben öfter mal „Tiere sieht, die sprechen“. Aber diese Mal waren es keine Schleiereulen (Òlibes), Bären (Ossos) oder Rehkitze (Cervatons), sondern Aasfresser (Carronyaires), Vipern (Escurçons) und Hyänen (Hienes). Und wer waren diese Tiere für Torra? Menschen, die in Katalonien leben und die Hass versprühen; die Hass auf die Katalanen haben und die katalanische Sprache abgrundtief verabscheuen. Solche, an denen alles abprallt, wenn es nicht spanisch und auf Spanisch ist, weil sie alles katalanische unerträglich finden. Als Beispiel nannte er einen Zwischenfall bei einem Swiss-Flug, einer der wenigen Airlines, die bei ihren Ansagen auch das Katalanische verwendeten. Ein Passagier (der oben erwähnte rechtsextreme Opazo) war so empört darüber, dass er vier Wörter auf Katalanisch hatte ertragen müssen, dass er sich lauthals beschwerte und dann noch einen Beschwerdebrief in einer Schweizer Zeitung veröffentlichte. Swiss benutzt seitdem bei den Ansagen bei Flügen nach und von Barcelona nur noch Spanisch (von Englisch und Deutsch mal abgesehen). Torra beendete den Artikel mit dem Satz „Wie lange müssen wir diese Schikanen, Demütigungen und Geringschätzung noch ertragen?“. Ja, wie lange denn? Es tut mir leid, bei allem Verständnis, das ich für Teile der Torra-Kritiker habe – ich selbst verurteile seine verallgemeinernden Tweets von 2012 vehement, weil er statt „Staat“, „Zentralregierung“, etc. „Spanien“ und „die Spanier“ geschrieben hat – aber die Kritik an diesem Artikel verstehe ich nicht. Die Hauptstadtmedien und Ciudadanos drehten alles um, sagten, dass Torra alle Spanier als Bestien, Aasfresser und Hyänen bezeichnet hatte und das ist falsch. Er hat sich auf eine ganz bestimmte, rechtsgerichtete Gruppe bezogen, die uns allen das Leben schwer macht. Die sich für was besseres hält, die vor chauvinistischem, rechtsextremen spanischen Nationalismus nur so strotzt und die einen so unerklärlichen, unverständlichen und abgrundtiefen Hass auf das Katalanische und alles, was katalanisch ist, hat, dass es krankhaft ist. Mit diesem Artikel beschreibt Torra noch nicht einmal die meisten katalanischen PP- oder Ciudadanos-Wähler, denn selbst die haben – so spanisch-nationalistisch sie auch sein mögen – einen gewissen Respekt für ihre katalanischsprachigen Mitbürger. Wenn man sich den Artikel durchgelesen hat und sich trotzdem angegriffen fühlt, dann wohl leider zurecht. Meiner Meinung nach kann sich kein Mensch von den Beschreibungen angegriffen fühlen, wenn er nicht tatsächlich so denkt und handelt, wie es dort beschrieben wird. Schon Ovidi Montllor (valencianischer Sänger und Dichter) schrieb: «Hi ha gent a qui no li agrada que es parle, s’escriga o es pense en català. És la mateixa gent a qui no li agrada que es parle, s’escriga o es pense» (Es gibt Leute, die es nicht mögen, dass auf Katalanisch gesprochen, geschrieben oder gedacht wird. Es sind dieselben Leute, die es nicht mögen, dass gesprochen, geschrieben oder gedacht wird).

Es brachte nichts, dass Torra sich bei seiner Antrittsrede für seine Tweets von vor 6 Jahren entschuldigte, versuchte zu erklären, dass es falsch war, zu verallgemeinern, etc. Für die spanische Öffentlichkeit war er bereits der Teufel in Person. Zeitungen und Online-Medien veröffentlichten Fotos seiner Familie und Kinder, machten sich aufs Übelste über seine älteste Tochter lustig, weil sie eine Fehlbildung hat, etc. „Supremacista“ wurde zum Schlagwort, um ihn im voraus mundtot zu machen. Das ging so weit, dass die RAE (Königliche Spanische Sprachakademie) ankündigte, die Wörter „supremacismo“ und „supremacista“ ins akademische Wörterbuch aufzunehmen. Seine Kinder mussten ihre Social-Media-Accounts schließen, weil spanische Ultras sie mit Hass- und Diffamierungskampagnen überhäuften. Auch in deutschen Medien (z.B. FAZ und Spiegel) wurde er als radikaler Nationalist dargestellt, der nur den Befehlen Puigdemonts gehorcht. Radikal ist Torra bestimmt, aber nur, weil „radikal“  bedeutet, dass man „an die Wurzel“ der Probleme geht (von lat. radicalis – ‘an die Wurzel gehend’). Torra ist zweifelsohne ein überzeugter Separatist und Nationalist, jemand, der noch nie in der Politik gewesen ist und deshalb in der Vergangenheit Sachen geschrieben hat, die polemisch sind. Manche Historiker bezeichnen ihn als Essenzialisten, weil er vom Katalanismus des 19. Jhd. und vom katalanischen Separatismus des frühen 20. Jhd. fasziniert ist. Tatsächlich hat er sich bei seiner journalistischen Arbeit auf diese Zeiten spezialisiert, was ihm wohl den Blick auf die Realität etwas vernebelt hat (das heutige Katalonien hat relativ wenig mit dem homogenen Katalonien der Jahrtausendwende zu tun). Und höchstwahrscheinlich ist er deshalb nicht der beste Präsidentschaftskandidat. Aber er ist kein Monster. Er redet viel darüber, dass man „die Republik verwirklichen muss“, dass man „Madrid nicht gehorchen darf“, etc, aber am Ende gibt er immer klein bei, und ruft am nächsten Tag erneut zum Dialog auf. Und ja, er ist sehr uncharismatisch und ziemlich einschläfernd. Er ist anstrengend, planlos und ganz bestimmt nicht die beste Wahl, weil selbst große Teile der Unabhängigkeitsbewegung ihn sehr kritisch sehen, aber kein Monster und kein Rassist (selbst die NGO SOS Racismo veröffentlichte ein Statement, in dem sie die Wortwahl Torras zwar stark kritisierte, jedoch davor warnte, ihn deshalb als Rassisten zu betiteln, da das die Problematik des Rassismus banalisiere). 

Die erste Regierung, die Torra ernannte, wurde von der Zentralregierung blockiert, indem sie die Namen einfach nicht im Staatsgesetzblatt (Boletín Oficial del Estado) veröffentlichte. Der Grund: Torra hatte mehrere Inhaftierte und Exilanten zu Ministern ernannt (u.a. Rull, Turull und Comín). Eigentlich war die Blockade der Zentralregierung nicht legal, weil jeder der Nominierten das Recht hatte, Minister zu sein, aber trotzdem beugte sich Torra den Auflagen Madrids und ernannte eine neue Regierung. Damit sah sich die Zentralregierung dann endlich gezwungen, die Namen zu veröffentlichen und die Anwendung des Artikels 155 zu beenden. Am 2. Juni 2018 endete dann endlich offiziell die 7-monatige Zwangsverwaltung Kataloniens.

Das alles passierte in einem sowieso schon angespannten Klima in Madrid. Denn am 24. Mai hatte die Audiencia Nacional ein Urteil veröffentlicht: die PP war mindestens zwischen 1989 und 2009 Nutznießer und Akteur einer breitangelegten illegalen Parteifinanzierung. Das wusste jeder (die PP ist die korrupteste Partei Europas, über 900 Parteifunktionäre stehen wegen Korruption vor Gericht), aber zum ersten Mal wurde auch die Partei als solche verurteilt. Es war außerdem das erste Mal in der demokratischen Geschichte Spaniens, dass eine Partei verurteilt wurde. Mehr noch, die Einheit für Wirtschafts- und Steuerverbrechen (UDEF) warf der PP vor, wie eine „kriminelle Organisation“ agiert zu haben. Mehrere hohe Parteifunktionäre wurden zu langen Haft- und Geldstrafen verurteilt (z.B. der ehemalige Schatzmeister der PP, Luis Bárcenas, zu 33 Jahren Haft und einer Zahlung von 44 Mio. €), die Partei selbst kam mit einer Geldstrafe von ca. 200.000 € ziemlich glimpflich davon.

Rajoy wackelte. Und tatsächlich kündigte die PSOE ein Misstrauensvotum an, das vom Links-Bündnis Unidos-Podemos unterstützt wurde. Ciudadanos gab mal wieder ein pathetisches Bild ab: vor den Wahlen 2015/2016 hatten sie bei jedem Wahlkampf-Meeting geschworen und versprochen, dass sie niemals erlauben würden, dass Rajoy wieder Präsident wird. Und trotzdem hatten sie bei der Parlamentsabstimmung für Rajoy gestimmt, womit er dann Präsident wurde. Dieses Mal sagten sie, sie wären gegen die Korruption, weigerten sich allerdings, das Misstrauensvotum zu unterstützen und verbrüderten sich erneut mit der PP. So brauchte die PSOE die Unterstützung der katalanischen und baskischen Parteien (ERC, PDeCAT, EAJ-PNV und EH Bildu), um genug Stimmen zusammen zu bekommen. Das wurde ihnen natürlich von den rechten Parteien und Hauptstadtmedien vorgehalten: „Die PSOE verhandelt mit Putschisten“, „Die ‘Rassisten’ sind jetzt die Partner der PSOE“, „Pedro Sánchez verhandelt mit Terroristen“, etc. Pedro Sánchez, der Generalsekretär der PSOE, bot Ciudadanos sogar an, sofort Neuwahlen auszurufen, wenn sie ihn beim Misstrauensvotum unterstützen…aber auch das half nicht. Am Ende fand am 1. Juni 2018 das Misstrauensvotum statt: Rajoys Regierung fiel, Pedro Sánchez wurde zum neuen Ministerpräsidenten Spaniens. Die meisten Parteien, die für das Misstrauensvotum gestimmt hatten, machten allerdings deutlich, dass es sich dabei um ein „Nein zu Rajoy“ und nicht um ein „Ja zu Sánchez“ gehandelt hatte. Denn, obwohl besonders im Ausland die Hoffnung groß war, dass mit Sánchez ein Dialog mit Katalonien möglich wird, war diese Hoffnung in Katalonien eher gering; Sánchez hatte besonders in den letzten Wochen einen ähnlich aggressiven Diskurs gegen die Unabhängigkeitsbefürworter geführt wie PP und Ciudadanos (u.a. hatte er Torra als „Le Pen Kataloniens“ bezeichnet). Aber naja, Hauptsache Rajoy war weg.

Die neue Regierung von Pedro Sánchez löste auch keinen Jubel in Katalonien aus. Als Außenminister ernannte er Josep Borrell; jenen Borrell, der davon sprach, dass man Katalonien desinfizieren müsse und der der SCC angehört. Außerdem hatte Borrell sich nur einige Wochen vorher öffentlich über die U-Haft von Oriol Junqueras lustig gemacht. Neben seinem aggressiven, anti-katalanistischen Diskurs, ist Borrell aber auch wegen vieler anderer Skandale aufgefallen: in den 90ern verteidigte er den Staatsterrorismus, den die Regierung gegen vermeintliche ETA-Mitglieder führte (die GAL), später mussten zwei seiner engsten Vertrauten wegen Korruption ins Gefängnis (Borrell musste deswegen seine Präsidentschaftskandidatur zurückziehen), danach saß er im Aufsichtsrat des Energiekonzerns Abengoa und als das Unternehmen kurz vor der Pleite stand, zahlte er sich selbst eine Abfindung von über 15 Mio. € aus. Zwischen 2010 und 2012 war er zudem Präsident des Europäischen Hochschulinstituts (in Florenz), musste jedoch zurücktreten, weil herauskam, dass er zwei Jahre lang verheimlicht hatte, dass er nebenbei 300.000 €/Jahr als Aufsichtsratsmitglied von Abengoa verdiente. Und als Präsident dieser Institution durfte er keine Nebenverdienste haben. Außerdem verkaufte er – als er schon wusste, dass Abengoa Insolvenz anmelden würde – seine Aktienanteile (dafür wurde er zu einer Geldstrafe von 30.000 € verurteilt, wegen Insiderhandels).

Als Innenminister ernannte Sánchez Fernando Grande-Marlaska, bis dahin Ermittlungsrichter und Präsident der Strafkammer der Audiencia Nacional. Was spricht gegen ihn? Er steht nicht nur der PP ideologisch näher als dem PSOE (er wurde auf Vorschlag der PP in den Generalrat der rechtsprechenden Gewalt gewählt) und stellte sich hinter die Richterin Espejel, die vom Prozess zur Gürtel-Affäre (PP-Korruptionsskandal; es geht um hunderte Millionen Eurowegen ihrer Nähe zur PP abgezogen wurde (alle anderen Richter waren dafür, nur er dagegen), sondern er stellte auch das Verfahren im Fall Yak-42  ein (Flugzeugabsturz 2003 in der Türkei, bei dem u.a. über 60 spanische Soldaten gestorben waren), als klar wurde, dass der spanische Verteidigungsminister Federico Trillo (PP) angeklagt werden könnte (es gab Unregelmäßigkeiten bei den Verträgen, das Flugzeug war wohl nicht flugfähig und die Regierung übergab 30 Familien die falschen Überreste). Doch was vielen am bittersten aufstößt ist die Tatsache, dass er oft der zuständige Richter von Fällen war, bei denen Spanien vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wegen Verstoßes gegen die Anti-Folter-Konventionen verurteilt wurde. Von den 9 Malen, die Spanien seit 2004 vom EGMR verurteilt wurde, weil der Richter Foltervorwürfen nicht nachgegangen war, war Grande-Marlaska 6 Mal der zuständige Ermittlungsrichter! Hier nur ein Bild eines der Opfer, Unai Romano: links wie er ins Polizeirevier kam, rechts, wie er wieder raus kam. Grande-Marlaska sah keinen Grund, zu ermitteln; obwohl er ihn so gesehen hatte. Dann hätten wir noch die neue Ministerin für den ökologischen Übergang (Transición Ecológica), Teresa Ribera, die im Jahr 2009 den „Bericht für mögliche Umweltbelastungen“ des Projekts Castor unterschrieb (Erdgaslagerung im Meeresboden, nur 20 km vor der katalanisch-valencianischen Küste). Aufgrund diesen Berichts – für den die seismologischen Risiken allerdings nicht untersucht wurden – wurde das Projekt 2012 umgesetzt. Und bereits 2013 musste es stillgelegt werden, weil es in nur zwei Monaten zu über 500 kleineren Erdbeben gekommen war (darunter viele in den Provinzen Castelló und Tarragona). Wie Untersuchungen zeigten, war Castor der Auslöser der Erdbeben, was man hätte voraussehen können, hätte man einfach mal eine Risiko-Untersuchung angeordnet. Hauptanteilseigner des Projekts war ACS, eines der größten Bauunternehmen Spaniens, dessen Hauptaktionär wiederum Florentino Pérez (Präsident des Real Madrid) ist. Weil der Betrieb eingestellt werden musste, wurde ACS vom Staat (PP) mit über 1,3 Milliarden € entschädigt. Der Verbraucherschutz geht aber davon aus, dass der Steuerzahler bis zu 5 Milliarden an das Unternehmen zahlen muss. Schon wieder hatte es ACS geschafft, ihre Kosten und Risiken, die sie als Privatunternehmen haben, auf den Steuerzahler umzuwälzen. Und schließlich muss noch der neue Landwirtschaftsminister, Luis Planas, erwähnt werden. Während er spanischer Botschafter in Marokko war, nahm er im Jahr 2006 an einer Ehrung für Mohammed ben Mizzian teil; einem der blutrünstigsten Generäle Francos während des Spanischen Bürgerkriegs (ihm und seiner Truppe werden mehrere Kriegsverbrechen vorgeworfen, u.a. Vergewaltigungen oder die Hinrichtung von über 200 Verletzten in einem Krankenhaus). Nach der Unabhängigkeit Marokkos war er zudem dafür verantwortlich, das marokkanische Militär aufzubauen. Kurze Zeit später war er dann mitverantwortlich für die grausame Unterdrückung des Aufstands im Rif 1957/58 (u.a. mit Napalm- und Phosphor-Bomben). Das Haus, das Franco Mizzian geschenkt hatte und in dem jetzt das Museum zu Mizzians Ehren eröffnet werden sollte, war voller Bilder des Diktators und wurde von Luis Planas persönlich eingeweiht. Es ist also mehr als nachvollziehbar, dass man nicht voller Enthusiasmus „Juhu“ gerufen hat, als klar wurde, wie die neue Regierung von Sánchez aussehen sollte.

Die Hoffnung war insgeheim trotzdem groß, denn Pedro Sánchez hatte so oft gesagt, dass er ein Projekt für Katalonien hat; dass er Spanien endlich zu einem föderalen, plurinationalen Staat machen würde. Tatsächlich hatte er es ausschließlich seinem neuen Podemos-nahen, plurinationalen und linkeren Diskurs zu verdanken, dass er im Jahr 2017 von den PSOE-Mitgliedern zum neuen Generalsekretär/Parteivorsitzenden gewählt worden war (ausschlaggebend waren vor allem die Mitglieder in Katalonien [82% für Sánchez], den Balearen [72%], Navarra [70%] und Galicien [65%]). Und seine Amtszeit begann nicht schlecht: er aktivierte wieder die bilateralen Komissionen der Generalitat und der Zentralregierung, die unter Rajoy seit 2011 ausgesetzt gewesen waren. Er traf sich sogar mit Torra. Aber ein Dialog blieb schwierig, weil auch Sánchez sich weigert, ein Referendum zu verhandeln. Stattdessen schlug er vor, das Autonomiestatut von 2006 wiederherzustellen. Dass er tatsächlich glaubt, dass er über 2 Mio. Katalanen, die die Unabhängigkeit wollen, damit zufriedenstellen kann, indem er ein Autonomiestatut wiederherstellt, das von seiner eigenen Partei und vom Verfassungsgericht zusammengestaucht wurde, ist einfach nur lächerlich. Dieser Schritt hätte vielleicht 2010 oder 2011 noch helfen können, doch mittlerweile ist das Vergangenheit. Durch das Urteil des Verfassungsgerichts wurde den Autonomiebestrebungen Katalonien zudem ein Riegel vorgeschoben. Wenn das Verfassungsgericht z.B. sagt, dass das Katalanische und das Spanische in Katalonien rechtlich nicht gleichgestellt werden dürfen (das Statut sah ein Recht und eine Pflicht vor, Spanisch und Katalanisch zu können; aber eine Pflicht darf es laut Verfassungsgericht nur für das Spanische geben, obwohl das nirgendwo in der Verfassung steht), dann kann da Sánchez auch nichts tun. Aber immerhin ist es ein Vorschlag; sowas gab es vorher jahrelang nicht.

Sánchez kam den Katalanen sogar in einer Sache entgegen: er erlaubte die Verlegung der Inhaftierten nach Katalonien. Es muss nicht erwähnt werden, was für ein Drama manche Medien daraus machten. Die Verlegung ist aber nicht nur legal und richtig, sondern auch ein Recht. Die Tatsache, dass die Familien der Inhaftierten jede Woche über 1.200 km zurücklegen mussten (630km hin, 630km zurück), um ihre Ehemänner, Ehefrauen, Väter und Mütter durch eine Glasscheibe sehen zu können, ist unmenschlich und gefährlich. Wir kennen das schon von den Angehörigen von ETA-Häftlingen, die überall im Land verstreut sind; immer wieder kam es zu tödlichen Autounfällen, während die Familien aus dem Baskenland in Richtung Gefängnis fuhren (insgesamt 16 Todesopfer, bei über 400 Unfällen). Die Familien der katalanischen Häftlinge nehmen jede Woche eine 12-stündige Reise auf sich, um ihre Lieben 40 Minuten lang zu sehen. Und wenn sie Pech hatten, dann sagte man ihnen im Gefängnis, dass die Inhaftierten an dem Tag keinen Besuch empfangen durften. Nur 2 Mal im Monat sind Treffen ohne Trennscheibe erlaubt. Besonders schwierig hat es dabei z.B. Jordi Cuixart, der ins Gefängnis kam, als sein kleiner Sohn erst knapp 5 Monate alt war. Mittlerweile ist er über 1,5 Jahre alt. 240 von den 250 Strafrechtsprofessoren Spaniens erachten die Anklage wegen Rebellion für unhaltbar. Trotzdem sitzen einige Angeklagte seit über einem Jahr in U-Haft. Mit der Inhaftierung in Madrid bestraft man eben vor allem die Familien, nicht nur die Inhaftierten (die ja auch nicht bestraft werden dürfen, weil sie ja noch überhaupt nicht verurteilt sind und deshalb noch als unschuldig gelten müssen).  Natürlich wollte man in Katalonien, dass die Staatsanwaltschaft die Entlassung aus der U-Haft fordert, aber Sánchez weigerte sich. In Zeiten, in denen die Symbolik so wichtig geworden ist, war es von Sánchez zudem kein schlauer Zug, die Verlegung der Inhaftierten als Zugeständnis zu verkaufen; das war kein Zugeständnis, das war die Umsetzung geltenden Rechts. Nichts anderes. Ein Zugeständnis wäre es gewesen, wenn er der Obersten Anwaltschaft des Staates (Abogacía del Estado) – einem der drei Ankläger (neben der Staatsanwaltschaft und der rechtsextremen Partei Vox, als Popularklage) – befohlen hätte, die Haftentlassung zu beantragen. Das wäre perfekt möglich, hat er aber nicht getan.



Währenddessen führten die hohen Gerichte, allen voran die Audiencia Nacional und das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof), ihren repressiven Kurs fort. Schon Ende 2017 waren 12 Mitglieder des linken Rap-Kollektivs La Insurgencia zu jeweils 2 Jahren und einem Tag Gefängnis (damit ist eine Bewährungsstrafe ausgeschlossen), Geldstrafen von jeweils 4.800 € und 9 Jahren Berufsverbot verurteilt worden; wegen angeblicher Terrorismus-Verherrlichung in ihren Liedern. Der mallorquinische Rapper Valtònyc (Josep Miquel Arenas Beltran) wurde auch bereits im Jahr 2017 zu 3,5 Jahren Haft verurteilt; wegen angeblicher Terrorismus-Verherrlichung und Beleidigung der Krone in seinen Texten. Er hatte u.a. den ehemaligen König Juan Carlos I. als „Gauner“ und „Korrupten“ bezeichnet, und Sätze wie „Scheiß Polizei und scheiß Monarchie“ und „Wenn ich vor einem Polizisten ‘Es lebe ETA’ sage, werde ich eingesperrt, aber nicht, wenn ich so ein Hurensohn bin wie Urdangarín“ gesungen (Urdangarín ist der Schwager des Königs, wurde wegen Korruption [Veruntreuung öffentlicher Gelder in Höhe von 6 Mio. €, Geldwäsche, Urkundenfälschung, Betrug und Steuerhinterziehung] zu 6 Jahren Gefängnis verurteilt, wartete aber über ein Jahr lang gemütlich in seinem Feriendomizil in der Schweiz darauf, dass die Justiz ihn ins Gefängnis schickte; nebenbei bemerkt, ein kleines Frauengefängnis, wo er einen ganzen Trakt für sich alleine hat). Außerdem gab es noch einige gewaltverherrlichende Strophen, wie z.B. „Jeder, der die Armen, die, die es am nötigsten haben, ausnutzt, verdient den Tod“ oder „Eines Tages werden Autos durch die Luft fliegen, wie bei Carrero Blanco, aber dieses Mal werden wir keine Trauerschleifen aufhängen“ (Carrero Blanco war die Recht Hand Francos, und sollte nach Francos Tod die Diktatur fortführen; die ETA tötete ihn mit einer Autobombe). Valtònyc legte Berufung ein, doch im Februar 2018 bestätigte das Tribunal Supremo das Urteil und setzte den Haftantritt für Ende Mai 2018 an. Doch ins Gefängnis ging er nicht: er hatte zehn Tage Zeit, um freiwillig in einem Gefängnis vorstellig zu werden, und am letzten Tag der Frist wurde bekannt, dass er sich nicht mehr in Spanien aufhielt. Über Tage hinweg hatten Unterstützer Flugtickets auf seinen Namen gekauft, um die Polizei – die ihn überwachte – auszutricksen. Tatsächlich war er aber schon nach Brüssel geflüchtet, bevor die 10-Tage-Frist und die Polizeiüberwachung begann. Er ging ins Exil, um vor Europa die zunehmende Unterdrückung der Kunstfreiheit und der freien Meinungsäußerung in Spanien aufzudecken und anzuprangern. Und anscheinend hat er Erfolg: der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte muss über seinen Fall zwar noch entscheiden, aber der belgische Richter hat das spanische Auslieferungsgesuch bereits abgelehnt, weil er keine Straftat in seinen Texten sieht und alles von der Meinungsfreiheit gedeckt ist. Die nächste Schlappe für die spanische Justiz. Die belgische Staatsanwaltschaft hat das Urteil zwar angefochten, um Valtònyc doch noch auszuliefern, aber das Gericht hat die Entscheidung bis Juni 2019 (mittlerweile Januar 2020) vertagt, um den Gerichtshof der Europäischen Union zu konsultieren.

Auch der katalanische Rapper Pablo Hasél (Pablo Rivadulla i Duró) wurde wegen seiner Texte und Tweets zu 2 Jahren und 9 Monaten Gefängnis verurteilt. Damit ist es schon die zweite Haftstrafe für ihn, da er bereits 2014 zu zwei Jahren Haft verurteilt worden war. Und immer dieselben Anklagen: Terrorismus-Verherrlichung und Beleidigung der Krone und der Polizei. Auch er hatte ein Lied über den König veröffentlicht, in dem er ihn u.a. als „Gauner“, „Mafioso“ und „Parasiten“ bezeichnete. In anderen Liedern sang er polemische Strophen wie „Die Polizei ermordet 15 Migranten und sie sind Heilige. Wir, das Volk, wehren uns gegen ihre Gewalt und sind gewalttätige Terroristen und Abschaum“ (in Bezug auf die „Tragödie von Tarajal“ am Strand von Ceuta am 06. Februar 2014, als etwa 200 Migranten versuchten, schwimmend die Grenze zu überwinden; anstatt zu helfen, schlug die Guardia Civil von Booten aus auf sie ein, schoss mit Gummigeschossen und Tränengas; mindestens 15 Menschen ertranken), „Der bourbonische Mafioso auf einer Party mit seinen saudischen Freunden. Es bleibt alles unter denjenigen, die den IS finanzieren“ oder „Sie foltern und töten, und wir sollen Mitleid haben, wenn ihnen [der Polizei] was passiert?“. Insgesamt wurden in den letzten zwei Jahren 15 Rapper wegen ihrer linken und sozialkritischen Texte zu Gefängnisstrafen verurteilt. Aber auch dutzende Twitterer – manche mit gerade mal 100 Followern – wurden wegen ihrer Tweets zu Gefängnisstrafen verurteilt. Wie kommt es, dass heutzutage mehr Menschen wegen Terrorismus-Verherrlichung verurteilt werden als während ETA noch tötete? Seit dem endgültigen Waffenstillstand der ETA im Jahr 2011 wurden über 120 Menschen deswegen verurteilt, mehr als viermal so viele als zwischen 2004 und 2011. Das liegt vor allem daran, dass die PP im Jahr 2015 das Strafgesetzbuch reformiert und extrem verschärft hat; mit der Ausrede des islamistischen Terrorismus. Aus Protest gegen die Unterdrückung der Meinungsfreiheit und aus Solidarität mit den verurteilten Rappern und Twitterern, haben dutzende Musiker aus ganz Spanien ein zweisprachiges Lied veröffentlicht (Spanisch/Katalanisch): Los Borbones son unos ladrones (Die Bourbonen sind Diebe). 

Hinzu kam ein Gesetz, das sogenannten „Knebel-Gesetz“, das die Demonstrationsfreiheit und andere Freiheiten stark einschränkte (hier ausführlicher beschrieben). Dieses Gesetz verwandelte u.a. unangekündigte Demonstrationen, das Fotografieren von Polizisten, Versammlungen vor Institutionen oder den passiven Widerstand in Ordnungswidrigkeiten, bei denen es ausreicht, dass ein Polizist der Meinung ist, man hätte eine dieser Ordnungswidrigkeiten begangen. Kein Richter, keine Rechtssicherheit. Seit 2015 werden durchschnittlich 50 Personen pro Tag wegen „Respektlosigkeit gegenüber der Polizei“ (Paragraph 37.4 des Gesetzes) mit unterschiedlich hohen Geldstrafen bestraft (zwischen 100 und 600 €). Weil man entweder den Polizeibeamten geduzt (in Spanien wird generell jeder geduzt, selbst Lehrer und Uni-Profs werden bei ihrem Vornamen angesprochen; gesiezt werden höchsten über 80 Jährige), ihn „Kollege“ genannt oder mit ihm auf Katalanisch gesprochen hatte. Allein 2016 wurden fast 200.000 Menschen durch das Knebel-Gesetz zu absurden Geldstrafen verdonnert (je nach Vergehen von 100€ bis zu 600.000 €). Damit hat es die Regierung von Rajoy geschafft, die Bevölkerung – die seit 2011 fast durchgehend auf der Straße war – zu demobilisieren; die Angst, durch eine zu hohe Geldstrafe total ruiniert zu werden, ist zu groß. Und obwohl seit 2016 die Opposition die Mehrheit im Kongress hat (Rajoy regierte mit einer Minderheitsregierung), hat sich nichts am Gesetz geändert, weil die PP zum einen immer noch die Mehrheit im Senat und mit Ciudadanos die Mehrheit im Parlamentspräsidium (Mesa del Congreso) hat, die entsprechende Gesetzesinitiativen blockieren (an der Zusammensetzung änderte sich auch durch Sánchez als neuen Präsidenten nichts). 

2017/2018 wurde bei den Soterramiento-Protesten in Murcia extrem hart durchgegriffen. Die Proteste richteten sich gegen das Vorhaben, den Hochgeschwindigkeitszug AVE oberirdisch durch Murcia fahren zu lassen. Denn obwohl geplant war, dass der AVE unterirdisch bis in die Innenstadt von Murcia fahren sollte, hatte die dortige Regionalregierung (PP) 2011 entschieden, ihn oberirdisch durch die Stadt zu leiten, solange die Tunnel nicht fertig sind (Soterramiento – Unterführung); nur, um damit prahlen zu können, dass der AVE bis nach Murcia kommt. Sobald der AVE fährt, würde man die Unterführung fertig stellen. Diese oberirdische Bahnstrecke hätte aber einen Teil der Stadt – ausgerechnet den ärmsten – komplett vom Rest isoliert und manche Stadtteile in zwei geteilt; getrennt durch 5 Meter hohe Mauern und Zäune (wegen Lärmschutz und damit man nicht auf die Gleise laufen kann). Die Anwohner wollten das nicht akzeptieren: zum einen hätte sie dieses Projekt vom Rest der Stadt – wo die Schulen, Einkaufszentren und Arbeitsplätze sind – isoliert, zum anderen war das unnötig verprasstes Steuergeld, da die Unterführung ja trotzdem gebaut werden sollte; nur später. Außerdem war die Angst groß, dass die Unterführung nie kommen würden, wie es u.a. in Valladolid passiert war. Auch dort hatte man versprochen, die Unterführung später fertig zu stellen, doch das passierte nie. Jahrelang hatten die Menschen in Murcia demonstriert, um den Bau zu verhindern, doch er schritt immer weiter voran. Bis sie dann im September 2017 – als der Bau der Mauer begann – anfingen, jeden Abend zu Hunderten die Baustellen zu besetzen, um zu demonstrieren. Immer wieder kam es zu Polizeigewalt gegen die friedlichen Demonstranten und dutzende wurden zu hohen Geldstrafen verdonnert. Insgesamt belaufen sich die Strafen auf über 50.000 . Ein Demonstrant sollte z.B. 601 € wegen „fehlenden Respekts gegenüber der Polizei“ bezahlen, weil er „in einer herausfordernden Art und Weise Kürbiskerne gegessen hat“ («por comer pipas de forma desafiante»). Mit der neuen Regierung von Sánchez wurde diese Sanktion zum Glück rückgängig gemacht. Diese Ungerechtigkeiten führten zudem zu einer Solidarisierung zwischen separatistischen Katalanen und den Anwohnern in Murcia. Im April 2018 machten sich hunderte Katalanen auf den Weg nach Murcia (immerhin fast 600km entfernt), um die Leute dort in ihrem Kampf zu unterstützen. Am Ende hatten die Menschen Erfolg: nach über 300 Tagen des täglichen Protestes, lenkte die Regierung ein und kündigte den Baustopp der oberirdischen Gleise und die Fertigstellung der Unterführung im Jahr 2020 an.

Aber das Klima der Repression hört nicht auf. Im Februar/März 2018 kam es zu zwei Fällen von politischer Zensur:

Zum einen wurde im Februar eine Fotoausstellung von Santiago Sierra auf der ARCO, der internationalen Kunstmesse Madrids, zensiert und vom Messegelände verbannt (auf Druck des Veranstalters, der IFEMA; öffentlich geführt, u.a. von der Regionalregierung Madrids, PP). Die Ausstellung hieß „Politische Gefangene im modernen Spanien“ und zeigte u.a. verpixelte Bilder von Oriol Junqueras, Jordi Cuixart und Jordi Sànchez; aber auch von den beiden Puppenspielern, die wegen Terrorismus angeklagt wurden, vom Zeitungsdirektor der laut Verfassungsgericht zu unrecht verbotenen baskischen Zeitung Egin, von Andrés Bódalo (Gewerkschaftler und PODEMOS-Stadtrat in Jaén), oder von einigen der inhaftierten „Jugendlichen aus Alsasua“, die nach einer Kneipenschlägerei wegen Terrorismus angeklagt wurden, weil zwei Polizisten (außer Dienst) verletzt worden waren (komm ich gleich drauf zurück). Diese Zensur traf zwar in manchen Kreisen auf viel Widerstand, aber generell wurde sie als normal empfunden. Die Galeristin, die die Fotos von Sierra ausstellen wollte, beugte sich auch kritiklos, mit dem Argument, dass sie im nächsten Jahr auch noch auf der ARCO ausstellen möchte und keine Probleme will. Es war sehr beunruhigend, wie der Großteil der spanischen Gesellschaft diese Zensur ohne zu Zucken akzeptierte. Als die Bürgermeisterin von Madrid, Manuela Carmena (von der Podemos-nahen Bürgerplattform Ahora Madrid), sich weigerte, die ARCO zu besuchen, um ihre Ablehnung auszudrücken, entschuldigte sich die IFEMA für die Zensur. Der Schaden war aber schon angerichtet und u.a. berichteten The New York Times und The Guardian sehr kritisch darüber.

Zum anderen verbot ein Gericht im März 2018 den weiteren Verkauf und Neuauflagen des Buches Fariña (Galicisch für “Mehl”, aber auch “Kokain”), vom Journalisten Nacho Carretero. Der ehemalige Bürgermeister von O Grove (Galicien), Alfredo Bea Gondar, hatte wegen Beleidigung und Verleumdung geklagt, weil er in drei Zeilen des Buches im Zusammenhang mit dem Drogenschmuggel in Galicien erwähnt wird. Gondar wurde 1991 – während seiner Zeit als Bürgermeister – wegen Drogenschmuggels (30 kg Kokain) festgenommen und 2005 wegen Geldwäsche von Drogengeldern verurteilt. Es war unerklärlich, weshalb das Gericht der Forderung von Gondar nachgekommen war, aber mal wieder löste man so nur den Streisand-Effekt aus: die Verkaufszahlen der noch erhältlichen Exemplare stiegen rasant. In nur wenigen Stunden verwandelte sich Fariña in das meistverkaufte Buch auf Amazon. Teilweise bis zu 10 verkaufte Bücher pro Minute, und auf manchen Plattformen wurde es dann für 1.000 € angeboten. Außerdem mobilisierten sich auch die Buchhändler: die Vereinigung der Buchhändler Madrids (Gremio de Librerías de Madrid) z.B. veröffentlichte nur einige Tage später ein Online-Tool mit dem Namen „Finding Fariña“, das im Meisterwerk der Weltliteratur El Quijote nach Wörtern und Silben suchte, und so automatisch den Text von Fariña generierte. „Sie können Bücher beschlagnahmen, aber nicht die Wörter“, so die Verantwortlichen. Einige Monate später wurde die einstweilige Verfügung zurückgenommen, und der normale Verkauf und Druck wieder erlaubt.

Ein weiterer aufsehenerregender Fall, der zwar nichts mit Zensur, aber mit dem immer brüchiger werdenden Rechtsstaat zu tun hat, ist der Fall der „Jugendlichen von Alsasua“ («Jóvenes de Alsasua»). Im Oktober 2016 kam es in Altsasu/Alsasua (Navarra) um 5 Uhr morgens zu einer Kneipenschlägerei in der Bar Koxka. Involviert waren zwei Beamte der Guardia Civil (in Zivil und außer Dienst), ihre Freundinnen und ein paar Jugendliche. Zwei Jugendliche wurden danach von der navarresischen Polizei (Policía Foral/ Foruzaingoa) festgenommen und am nächsten Tag von einer Richterin des Landegerichts von Navarra auf Kaution freigelassen. Der offizielle Polizeibericht der Guardia Civil und der Policía Foral sprach damals von einem „tätlichen Übergriff“, von nichts anderem. Was zunächst wie ein normaler, unschöner Zwischenfall in einer Kneipe behandelt wurde, wurde relativ schnell – nach zwei Tagen – von Medien wie El Mundo, ABC, La Razón, El Español, El Confidencial, Libertad Digital, Periodista Digital und auch El País zu einem Terrorismus-Fall aufgebauscht. Und plötzlich erstattete COVITE (ein Verein für ETA-Opfer; zutiefst politisiert, neuerdings ziemlich rechts) Strafanzeige bei der Audiencia Nacional, weil es angeblich keine Kneipenschlägerei gewesen war, sondern ein „geplanter Gruppenangriff auf die Guardia Civil“ (die Medien sprachen von bis zu 70 Angreifern) aus dem „Umfeld der ETA“. Und die Audiencia Nacional akzeptierte es. Von einem Moment auf den anderen ging es nicht mehr um ein Gerangel, sondern um Terrorismus. Zwar beharrte das Landgericht von Navarra darauf, dass es sich nicht um Terrorismus handele, und dass die Audiencia Nacional deswegen nicht zuständig sei, aber der Oberste Gerichtshof Spaniens (Tribunal Supremo) übergab den Fall der Audiencia Nacional, und die Ermittlungen der Guardia Civil. Altsasu – ein Dorf mit 7.400 Einwohnern im Sakana-Tal – wurde überall als ein von „Hass zerfressender Ort“ dargestellt; Hass auf Spanien, Hass auf die Guardia Civil. Überall Hass und Terror. Ein grausamer Ort, in dem die Guardia Civil und die „gute Bevölkerung“ sich nicht frei bewegen können, ohne von baskischen/navarresischen Separatisten angegriffen zu werden. Ana Rosa sagte in ihrer erfolgreichen Morgenshow: „Man kann dort kaum atmen. Man atmet Terror“.

„Lasst Altsasu in Ruhe“

Beinahe täglich gingen in Altsasu die Einwohner auf die Straße, um zu fordern, dass die Medien aufhören, ihr Dorf durch den Dreck zu ziehen (mit dem Spruchband „Utzi Altsasu bakean/ Dejad Altsasu en paz“ – ‘Lasst Altsasu in Frieden’). Geändert hat es nichts. Es war die Wiedergeburt des „Alles ist ETA“ der 90er und 2000er Jahre, als alles, was baskisch, links und souveränistisch war, mit ETA gleichgesetzt und auch so bestraft wurde. Als Zeitungen, Gewerkschaften, Parteien, Kultur- und Bürgerhäuser, Jugendzentren und Kneipen (u.a. über 100 Herriko Tabernak) verboten und geschlossen wurden, weil sie angeblich zum Umfeld von ETA gehörten. Die Realität ist egal. Es ist egal, dass die Antimilitarismus-Bewegung Alde hemendik (‘Raus hier’) schon während der Diktatur entstand, und nichts mit der ETA zu tun hat (die Bewegung fordert, dass die massive Präsenz von Guardia Civil/Policía Nacional verringert wird, da sie viele negative Folgen für die Bevölkerung hat; das Baskenland/Navarra hat mit ca. 7 Polizisten pro 1000 Einwohner die höchste Polizeipräsenz der EU, von den über 100 Geheimagenten des Spanischen Geheimdienstes CNI mal abgesehenAltsasu hat fast 10 Polizisten/1.000 Einwohner, der spanische Durchschnitt ist 5,3, der deutsche ca. 3,5). Es ist egal, dass die Feierlichkeiten des Ospa Eguna („Tag des Rauswurfs“), die jährlich in Altsasu stattfinden, um u.a. den Abzug der Guardia Civil und des Militärs zu fordern, von nahezu allen Bewohnern – vor allem den jungen – des Sakana-Tals besucht werden und dass sie nichts mit ETA zu tun haben. Für die Guardia Civil, die jetzt neue Berichte an die Audiencia Nacional schickte, war trotzdem alles ETA: Alde Hemendik ist ETA, und da das Ospa Eguna Teil von Alde Hemendik ist, ist das Ospa Eguna auch ETA. Und weil einige der angeklagten Jugendlichen das Ospa Eguna mitorganisierten, waren sie auch ETA (andere Angeklagte hatten überhaupt keine Verbindung zum Ospa Eguna). Drei der acht Angeklagten (Jokin Unamuno, 24; Adur Ramírez, 23, und Oihan Arnanz, 22) verbrachten über 500 Tage in U-Haft, bevor der Prozess begann. Über 500 Tage und zudem unter der extremen Sicherheitsordnung F.I.E.S, die nur für Terroristen gelten darf (bedeutet u.a. dass alle Unterhaltungen, Telefonate, Briefe abgehört, kopiert und gespeichert werden, auch die Gespräche mit den Anwälten und den Familien; grundloser Wechsel des Gefängnisses, Einzelhaft, starke Isolation, da nur 2 Std. Aufschluss/Tag, etc.). Obwohl jeder von ihnen mehrmals freiwillig im Gericht erschienen war, um auszusagen; obwohl sie alle freiwillig über 400 km nach Madrid gefahren waren, um vor der Audiencia Nacional auszusagen.

Die Staatsanwaltschaft fordert 62,5 Jahre Gefängnis für Oihan Arnanz, jeweils 50 Jahre für Jokin Unamuno, Adur Ramírez, Julen Goikoetxea, Iñaki Abad, Aratz Urrizola und Jon Ander (Jonan) Cob, und 12,5 Jahre für Ainara Urquijo (wegen „terroristischer Drohung“). Krank. Abartig. Unverständlich. Man könnte lachen, wenn es nicht so grausam wäre. Für Mord fordert die Staatsanwaltschaft regelmäßig unter 20 Jahre Haft, aber für einen gebrochenen Knöchel fordert sie insgesamt 375 Jahre Haft für 8 junge Menschen? Über 200 Jura-Professoren, dutzende Strafrechtler und ehemalige Richter des Obersten Gerichtshofs kritisierten den Prozess öffentlich. Nicht nur wegen der hohen geforderten Haftstrafen und des Terrorismus-Vorwurfs, sondern auch, weil die Ermittlungsrichterin (Carmen Lamela; kurz zuvor von der Guardia Civil ausgezeichnet) 18 Zeugen der Verteidigung, mehrere Videos, Gutachten und entlastende Beweise nicht zuließ und ausschließlich den Schilderungen der mutmaßlichen Opfer Glauben schenkte. Es war auch egal, dass der Kommandant der Guardia Civil in Navarra vor Gericht aussagte, dass Altsasu ein ganz normales Dorf ist und dass die Guardia Civil dort nicht mehr Probleme hat als anderswo. Egal, dass bei der Verhandlung herauskam, dass die Guardia Civil eine angebliche Zeugenaussage vom Bar-Besitzer vorgelegt hat, die er nicht getätigt hatte und die auch nicht von ihm unterschrieben worden war. Egal, dass es Fotos gibt, die beweisen, dass Adur Ramírez zur „Tatzeit“ ganz woanders war und auch anders gekleidet war als von den mutmaßlichen Opfern beschrieben. Egal, dass ein Video, das einen der „angegriffenen“ Polizisten direkt nach der Schlägerei zeigt, beweist, dass er noch nicht einmal eine Falte in seinem makellosen, weißen Hemd hatte (er hatte ausgesagt, dass er blutüberströmt und das Hemd zerrissen gewesen sei). Egal, dass in eben diesem Video, alle davon sprechen, dass es eine Schlägerei zwischen zwei Personen gab, und nichts anderes. Egal, dass die Ärzte und Gutachter, die die Verletzten untersucht hatten, kategorisch ausschlossen, dass die Verletzungen von einem Gruppenangriff stammten. Nichts deutete daraufhin, dass die vier Personen von „über 50 Personen minutenlang brutal und grausam geschlagen und getreten“ worden waren (die schwersten Verletzungen waren ein gebrochener Knöchel und eine aufgeplatzte Lippe eines Beamten; eine Person hatte eine Beule am Kopf, eine andere Schmerzen im rechten Handgelenk und eine andere eine Muskelversteifung in der Schulter und ein Hämatom am Oberschenkel). Selbst der Bruch im Knöchel sähe laut den Ärzten eher nach einem Sturz oder Umknicken aus, und nicht nach einer Folge von Tritten. Die Gesellschaft war durch die Medien bereits vorbereitet worden, sodass die horrenden Haftstrafen kein Aufsehen erregten. Zumindest nicht in Zentralspanien. Navarra, das Baskenland, Katalonien und einige Viertel Madrids kochten, als im April 2018 der Gerichtsprozess begann. In Altsasu kam es bereits jede Woche zu Solidaritätskundgebungen. In Katalonien wurde bei den Demonstrationen für die Freiheit der katalanischen Gefangenen auch den Angeklagten aus Altsasu gedacht, und auch in Bilbao oder Donostia gingen tausende auf die Straße, um gegen den ungerechten Prozess zu demonstrieren. Am 14. April 2018 gingen ca. 50.000 Menschen in Pamplona/Iruñea (Hauptstadt Navarras) auf die Straße (hier), um „Gerechtigkeit“ (Justizia) zu fordern, und um deutlich zu machen, dass „das kein Terrorismus ist“ (Ez da terrorismoa). Es war das erste Mal in der Geschichte, dass sich die Regierung Navarras und die Stadtregierung von Pamplona einer Demonstration anschlossen.

Am Ende musste die Audiencia Nacional eingestehen, dass es kein Terrorismus war, doch die Haftstrafen waren trotzdem unverhältnismäßig hoch (die Höchststrafe für das jeweilige Delikt), besonders wenn man bedenkt, dass solche Angriffe auf Polizeibeamte (immerhin fast 10.000/Jahr; die meisten in Madrid [über 2.000], Alicante [fast 700], València [über 600], etc.; in ganz Navarra waren es 2016 nur 59) überall sonst in Spanien mit Geldstrafen oder Bewährungsstrafen enden. Wenn sowas aber im Baskenland/Navarra passiert, dann ändert das alles (nicht umsonst sagen viele, dass die Strafen nicht nach dem Strafgesetz – Código Penal – verhängt werden, sondern nach der Postleitzahl, Código Postal). Im Mai 2018 kam es in Algeciras (Andalusien) z.B. zu einem Angriff auf 9 uniformierte Guardias Civiles: 40 Personen bewarfen sie mit Steinen, Glasflaschen und schlugen sie mit Baseballschlägern. Sie hörten erst auf, als ein Polizist dreimal in die Luft schoss. Niemand sprach von Terrorismus, der Innenminister Zoido (aus Andalusien) spielte den Vorfall sogar herunter und sagte es sei nur „ein bedeutungsloses Gerangel“ gewesen. Der Innenminister! Niemand musste in U-Haft. Jeder hatte auch noch die Verurteilung von Rafa Mora, einem Z-Promi des spanischen Fernsehens, im Hinterkopf, der in Benicàssim (Valencia) zusammen mit drei Freunden zwei Guardias Civiles verprügelt hatte (eines der Opfer hatte mehrere Brüche im Gesicht und musste operiert werden); Mora musste nur eine Geldstrafe in Höhe von 300 € und Schmerzensgeld (ca. 22.000€) bezahlen.

Das Urteil im „Fall Altsasu“ – das am 01. Juni 2018 von der Richterin Espejel (mit einem Oberst der Guardia Civil verheiratet und mehrfach von der Guardia Civil ausgezeichnet) veröffentlicht wurde – war einfach nur surreal: 13 Jahre Gefängnis für Iñaki und Oihan (u.a. tätlicher Angriff auf Polizeibeamten, Körperverletzung und öffentliche Unruhe), 12 Jahre Gefängnis für Jokin und Adur (tätlicher Angriff auf Polizei, Körperverletzung), 9 Jahre Haft für Julen, Aratz und Jonan, und 2 Jahre für Ainara (Bedrohung und öffentliche Unruhe). Selbst, wenn sie nach 9 Jahren wieder rauskommen, ist das Leben dieser Menschen zerstört. Nur, um ein erneutes Exempel zu statuieren. Nur, weil die spanische Rechte (PP/Ciudadanos/Vox) einen Feind braucht (ETA), und ihn zur Not erfinden muss (ETA hat 2011 aufgehört, zu töten und 2017/2018 die Waffen übergeben und sich aufgelöst), um regieren zu können. Nur, weil die spanisch Rechte keinen Frieden im Baskenland will, weil es ihr Stimmen bringt. «Nunca nos quitarán las ganas de vivir en paz», „Sie werden uns nie den Willen nehmen, in Frieden zu leben“, riefen die Familienangehörigen der Verurteilten bei einer Demo. Alles an diesem Fall war eine Schande: mal ganz davon abgesehen, dass die Objektivität und die Wahrhaftigkeit der Ermittlungen angezweifelt werden können/müssen (die Guardia Civil riss die Ermittlungen zu einem Fall an sich, bei dem zwei der Involvierten ihre Freunde, Mitbewohner und Arbeitskollegen waren), waren sowohl die Ermittlungsrichterin Carmen Lamela als auch die spätere vorsitzende Richterin Espejel (übrigens auch diejenige, die Valtònyc verurteilt hatte und die von der Gürtel-Affäre wegen Befangenheit abgezogen wurde, weil sie der PP zu nahe steht) während des Ermittlungs- und Gerichtsverfahrens von der Guardia Civil und vom Innenministerium mit Verdienstorden ausgezeichnet worden. Übrigens: als die Angeklagten beantragten, die Richterin wegen Befangenheit auszuschließen, verurteilte sie die Audiencia Nacional zu einem Bußgeld von jeweils 600€ (wegen Bösgläubigkeit). Am 16. Juni 2018 demonstrierten noch mehr Menschen in Pamplona gegen das Urteil und für die Freiheit der Verurteilten. Zwischen 60.000 und 80.000 Menschen verwandelten die Stadt in eine riesige Solidaritätskundgebung. Es war die bis dahin größte Demonstration, die Navarra je gesehen hat. Die Solidarität, die diese ganze Polizei-Inszenierung hervorgerufen hat, ist enorm: über 82% der Navarresen denken, dass die Strafen unverhältnismäßig sind und in jedem noch so kleinen Dorf gab es Demonstrationen. Dabei stellt niemand in Frage, dass es für diejenigen, die beteiligt waren, eine Strafe geben muss. Doch das ganze Verfahren war von Anfang an faul: niemand weiß, wer tatsächlich beteiligt war (der einzige „Beweis“ ist die Aussage der mutmaßlichen Opfer, die allerdings – wie man in den Videos sieht – direkt nach der Tat seelenruhig mit einigen Verurteilten sprachen; sie also nicht als Täter identifizierten); einige Verurteilten waren nachweislich nicht am Tatort; andere wurden von den mutmaßlichen Opfern nur „erkannt“, weil alle anderen Personen bei der Gegenüberstellung entweder nicht aus Altsasu waren oder eine andere Hautfarbe hatten; wiederum andere wurden bei der Wahllichtbildvorlage zwar auf alten Fotos erkannt, aber nicht auf aktuellen, etc. Dieser Fall hätte nie vor der Audiencia Nacional verhandelt werden dürfen, da von Anfang an klar war, dass es kein Terrorismus war. Einige der renommiertesten baskischen/navarresischen Musiker veröffentlichten ein Lied, um mit dem Geld die Familien zu unterstützen, die seit 2016 mehrere zehntausend Euro für Reisen zum Gefängnis, etc. bezahlen mussten (Aurrera Altsasu – ‘Vorwärts, Altsasu’). Man setzt jetzt alle Hoffnung darauf, vor den EGMR ziehen zu können; aber das wird sich noch Jahre ziehen. Denn sowohl die Verurteilten als auch die Staatsanwaltschaft und COVITE als Popularklage haben Revision eingelegt. Sollte das Urteil gleich bleiben oder sogar verhärtetet werden (COVITE und die Staatsanwaltschaft halten am Terrorismus fest), muss Berufung beim Obersten Gerichtshof eingelegt werden. Da wird der Fall neu aufgerollt. Und erst dann ist der Weg frei für Europa. Leider scheint in letzter Zeit die europäische Justiz die einzige Hoffnung zu sein, die die Verurteilten einer bestimmten Ideologie in Spanien haben (links/separatistisch/souveränistisch/republikanisch).

Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen haben bereits mehre Berichte veröffentlicht, in denen sie die zunehmende Unterdrückung des Demonstrationsrechts und der freien Meinungsäußerung in Spanien anklagen und die Regierung dazu aufrufen, die Gesetze, die diese Grundrechte einschränken, abzuschaffen (Amnesty International zuletzt im März 2018, in ihrem Bericht “Twittere…wenn du dich traust”). Auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat Spanien mehrmals einen Schlag auf die Finger bekommen; zuletzt im März 2018, als er Spanien dazu verurteilte, zwei Jugendliche aus Girona mit jeweils 9.000€ zu entschädigen. Beide wurden 2007 von der Audiencia Nacional wegen Beleidigung der Krone zu jeweils 15 Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie in der Öffentlichkeit Fotos des Königs verbrannt hatten. Später erlaubte man ihnen, die Gefängnisstrafe nicht anzutreten, wenn sie jeweils 2.700€ bezahlten. Laut dem EGMR wurde mit dem Urteil das Recht auf freie Meinungsäußerung eingeschränkt. Damit widersprach es dem spanischen Verfassungsgericht, das das Urteil zuvor bestätigt hatte. Jetzt muss Spanien den beiden das Bußgeld zurückzahlen und sie zusätzlich noch entschädigen. Bei den rechten Medien kam das gar nicht gut an; wie konnte man erlauben, dass irgendwelche Nichtsnutze Fotos des Königs verbrannten, dem Symbol der Einheit der spanischen Nation?! Natürlich darf man im Radio oder im Fernsehen dazu aufrufen, Barcelona zu bombardieren, Katalanen, Frauen, Schwule oder Einwanderer aufs Übelste beleidigen, Franco und die Diktatur verherrlichen, etc. Wer allerdings die Monarchie, die spanische Flagge oder Nation beleidigt, der gehört ins Gefängnis (schließlich ist es aus der Mode gekommen, Andersdenkende an die Wand zu stellen). Und wer das in Europa infrage stellt, der hat sich gegen Spanien verschworen. Natürlich.



Am 12. Juli 2018 entschied dann das Oberlandesgericht Schleswig, dass Puigdemont theoretisch ausgeliefert werden kann; aber nur wegen des Vorwurfs der Veruntreuung und nicht wegen Rebellion oder Aufruhr. Damit durfte Puigdemont auch in Spanien nicht mehr wegen dieser beiden Delikte angeklagt werden. Ein paar Tage später, am 19. Juli, lehnte der Richter Pablo Llarena die Auslieferung jedoch ab und zog die europäischen Haftbefehle gegen alle Exilanten zurück. Im Spanischen haben wir einen schönen Begriff, den das Spanische aus dem Caló der spanischen Roma übernommen hat, der das Gefühl vieler Menschen beschrieb: hacer el paripé (eine Show abziehen). Nicht nur in Katalonien hatten die Menschen das Gefühl, dass der Richter sich aufspielte und beleidigt den Schwanz einzog, weil ihm ein deutsches Gericht nicht erlaubt hatte, Puigdemont wegen Rebellion anzuklagen. Anstatt wie ein ernsthaftes Gericht zu handeln und Puigdemont dann in Spanien wegen Veruntreuung anzuklagen, entschied er, ihn gar nicht anzuklagen; obwohl er doch so überzeugt davon ist, dass er ein Krimineller ist. Die nationalen Haftbefehle zog er allerdings nicht zurück, sodass sich die Exilanten zwar jetzt frei in Europa bewegen können, aber nicht nach Spanien einreisen können. Diese Situation hat auch zur Folge, dass der höchste politische Verantwortliche in Spanien nicht dafür verurteilt werden kann, wofür seine – von ihm ernannten und ihm unterstellten – Minister verurteilt werden sollen. Somit erscheint Oriol Junqueras – ehemaliger Vizepräsident und Wirtschaftsminister Kataloniens – in der Anklageschrift als „Anstifter“ und „Kopf der Ereignisse des 1-O“. Am heftigsten kritisierte das der Professor für Verfassungsrecht der Universität Sevilla, Javier Pérez Royo, der nicht nur die Tatbestände der Rebellion und Aufruhr für unhaltbar hält, sondern dem Obersten Gerichtshof auch vorwirft, gegen das verfassungsrechtliche Prinzip der Legitimationskette zu verstoßen (das katalanische Volk wählte ein Parlament, das Parlament wählte einen Präsidenten und dieser Präsident ernannte seine Minister; wenn der Präsident nicht angeklagt werden kann, dann kann man auch die Minister nicht anklagen, da es sich nicht um etwas handelt, das ihr jeweiliges Ministerium betrifft). Pérez Royo ist übrigens auch einer der wenigen nicht-katalanischen Intellektuellen, die schon im Jahr 2007 davor warnten, dass es zum Bruch des Territorialpakts der spanischen Verfassung kommen würde, wenn das Verfassungsgericht das Autonomiestatut Kataloniens einstampft. Seit Beginn des Ermittlungsverfahrens veröffentlicht er Zeitungsartikel, in denen er den Richter Llarena scharf kritisiert und jedes Mal voraussagte, wie die europäischen Gerichte über die Haftbefehle urteilen würden. Außerdem sei für ihn die Tatsache, dass Llarena den Amtsantritt von Jordi Sànchez und Jordi Turull verhinderte, ein klarer Fall von Rechtsbeugung, „wie aus dem Lehrbuch“.

Im Juli 2018 erklärte dann der Ermittlungsrichter Pablo Llarena das Ermittlungsverfahren für beendet und Puigdemont kehrte nach Brüssel (Waterloo) zurück.

Sánchez, der mittlerweile seinen Ton gegenüber Torra zwar etwas gemäßigt hatte, aber trotzdem unfähig war, für Katalonien ein Projekt vorzustellen, um der Unabhängigkeitsbewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen, hatte Großes für den Juli 2018 angekündigt: Er wollte den Leichnam des Diktators Franco aus dem Valle de los Caídos (Tal der Gefallenen), einer monumentalen Gedenkstätte des Franquismus, exhumieren und woanders beerdigen lassen, um das Valle de los Caídos in ein Mahnmal zu verwandeln. Etwas, was vor Jahrzehnten hätte passieren müssen, um nicht das größten faschistische Mausoleum Europas zu beherbergen. Jährlich pilgern zehntausende Alt-Franquisten und Neofaschisten dorthin, um ihren Führer zu ehren. Und trotzdem dachte ich, dass es ein gesellschaftlicher Konsens wäre, dass man einem Diktator und seinen Anhänger nicht so eine Bühne bieten sollte. Doch tatsächlich regte sich großer Widerstand: sowohl PP als auch Ciudadanos (und natürlich Vox) wetterten gegen das Vorhaben. Ihre Ausrede war die, die man seit über 40 Jahren hört: „Das öffnet alte Wunden, die bereits verschlossen sind“. Das könnte falscher und scheinheiliger nicht sein. In einem Land, dem nach einem blutigen Bürgerkrieg (ca. 500.000 Opfer des Krieges und über 50.000 Menschen, die von Franco hingerichtet wurden, nachdem der Krieg vorbei war) und einer 40 Jahre währenden faschistischen, national-katholischen Diktatur das Schweigen aufgezwungen wurde, um zur Demokratie zu gelangen; in einem Land, in dem immer noch 140.000 Menschen in unzähligen anonymen Massengräbern verscharrt sind und wo eine der Volksparteien (PP) den Opfern der Diktatur vorwirft, sich nur an ihre verschwundenen Eltern und Großeltern zu erinnern, wenn es Geld vom Staat gibt; in einem Land, wo es öffentlich subventionierte Stiftungen gibt, die ohne Scham den Diktator und den Faschismus verherrlichen; in so einem Land, gibt es keine geschlossenen Wunden. In einem Land, wo die Opfer der Diktatur sich an die argentinische Justiz wenden müssen, damit ihre Folterer vor Gericht kommen, weil die Verbrechen der Diktatur einfach amnestiert wurden und alles unter einen riesigen Teppich gekehrt wurde, da gibt es nur offene Wunden. Und entweder man stellt sich dem jetzt langsam, oder die ganzen Menschen sterben, ohne jemals Gerechtigkeit erfahren zu haben; und mit ihnen die Hoffnung, dass die spanische Gesellschaft irgendwann versteht, dass sowas niemals wieder passieren darf. Doch laut Umfragen sind über 35% der Spanier gegen die Exhumierung, um „keine Wunden zu öffnen“ (49% sind dafür). Und die radikalsten von ihnen überschwemmten Madrids Straßen mit Plakaten, auf denen „Finger weg von Franco“ stand, und pilgerten massenhaft zum Grab, um mit gehobener rechter Hand und „Viva Franco“-Rufen gegen die Exhumierung zu demonstrieren. Seit der Exhumierungsankündigung explodierten die Besucherzahlen des Valle de los Caídos: allein im Juli 2018 besuchten fast 50.000 Personen das Grab, mehr als doppelt so viele wie in den vorherigen Monaten. Besuchten im Jahr 2017 noch ca. 280.000 Menschen das Mausoleum, waren es im Jahr 2018 fast 380.000. Dazu beigetragen haben natürlich auch groteske Schlagzeilen in den rechten Massenmedien, wie z.B. „Sánchez will das Grab Francos schänden“, „Sánchez bricht mit der Transición“, „Respektiert die Toten. Nein zur Grabschändung“, etc.

Und tatsächlich traf Sánchez bei seinem Vorhaben auf mehr Widerstand als gedacht: sowohl die Familie Franco (hauptsächlich seine sieben Enkel) als auch die Stiftung Francisco Franco kündigten Klagen wegen Rechtsbeugung und Grabschändung an und die Benediktinerabtei des Valle de los Caídos, der das Grab untersteht und die täglich frische Blumen aufs Grab legt, verweigert der Regierung bis heute den Zutritt. Tatsächlich zog auch der zuständige Prior der Abtei, Santiago Cantera (u.a. 1993 und 1994 Kandidat für die faschistische Falange Española Independiente), vor Gericht, um die Exhumierung zu stoppen. Außerdem passierte etwas, womit die wenigsten gerechnet hatten: über 1.000 Ex-Militärs und Reservisten (bis in die höchsten Ränge, die teilweise erst vor wenigen Jahren aus dem Dienst geschieden sind) veröffentlichten ein Manifest, in dem sie die Figur Francos verherrlichten und lobten, die spanische Regierung angriffen und sich strikt gegen die Exhumierung aussprachen. Zwar war kein aktiver Militär dabei, aber sowas ist nicht nur illegal, sondern spricht auch nicht gerade für die demokratische Reife des spanischen Militärs. Einige demokratische Militärs veröffentlichten daraufhin ein Gegenmanifest, allerdings können sie nur anonym auftreten, weil sie von ihren Vorgesetzten mit Sanktionen bedroht werden. Alles ganz demokratisch. Erst hieß es, Franco würde im Juli exhumiert, dann nach dem Sommer, dann im Oktober, dann vor Weihnachten, dann im Januar….Jetzt ist Ende Februar 2019, und er liegt immer noch dort. Mal gucken, wie lange es dauert, bis Sánchez sein Versprechen umsetzen kann. Denn viele fordern auch, dass José Antonio Primo de Rivera – der Gründer der faschistischen Falange – exhumiert wird; bisher liegt er nämlich neben Franco (direkt vor dem Altar der Basilika) und soll wohl nur an einen anderen, weniger auffälligen Ort  gebracht werden. 

Wie ich im Artikel über die Geschichte Kataloniens und den Ursprung der katalanischen National- bzw. Unabhängigkeitsbewegung geschrieben habe (hier), hat Spanien ein großes Problem mit Politikern und Polizisten, die ihre eigenen Wege gehen, um politische Ziele zu verfolgen. Viele sprechen vom „Deep State“, also eine Art „Staat im Staat“, der die Interessen des Staates über die Regierungen und Parteien hinweg verteidigt. Der Begriff ist zwar durch Verschwörungstheorien ziemlich delegitimiert, aber in Spanien wird durch unzählige Gerichtsverfahren gerade deutlich, wie diese Strukturen, in denen sowohl der Geheimdienst CNI als auch Polizisten (sowohl der Guardia Civil als auch der Policía Nacional), Teile des Militärs, Politiker und Großunternehmer verwickelt sind, seit Jahrzehnten funktionieren. Im Jahr 2016 wurde z.B. die „Operation Katalonien“ (Operación Cataluña) aufgedeckt: das Innen- und Justizministerium hatten eine politische Polizeieinheit gegründet, um mit gefälschten Polizeiberichte, mit dem Leaken von Falschinformationen und antidemokratischen Methoden (illegale Abhöraktionen, Erpressung und Nötigung von Bankangestellten in Andorra) zu versuchen, ihre politischen Gegner (katalanische Politiker der Unabhängigkeitsbewegung, PSOE- und Podemos-Politiker) öffentlich zu diskreditieren. Der Innenminister Fernández Díaz (PP) musste zwar zurücktreten, weil die Untersuchungskommission des Kongresses diese von der PP geschaffene politische Polizeieinheit bestätigte, doch eine juristische Verfolgung wurde blockiert. Da das alles keine Einzelfälle sind, spricht man in Spanien auch von den „Jauchegruben des Innenministeriums“ (Cloacas de Interior; hier eine Reportage mit englischen Untertiteln). Einer der beteiligten Polizisten ist der ehemalige Komissar José Manuel Villarejo. Überall dort, wo es in den letzten Jahrzehnten einen politischen Skandal gab, war er irgendwie involviert. Über Jahrzehnte hinweg sammelte er Informationen von Freunden und Feinden, um sie im richtigen Moment einsetzen zu können. Momentan laufen mehrere Verfahren gegen ihn, und immer wieder leakt er heimlich aufgenommene Gespräche mit hohen Politikern, Richtern, Journalisten, Unternehmern und Polizisten, um so zu erreichen, dass die Verfahren gegen ihn eingestellt werden. Bekannt wurde dadurch z.B. dass er von López Madrid (Unternehmer, enger Freund – den Gerüchten nach auch Affäre – der Königin Letizia und in mehrere Korruptionsskandale verstrickt) damit beauftragt wurde, eine Dermatologin, die López Madrid wegen sexueller Belästigung angezeigt hatte, einzuschüchtern und anzugreifen (sie erkannte ihn als denjenigen wieder, der sie mit einem Messer angegriffen hatte); dass er persönlich Polizeiberichte für die Operación Cataluña gefälscht hatte, etc. Seit November 2017 befindet er sich in U-Haft (u.a. angeklagt wegen Erpressung, Geldwäsche, kriminelle Organisation und Bestechung). Doch seine Leaks hörten nicht auf, und immer wieder droht er damit, dass er über 1 Terrabyte an kompromittierenden Dokumenten und Aufnahmen – bis hinauf ins Königshaus – hat, die er Stück für Stück veröffentlichen wird. Und im Juli 2018 ließ er eine dieser Bomben platzen. Jemand veröffentlichte für ihn (in den Online-Zeitungen El Español und OkDiario) eine stundenlange heimliche Aufnahme eines Gesprächs mit Corinna zu Sayn-Wittgenstein, einer deutschen Unternehmerin, der seit Jahren eine Affäre mit dem – mittlerweile ehemaligen – König Juan Carlos I. nachgesagt wurde (in Spanien kannte man sie als „la Amiga“). Darin berichtete sie, dass Juan Carlos I. ein geheimes Konto in der Schweiz hat, in dem er illegale Gelder versteckt und für das er Corinna als Strohfrau eingesetzt hat; dass Juan Carlos I. seit jeher Kommissionen in Millionenhöhe für Geschäfte mit Saudi-Arabien und den Emiraten kassiert hat (u.a. 100 Mio. € für den Bau der Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Medina und Mekka durch spanische Unternehmen, wie z.B. die öffentlichen RENFE und Adif, Talgo, Indra, OHL, etc.); und dass Corinna öfter Drohungen und Morddrohungen vom spanischen Geheimdienst CNI erhalten hat, damit sie kompromittierende Dokumente vernichtet (letzteres überraschte niemanden, da auch schon eine frühere Geliebte des Königs, Bárbara Rey, von Drohungen von Seiten des Geheimdienstes gesprochen hatte, nachdem sie vom CNI mit öffentlichen Geldern für ihr Schweigen bezahlt worden war). Nach der Veröffentlichung der Aufnahmen beschwerte sich Corinna zwar darüber, dass sie Opfer einer illegalen Abhöraktion geworden war, dementierte das gesagte aber nicht. Diese ganzen Informationen werden wohl nichts an der Situation ändern, da Juan Carlos I. 2014 nur abdankte, weil ihm weiterhin Immunität garantiert wurde, aber sie bestätigen doch die Vermutung vieler, dass sich die Königsfamilie mit illegalen Kommissionen bereichert hat und wohl noch bereichert (das Vermögen wird auf über 2 Milliarden € geschätzt, obwohl sie jährlich „nur“ knapp 8 Mio. € zur Verfügung hat).


Noch mehr Repression

Ende Juli 2018 wurde Juan Manuel Bustamante (alias Nahuel) endlich freigesprochen. Nahuel gehörte einer anarcho-veganen Gruppe der Straight-Edge-Szene an (lehnen Alkohol und Drogen strickt ab), die im Jahr 2015 von der Polizei auf Befehl der Richterin Carmen Lamela (Audiencia Nacional) festgenommen wurde. Die Staatsanwaltschaft warf ihnen „anarchistischen Terrorismus“ vor. 35 Jahre Haft forderte sie, weil sie angeblich ein paar Bankautomaten angezündet hatten (die Verbindung zur Gruppe stellte sie her, weil einige hundert Meter weiter ein Graffiti mit ihrem Gruppennamen an einer Mauer „entdeckt“ wurde). Nahuel kam in U-Haft, weil die Polizei bei ihm Zuhause „verdächtige Flüssigkeiten“ gefunden hatte, mit der er Bomben bauen könnte. Was genau? Putzmittel, Essig und ein Glas mit Rotkohl-Suppe. Der Fall wurde immer surrealer. Am Ende musste die Staatsanwaltschaft eingestehen, dass sie keine Beweise für ihre Anklage hatte, und änderte die Anklage: jetzt klagte sie wegen Verherrlichung des Terrorismus an. Nahuel kam nach 16 Monaten U-Haft im März 2017 auf Kaution frei. Nach über einem Jahr in Isolationshaft und fünf willkürliche Verlegungen in verschiedene Gefängnisse (als Teil der Sicherheitsordnung F.I.E.S. für mutmaßliche Terroristen). Jetzt ging es um Tweets und um T-Shirts, die die Gruppe auf Märkten verkauft hatte; um so schlimme Sätze wie „Tod dem Kapital“, „Der Kapitalismus mordet“, „Feuer und Tod dem Staat, es lebe die Anarchie“ oder „Goku lebt, der Kampf geht weiter“. Am Ende sprach das Gericht alle frei, weil es keine Straftat hatte feststellen können. So erging es auch allen anderen anarchistischen Gefangenen, die zwischen 2015 und 2016 bei den Polizeirazzien Operación Ice, Operación Pandora I, Operación Piñata und Operación Pandora II festgenommen und vor Gericht gestellt wurden, weil man ihnen Terrorismus vorwarf (69 Verhaftete, 12 von ihnen kamen in U-Haft). Alle wurden entweder freigesprochen oder das Verfahren wegen Mangel an Beweisen eingestellt. Es war mehr als offensichtlich, dass man auf der Suche nach einem neuen „inneren Feind“ war, seitdem ETA aufgehört hatte, zu töten. Doch wer gibt diesen Menschen, ihr Leben zurück? In den Medien wurde über sie hergezogen als seien sie Teufel, die neue ETA, ihre Lebensgeschichten in Talkshows ausgebreitet, etc. Viele sind jetzt in Therapie, nur weil der Staat und die hohe Justiz unschuldige Menschen ins Gefängnis stecken wollen.

In die Mühlen der Repression geraten aber auch andere, wie z.B. einige Feministinnen und der bekannte Schauspieler Willy Toledo. So sind beispielsweise drei Feministinnen, die am Tag der Arbeit 2014 an der „Prozession der allerheiligsten unbeugsamen Vagina“ (Procesión del santísimo Coño insumiso; mit einer großen Latex-Vagina) in Sevilla teilgenommen hatten, wegen „Beleidigung der religiösen Gefühle“ angeklagt. Mal ganz davon abgesehen, dass dieser Straftatbestand eher ans Mittelalter erinnert und nur für Katholiken benutzt wird, obwohl er theoretisch für alle Religionen gilt, wird er im Moment dafür missbraucht, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Denn die angeklagten Frauen sind u.a. alleinerziehend, verdienen wenig oder sind arbeitslos; wie sollen sie sich die 3.000€ Geldstrafe, die die Staatsanwaltschaft fordert, leisten? Werden sie danach noch an anderen Protestaktionen gegen die Macht der Kirche teilnehmen?  Das Verfahren wurde zwar zunächst 2016 eingestellt, doch auf Antrag der „Spanischen Vereinigung christlicher Anwälte“ im Jahr 2017 wiedereröffnet. Im März 2019 soll das Gerichtsverfahren beginnen.

Dieselbe katholisch-fundamentalistische Anwaltsvereinigung hat auch Willy Toledo angezeigt, weil er bei Facebook – als Reaktion auf das Ermittlungsverfahren gegen die drei Feministinnen – geschrieben hatte: „Ich scheiße auf Gott und es bleibt genug Scheiße übrig, um noch auf das Dogma der Heiligkeit und Jungfräulichkeit der Jungfrau Maria zu scheißen. Dieses Land ist eine unerträgliche Schande. Ich halte den Ekel nicht mehr aus. Verpisst euch! Es lebe die unbeugsame Vagina“. Dazu muss man wissen, dass jeder in Spanien mal „auf Gott scheißt“. „Me cago en Dios“ ist nichts anderes als „Me cago en la madre que te parió“ (wörtlich: Ich scheiße auf die Mutter, die dich geboren hat), „Me cago en la leche“ (Ich scheiße in die Milch), „Me cago en la hostia“ (Ich scheiße auf die Hostie) oder „Me cago en tus muertos“ (Ich scheiße auf deine Toten; sehr vulgär). Sie alle bedeuten dasselbe: Verdammte Scheiße/Verdammt/Himmel, Arsch und Zwirn, o. Ä. Natürlich können sich Menschen von Toledos Worten angegriffen fühlen, aber das Recht auf freie Meinungsäußerung schützt eben die Meinungen, die uns nicht gefallen. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage wegen „Beleidigung der religiösen Gefühle“, weil er „Gott und die heilige Jungfrau beleidigt hatte“. Einfach nur surreal. Willy Toledo sagte daraufhin, dass er nur vor Gericht erscheinen würde, wenn auch Gott und Maria vor Gericht aussagen, um festzustellen, ob sie sich durch seine Worte angegriffen gefühlt hatten. In den sozialen Netzwerken wurde er gefeiert; zehntausende twitterten Sätze wie „Me cago en Dios“, um ihre Solidarität kundzutun. Und tatsächlich erschien er zweimal nicht vor Gericht. Er übt sich in zivilem Ungehorsam, um die absurde Situation anzuklagen. Im rechten, sozialdemokratischen und im kirchlichen Lager hat er zwar kaum Unterstützung – obwohl alle damals Charlie Hebdo verteidigt hatten, weil ihre islamkritische Satire eben Satire war – aber es gibt doch einige progressive Pfarrer, die sich öffentlich hinter ihn gestellt haben. Eine der Pressekonferenzen Toledos, bei der u.a. auch der weltbekannte Schauspieler Javier Bardem zur Unterstützung anwesend war, fand sogar im Pastoralzentrum (der Status als Pfarrkirche wurde ihnen vom Madrider Erzbischof aberkannt, weil sie zu progressiv war) von einem dieser Pfarrer (Javier Baeza Atienza; bekannt als „der rote Pfarrer“, weil er Migranten unterstützt, sozialen Vereinen hilft und in Jeans predigt) im Madrider Arbeiterviertel Entrevías (Vallecas) statt. Vor dem dritten Gerichtstermin wurde Willy Toledo dann von der Polizei festgenommen, 20 Stunden in einer Zelle festgehalten ohne seinen Anwalt sehen zu dürfen (das ist in Spanien nur legal, wenn man wegen Terrorismus angeklagt ist) und vor den Richter geführt. Der Richter ließ ihn zwar vorläufig wieder auf freien Fuß, was jetzt allerdings passieren wird, weiß man nicht. Allein die Tatsache, dass der Richter die Klage zugelassen hat, ist für ein Land, das sich eine „konfessionslose Demokratie“ nennt, mehr als beschämend. Denn: anders als in Deutschland, wo es auch ähnliche Delikte gibt, ist in Spanien das zu schützende Rechtsgut nicht der öffentliche Frieden (was auch mehr als fragwürdig ist, weil so Minderheiten diskriminiert werden können, da ihre „Gefühle“ als Minderheit kaum den öffentlichen Frieden gefährden können), sondern das zutiefst subjektive Gefühl des „sich beleidigt Fühlens“. Andererseits, was soll man von einem Staat erwarten, wo Minister und Bürgermeisterinnen Hilfe bei der Jungfrau Maria ersuchen, um die Arbeitslosigkeit oder die Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen; wo ein Mann angeklagt wird, weil er angeblich während einer Prozession der Marien-Statue den Mittelfinger gezeigt hatte (die Staatsanwaltschaft forderte 2 Monate Gefängnis, das Gericht verurteilte ihn aber nur zu 180€, weil bewiesen werden konnte, dass er dem Priester den Mittelfinger gezeigt hatte und nicht der Jungfrau Maria) und wo selbst Müllwagen auf offener Straße von einem Priester geweiht werden


Zurück nach Katalonien. Am 11. September 2018 war mal wieder der große Tag der Unabhängigkeitsbewegung: die Diada Nacional, der katalanische Nationalfeiertag. Das Motto der diesjährigen Massendemonstration – die, wie in den letzten Jahren üblich, von der ANC und Òmnium Cultural organisiert wurde – war „Fem la República Catalana“ (Lasst uns die katalanische Republik aufbauen). Über 1 Mio. Menschen kamen, um die katalanische Republik und die Freilassung der politischen Gefangenen zu fordern. Ciudadanos organisierte einen eigenen Festakt (mit dem zynischen Motto „Liebe ist stärker als Hass“, als wären nicht sie diejenigen, die Hass versprühen, sobald sie den Mund auf machen); doch wirklich voll wurde der Platz nicht. Natürlich veröffentlichten die Medien Bilder, die andeuten sollten, dass der Platz überfüllt war, Luftaufnahmen verdeutlichten allerdings, dass beim Akt wahrscheinlich mehr Journalisten als Teilnehmer anwesend waren. 

In den spanischen Medien wurde die Massendemonstration wieder größtenteils ignoriert. Und wenn doch darüber berichtet wurde, dann nur, um zu sagen, dass die Teilnehmer „gehorsame Schafe sind“, die „von den separatistischen Politikern hinters Licht geführt wurden“. Solange man außerhalb Kataloniens nicht versteht, dass die Unabhängigkeitsbewegung nicht von den Politikern angeführt wird, sondern von der Zivilgesellschaft, wird man nie zu einer Lösung kommen. In diesem Kontext sind z.B. auch die Demonstrationen am 1. Oktober 2018 zu verstehen. Zum Jahrestag des 1-O hatten hunderte Vereine zu Protesten aufgerufen. Die ANC und Òmnium Cultural organisierten eine Demo in Barcelona, zu der etwa 200.000 Menschen kamen. Die CDRs sperrten katalonienweit die wichtigsten Autobahnen und Hauptverkehrsstraßen. In Girona besetzten ca. 400 Menschen die Gleise des AVE. Der Präsident Torra wurde von den Demonstranten ausgepfiffen und ausgebuht, weil er ihrer Meinung nach nicht genug dafür tat, dass die katalanische Republik Realität wird. Am späten Abend versuchten sogar einige Dutzend Demonstranten das katalanische Parlament zu stürmen, doch die Mossos d’Esquadra griffen ein und lösten die aufgebrachten Menschenmenge auf (u.a. mit Schaum-Geschossen und Schlagstöcken).

Das Verhältnis zwischen der separatistischen Linken (CUP, Arran, die Studentengewerkschaft SEPC, die Gewerkschaft COS, Teile der CDR) und den Mossos war noch nie gut, aber in den letzten Monaten hatte es sich extrem verschlechtert, weil die Mossos immer extremer gegen die Proteste und Aktionen der CDRs vorgingen. Nur zwei Tage vorher – während einer Demonstration der rechten Polizeivereinigung Jusapol (eigentlich apolitisch; wurde von Ciudadanos und Vox infiltriert, was den früheren Vorsitzenden Morales zum Rücktritt bewegte) zur Ehrung der Polizisten, die am 1-O in Katalonien gewütet hatten – waren die Mossos ziemlich brutal gegen die antifaschistischen Gegendemonstranten vorgegangen, anstatt die Provokateure der Jusapol-Demo zu identifizieren. Auch bei der Auflösung von Straßensperre der CDRs wurde immer wieder unverhältnismäßig hart durchgegriffen; so würgte ein Mosso einen am Boden liegenden Mann z.B. so lange, bis dieser ohnmächtig wurde. Diese Bilder schockierten viele, führten aber vor allem dazu, dass die separatistische Linke (Esquerra independentista) ihren Diskurs gegen die Mossos verschärfte. Einer der meistgehörten Sprechchöre, den man von ihnen hört, wenn Mossos anwesend sind, ist: «No us mereixeu la senyera que porteu» (Ihr verdient die katalanische Flagge nicht, die ihr tragt; in Bezug auf die katalanische Flagge, die auf ihre Uniform genäht ist). 

José María Aznar

Währenddessen verschärfte sich das politische Klima in Spanien. Rajoy war als Parteichef der PP zurückgetreten, und an seine Stelle rückte jemand, der das totale Gegenteil von ihm ist: Pablo Casado. Ein großmäuliger, lauter und unverschämter Schützling von José María Aznar (von 1996 – 2004 Präsident Spaniens; ziemlich rechts). Aznar verschwand 2004 zwar aus den Institutionen, aber nicht von der Bildfläche. Er hatte in seiner zweiten Legislatur den Rezentralisierungskurs vorangetrieben, mit seinen Boden- und Arbeitsmarktreformen den Grundstein für das riesige Ausmaß der Krise gelegt und mit seinem Think Tank FAES die politische Richtung der PP vorgegeben. Und nicht zu vergessen: 12 seiner 14 Minister stehen heute entweder wegen Korruption vor Gericht oder sind bereits verurteilt. Er zählte zu den stärksten parteiinternen Gegners Rajoys, weil er ihm zu weich war. Und so ist es nicht verwunderlich, dass er viel Zeit und Geld darin investierte, „neue Führungskräfte“ für Spanien (und für sich) heranzuziehen. Einer dieser Schützlinge ist Casado, aber vorher waren es bereits Albert Rivera (früher PP; seit 2006 Parteichef von Ciudadanos) und Santiago Abascal (früher Mitglied der PP; jetzt Parteichef der rechtsextremen Partei Vox). Der Aznarismus – verstanden als Machtstruktur und Art und Weise, wie man Spanien und seine Geschichte versteht – ist zurück. In seiner wildesten Form. Pablo Casado legte auch sofort los und beschimpfte Pedro Sánchez als „illegitimen Präsidenten“ (weil er per Misstrauensvotum an die Macht kam, was vollkommen legitim und verfassungskonform ist), „Freund der Putschisten“ (die Putschisten sind in diesem Fall die Unabhängigkeitsbefürworter, die Sánchez mit ihren Stimmen unterstützt hatten), etc. Warum drehte Casado jetzt so am Rad? Der Wahlkampf in Andalusien hatte begonnen und alle Umfragen deuteten an, dass Vox ins andalusische Parlament einziehen könnte. Deshalb wollte und musste Casado versuchen, die rechtsextremsten PP-Wähler wieder für sich zu gewinnen. Denn eines muss man wissen: lange Zeit rühmte man sich in Spanien damit, dass es keine rechtsextremen Parteien im spanischen Parlament gab. Was damit aber immer bewusst ignoriert wurde, war, dass die PP ALLES rechts der Mitte in sich vereinte, und natürlich auch alle Alt-Franquisten und Nostalgiker der Diktatur. Dass es jetzt Wähler gibt, die noch rechter wählen wollen, liegt daran, dass sie Rajoys PP als zu moderat betrachtet haben. Und womit gewinnt man in Andalusien Stimmen? Genau, indem man über Katalonien herzieht. Es gab nicht ein einziges Meeting von PP, Vox oder Ciudadanos, bei dem nicht über Katalonien gesprochen wurde. Nicht ein einziges. 

In Katalonien selbst betrachtete man das ganze Spektakel mit großem Argwohn, aber auch mit einem gewissen Galgenhumor. Es war schon eigenartig mit anzusehen, wie die rechten Kandidaten versuchten, sich in ihrem spanischen Nationalismus und falsch verstandenem Patriotismus zu überbieten. Es ging darum, wer die größte hat. Die größte Spanien-Flagge, unter der man ihre ganze Inkompetenz und Ideenlosigkeit verstecken konnte. Sie appellierten an das „Spanien der Balkone“, in Anspielung auf die Tatsache, dass hunderttausende Spanier im Herbst 2017 – in Reaktion auf die Ereignisse in Katalonien – ihre Balkone mit Spanien-Flaggen schmückten. Um die Einheit Spaniens zu verteidigen. Es war so surreal zu sehen, wie selbst die aus Andalusien stammende Inés Arrimadas, Fraktionschefin von Ciudadanos in Katalonien, nach Andalusien reiste, um dort Wahlkampf zu machen und plötzlich anfing, mit einem ‘gefakten’ andalusischem Akzent zu sprechen (noch nie hatte man sie Andalusisch sprechen hören, weshalb besonders in Andalusien die Kritik an ihr laut wurde, sie benutze den aufgesetzten Akzent nur zu Wahlkampfzwecken). Es war wie, als wenn Angela Merkel nach Bayern reisen und plötzlich anfangen würde, auf Bairisch zu sprechen. Denn, obwohl Arrimadas ursprünglich aus Andalusien ist, spricht sie halt kein Andalusisch. Um Andalusisch zu sprechen, reicht es eben nicht, ab und zu das -s- am Silbenende wie ein [h] auszusprechen.

Albert Rivera, Pablo Casado und Santiago Abascal führten den Wahlkampf in Andalusien, obwohl sie selbst gar nicht antraten. Es nahm solche Züge an, dass große Teile der andalusischen Wähler noch nicht einmal wussten, wer die tatsächlichen Kandidaten waren, weil sie immer in zweiter oder dritter Reihe standen. Es passierten viele komische Sachen in diesem Wahlkampf (u.a. sprach der PP-Kandidat Moreno vor laufenden Kameras mit einer Kuh und forderte sie auf, ihn zu wählen; Ciudadanos kündigte in den sozialen Netzwerken ein Meeting in Córdoba [Andalusien] mit einem Foto der Kathedrale in Córdoba [Argentinien] an; die Kandidatin von Adelante Andalucía sprach davon, dass man sich drei Drachen gekauft hätte [in Anlehnung an Game of Thrones] und Moreno „konterte“ mit einem Video, wo er neben Star-Wars-Figuren steht und sagt, dass die Macht aber mit ihm sei, etc.), aber das skurrilste war wohl der Wahlwerbespot von Vox: „Die Reconquista beginnt in Andalusien“ (hier). Ultra-Katholizismus, Spanien über alles, Schwelgen in der Vergangenheit des Imperiums („größtes Werk der Menschheit“), Anti-Feminismus (Feministinnen sind für Vox nur „totalitäre Feminazis“), Anti-LGBTI (will u.a. die „Ehe für alle“, die 2005 beschlossen wurde, wieder abschaffen; redet von der „Diktatur der Regenbogenfahne“), Anti-Islam, Pro-Stierkampf, Pro-Jagd, Hass auf Katalonien und das Baskenland und der Wunsch, die Autonomen Gemeinschaften abzuschaffen, um aus Spanien wieder einen einheitlichen Zentralstaat zu machen, das sind die Hauptthemen in ihrem Wahlprogramm…eigenartigerweise u.a. finanziert durch Mitglieder der iranischen Diaspora (genauer gesagt von Mitgliedern der Volksmudschahedin, die bis 2012 von den USA als Terrorgruppe geführt wurde; wie Vox neulich selbst einräumte). 

Am 2. Dezember 2018 war es dann soweit, Andalusien hatte gewählt. Vox zog mit einem Paukenschlag ins Parlament ein: mit knapp 11% der Stimmen (ca. 400.000 Wähler; zu fast 50% ehemalige PP-Wähler) und 12 Mandaten. Keine Umfrage hatte ein derartiges Ergebnis vorausgesagt. Keine einzige. Sowohl der PSOE – der seit 1982 durchgehend Andalusien regiert hatte – als auch die PP verloren viele Stimmen (PSOE ca. -400.000, PP ca. -300.000). Zwar gewann der PSOE trotzdem klar die Wahlen (28%; 2015 waren es 35%), aber da das Linksbündnis Adelante Andalucía (Podemos und Izquierda Unida) nur auf 16% kam, reichte es nicht, um eine Koalition zu bilden. Die rechten Parteien hatten gewonnen, weil über 20% der linken Wähler von 2015 (PSOE/ Adelante Andalucía) nicht zur Wahl gegangen waren (die Wahlbeteiligung war so niedrig, wie seit Jahrzehnten nicht mehr; sie lag bei knapp 56%). Dass die Rechtsextremen jetzt ins Parlament einzogen, führte sofort zu spontanen Protesten auf den Straßen Andalusiens. Was Vox nämlich von anderen rechtspopulistischen Parteien  Europas unterscheidet, ist, dass sie das fundamentalistische national-katholische Spanien der Diktatur wieder haben wollen. Wer dieses Spanien ablehnt, ist ein „Anti-Spanier“. Und genau dieses Argument benutzten die Faschisten 1936, um gegen die demokratisch gewählte Republik zu putschen, den Bürgerkrieg zu beginnen und eine zunächst faschistische, später national-katholische Diktatur in Spanien einzurichten, die 40 Jahre lang ihre Ideologie verbreiten und die politische Opposition massakrieren konnte. Die Aussage von Ortega Smith (Generalsekretär von Vox und Vertreter der Popularklage gegen die katalanischen Politiker) im Fernsehen, wo er versicherte, dass die franquistischen Hinrichtungen „mit Liebe vollzogen“ wurden, bestätigt die Furcht vieler Menschen vor dem „Efecto Vox“. Dass Santiago Abascal damit prahlt, dass er jeden Tag mit einer Smith & Wesson unterwegs ist und fordert, dass „jeder Spanier eine Waffe zur Selbstverteidigung tragen darf“, tut das Übrige. Hier merkt man auch, wer der Berater von Vox gewesen ist: Steve Bannon. Jener Steve Bannon, der auch Trump beraten hat, und im Moment versucht, eine rechtsextreme Bewegung in Europa aufzubauen (hier mehr dazu). Der Diskurs der AfD ist schrecklich, wirkt aber im Gegensatz zu Vox fast harmlos (von den AfD-Verbänden in Sachsen, Thüringen, etc. mal abgesehen, die sind Vox tatsächlich ähnlicher). Obwohl sie viele „politische“ Ziele teilen. Die Rhetorik ist einfach durchgehend so, wie die Skandalreden mancher AfD-Politiker. Es ist, als hätte man Youtube-Trolls in die Realität entlassen. Zwar wurde auch der AfD von manchen großen deutschen Medien eine Plattform geboten, was aber manche spanische Medien für Vox getan haben, liegt jenseits von Gut und Böse. Antena 3, Telecinco und Zeitungen wie ABC haben diese Partei unglaublich gepuscht (genauso, wie sie es mit Ciudadanos ab 2015 gemacht hatten) und den rechtsextremen Diskurs salonfähig gemacht. Selbst als Vox bei Umfragen bei nur 1,5% lag, gab es täglich unkritische Interviews mit ihnen, was dazu führte, dass sie ihren Diskurs normalisieren konnten. Selten wurde irgendeine Aussage hinterfragt oder die reißerische Rhetorik kritisiert…also wurde es normal.

Aber auch das wäre an und für sich kein Problem; denn solange niemand mit ihnen regiert, würde es eine Randerscheinung bleiben. Doch während die CDU in Deutschland eine Koalition mit der AfD strikt ablehnt, konnte die PP von Casado gar nicht schnell genug mit Vox ins Bett hüpfen. Die Diskurse waren sowieso nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Wie sagte Aznar nach den Wahlen so treffend: lasst uns zusammenführen, was zusammen gehört. Da Ciudadanos sich jetzt allerdings plötzlich zierte, mit Vox offiziell zu koalieren – weil sich der Großteil der Ciudadanos-Wähler in der Mitte einordnen und sie solch eine rechts-rechtsextreme Koalition abschrecken könnte – fand man einen ungewöhnlichen Mittelweg: PP und Ciudadanos unterschrieben einen Koalitionsvertrag und bilden die Regierung, doch Vox und PP unterschrieben ihrerseits auch einen Vertrag, mit dem Vox die neue Minderheitenregierung mit ihren Stimmen unterstützt. So kann Ciudadanos zwar sagen, dass sie nicht mit Vox regieren, aber nichts kann die Tatsache verstecken, dass Ciudadanos nur mitregieren kann, weil sie von Vox unterstützt werden und zumindest einen Teil der Forderungen von Vox mittragen (z.B. eine Namensliste mit all denen anzulegen, die für NGOs arbeiten, die sich für Einwanderer einsetzen; Krankenhäuser und Ärzte dazu zu zwingen, Migranten ohne Papiere zu melden oder feministischen Vereinen die Subventionen zu streichen). Dies löste natürlich bei den europäischen Partnern von Ciudadanos (u.a. FDP, Macron) ein gewisses Unbehagen aus. Vor allem bei Macron, von der FDP hat man nicht sehr viel gehört. Erstaunlich ist allerdings das öffentliche Schweigen der CDU und der Europäischen Volkspartei – die europäischen Partner der PP – als wäre es etwas ganz normales, mit Neofranquisten zu regieren. Bei der Fidesz von Orbán oder der ÖVP von Kurz tut man sich zwar auch schwer, aber Kritik war trotzdem vernehmbar (zumindest von der CDU, die CSU schafft es ja noch nicht einmal jetzt). Aber vielleicht sind auch andere Zeiten angebrochen, in denen man sich selbst in der CDU „neue Wege“ vorstellen kann (man siehe Teile der CDU in Sachsen und Sachsen-Anhalt). 

Eine Sache sollte noch erwähnt werden: am 01. Dezember 2018 waren Jordi Sànchez und Jordi Turull in einen unbefristeten Hungerstreik getreten, und am 03. Dezember hatten sich ihnen Josep Rull und Joaquim Forn angeschlossen. Zum einen wollten sie damit die Leute wachrütteln, zum anderen war es aber auch ein Mittel des Protestes gegen das Verfassungsgericht. Denn das spanische Verfassungsgericht blockierte seit Monaten etwa ein Dutzend Verfassungsbeschwerden von Seiten der Inhaftierten (hauptsächlich ging es um die Freilassung aus der U-Haft). Anstatt sie einfach abzulehnen, was dazu geführt hätte, dass man direkt vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hätte ziehen können, hatte es sie angenommen, aber über ein Jahr lang nicht bearbeitet (normalerweise müssen solche dringlichen Beschwerden innerhalb von 30 Tagen bearbeitet werden, die erste wurde im November 2017 eingereicht). Diese Situation steht im krassen Gegensatz zu anderen Fällen: als die Verantwortlichen des faschistischen Angriffs auf die katalanische Delegation in Madrid (Fall Blanquerna; 2013) im Jahr 2017 ins Gefängnis gehen sollten, nahm das Verfassungsgericht die Beschwerde der Anwälte an (die in Berufung gegangen waren) und ordnete Sicherungsmaßnahmen an, solange es nicht endgültig entschieden hatte. Keiner der Verurteilten betrat jemals das Gefängnis.

Auch, wenn sich theoretisch mit den Andalusien-Wahlen für Katalonien nichts veränderte, hatte das Wahlergebnis für das ohnehin schon angespannte politische Klima nur negative Konsequenzen. Casado, Rivera und Abascal intensivierten ihren aggressiven Diskurs gegen Katalonien, die katalanische Schule, die Mossos, etc. Und Pedro Sánchez machte es ihnen nach, wohl um zu verhindern, dass seine Wähler nach rechts abwandern. Da Puigdemont weiterhin durch Europa reiste, Konferenzen hielt und in Parlamenten auftrat, und auch Torra von manchen Universitäten eingeladen wurde, gründete die spanische Regierung das neue Staatssekretariat España Global, um das Bild Spaniens im Ausland zu verbessern. Damit ersetzte man das Amt des Hochkommissars für die Marke Spanien (Alto Comisionado del Gobierno para la Marca España), das 2011 von Rajoy ins Leben gerufen worden war. Doch während „La Marca España“ vor allem dazu da war, Spanien als attraktives Land für Reisen, Geschäfte und Investitionen darzustellen, hat „La España Global“ bisher nur ein Ziel: «Spanien so darzustellen, wie es ist; eine „full democracy“» (Josep Borrell). La España Global hängt direkt vom Außenministerium (d.h. von Josep Borrell) ab und wird von Irene Lozano geführt. Bis 2015 war Lozano Kongressabgeordnete für UPyD, einer zentralistischen und spanisch-nationalistischen Partei, die sich mittlerweile aber fast vollständig in Ciudadanos aufgelöst hat (hat nur noch knapp 800 Mitglieder; rutschte von 1,1 Mio. Stimmen – 4,7% – im Jahr 2011 auf ca. 50.000 Stimmen – 0,2% – im Jahr 2016). Natürlich wunderten sich viele, dass nun genau diese Frau, die eigentlich keinen der Werte der PSOE teilt, für die PSOE Spanien im Ausland vertreten sollte. Aber naja, Borrell ist Mitglied der PSOE und passt ideologisch eher zu Ciudadanos (es wird immer darüber gewitzelt, wann er endlich übertritt), was soll uns da noch wundern.

Eine der ersten Aktionen von España Global war es, alle spanischen Botschafter und Konsule dazu anzuhalten, zu jedem Meeting oder Treffen zu gehen, das separatistische Politiker im Ausland halten könnten, um ihnen zu widersprechen. So kam es z.B. zu einem surrealen Auftritt des spanischen Generalkonsuls in San Francisco, der mit seinem beschämenden Spanglish versuchte, Torra zu widersprechen (hier). Desweiteren hat man Dossiers an alle großen Medien im Ausland geschickt, in denen man den Journalisten „die richtigen Fakten“ aufzeigen will. So gibt es ein Dossier zu den Ereignissen im September/Oktober 2017, in dem aber nur von 2 Verletzten am 1-O gesprochen wird (offiziell – und selbst von Borrell anerkannt – mussten 4 Personen mehrere Tage im Krankenhaus behandelt werden; die spanische Regierung erkennt nur diese als Verletzte an, und nicht die knapp 1.000, die in Gesundheitszentren und von Notärzten auf der Straße wegen Prellungen, Quetschungen und weniger schweren Wunden behandelt wurden und die nicht stationär im Krankenhaus behandelt werden mussten). Im Dossier „12 Falschheiten gegen Spanien“ erzählt man zwar, u.a. dass der Tatbestand der Rebellion in Deutschland dem des Hochverrats entspricht und dass Amnesty International die katalanischen Gefangenen nicht als „politische Gefangene“ bezeichnet, vergisst aber zu erwähnen, dass ein deutsches Gericht Puigdemont eben deswegen nicht ausgewiesen hat (weil die dafür nötige Gewalt nicht existiert hat) und dass Amnesty International mehrmals gefordert hat, z.B. den Vorwurf der Rebellion fallen zu lassen und Jordi Sànchez und Jordi Cuixart freizulassen. Davon abgesehen hat Irene Lozano auch schon mehrmals ziemlich daneben gegriffen: zum einen hat sie in einem BBC-Interview erklärt, dass die katalanischen Angeklagten „Straftaten begangen haben“, obwohl sie noch nicht einmal verurteilt sind (Unschuldsvermutung? Gewaltenteilung?); zum anderen hat sie bei SkyNews das Referendum mit einer Vergewaltigung verglichen („Ich benutze immer folgende Metapher: Sex ist nicht illegal, wählen auch nicht, aber du darfst es nicht erzwingen. Du musst die Erlaubnis haben, ansonsten ist das Vergewaltigung“). „Vergleichen sie gerade das Referendum mit einer Vergewaltigung?“, fragte der Moderator mit offenem Mund. Man entschuldigt sich, sagt es war ein Missverständnis (obwohl man die Metapher „immer“ benutzt) und weiter geht’s. Anzumerken ist allerdings auch, dass ein Teil des diplomatischen Korps Spaniens sehr schlecht auf Lozano zu sprechen ist, weil sie sich wohl zu sehr aufspielt, viel zu lange Berichte zu unwichtigen Treffen verlangt und alle spanischen Diplomaten dazu angehalten halt, ihre Tweets zu retweeten, um sie in der Öffentlichkeit sichtbarer zu machen.

Aber König der Missverständnisse, Fettnäpfchen und Beleidigungen ist Josep Borrell selbst. Schon im Juni 2018 hatte er in Katalonien ziemliches Aufsehen erregt, als er im Fernsehen behauptete, dass „Katalonien am Rande eines Bürgerkriegs“ stünde. Es war einfach nur grotesk, als wenn jemand über Bayern sagen würde, dass das Land am Rande des Bürgerkriegs stünde. ERC erinnerte Borrell daran, dass er Außenminister und nicht Propagandaminister ist, und JuntsxCat bezeichneten ihn als Pyromanen und Lügner. Aber so ist er halt: er löscht Feuer mit Benzin. Als im November 2018 bestätigt wurde, dass er zu einer Geldstrafe in Höhe von 30.000 € wegen Insiderhandels verurteilt wurde, und Teile der Opposition begannen, seinen Rücktritt zu fordern, legte er einen Skandal drauf und tätigte bei einer Podiumsdiskussion folgende Aussage: „Die USA haben keine Probleme mit Separatismus, weil sie aus einer Unabhängigkeit entstanden sind, hinter der keine Geschichte stand. Das einzige, was sie gemacht haben, ist vier Indianer zu töten und das war’s; der Rest war einfach“. Einfach nur zum Fremdschämen. Mal ganz davon abgesehen, dass über 60.000 Ureinwohner Nordamerikas bei den über 40 Indianerkriegen und Zwangsdeportationen des 19. Jhds. getötet wurden und wohl hunderttausende bei Massakern während der „Westerweiterung“ und dem Goldrausch ermordet wurden (z.B. allein in Kalifornien ca. 100.000 in den ersten beiden Jahren des Goldrausches Mitte des 19. Jhd.; siehe Edward D. Castillo), starben Millionen an den importierten Krankheiten, Sklaverei und Hunger. Von den zwischen 10 und 12 Mio. Native Americans, die im 17. Jhd. wohl in dem Gebiet lebten, das heute die USA ist, blieben 1890 nur knapp 250.000 übrig (in Kalifornien z.B. lebten bei der Eroberung durch die USA im Jahr 1848 ca. 150.000 Ureinwohner, im Jahr 1900 waren es nur noch 16.000). Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: noch am selben Tag bezeichnete die AIM (American Indian Movement) Borrell als Rassisten und Supremacisten, der den Völkermord an den indigenen Völkern Amerikas banalisiert.

Andererseits erntete er in Großbritannien ziemlich viel Kritik dafür, dass er bei den Brexit-Verhandlungen auf das Vetorecht Spaniens beharrte, von Großbritannien forderte, Gibraltar als britische Kolonie anzuerkennen und sagte, dass Großbritannien auf jeden Fall noch vor Spanien auseinander brechen würde. In der rechten Presse Spaniens erntete er dagegen sehr viel Lob; wenige Anliegen finden dort mehr Anerkennung als die Bemühung, Gibraltar zurück unter spanische Souveränität zu bringen. Diese Unterstützung ist allerdings mehr als instabil: als Borrell in einem BBC-Interview sagte, dass Katalonien eine Nation sei und dass er persönlich bevorzugen würde, dass die katalanischen Gefangenen aus dem Gefängnis entlassen werden, weil er glaubt, dass es andere Möglichkeiten gibt, ihre Flucht zu verhindern, wurde er von den Medien, die ihn zuvor noch gehypt hatten, öffentlich gekreuzigt: OkDiario, ABC, El Mundo, etc. und natürlich Vox und Ciudadanos forderten seinen Rücktritt, weil er die „Putschisten“ beschütze. Borrell lebt aber in seiner eigenen Welt. Im Oktober 2018 entzog er dem Delegierten der flämischen Regierung in Madrid den Diplomatenstatus, weil sich das flämische Parlament für die Freilassung der katalanischen Gefangenen ausgesprochen hatte. Dies führte zu einer diplomatischen Krise zwischen Belgien und Spanien, die aber nichts neues war. Es hatte auch schon zuvor diplomatische Krisen gegeben, u.a. mit Finnland, Lettland, den Philippinen und Bulgarien: auf Druck der spanischen Regierung entließen allesamt ihre Generalkonsule in Barcelona, weil sie angeblich der Unabhängigkeitsbewegung zu nahe standen. Gegen Ende des Jahres 2018 hatte Borrell noch zwei Glanzmomente: zum einen bezichtigte er einen ERC-Abgeordneten, ihn im Kongress angespuckt zu haben (zum Glück gibt es Kameras, und nach einer Analyse in ALLEN spanischen TV-Sendern, kam man zu dem Schluss, dass Borrell gelogen hat), und zum anderen bat er eine US-amerikanische Moderatorin während eines Interviews, langsamer zu sprechen und mehr auf ihre Aussprache zu achten („and vocalize better, please“ – und sprechen Sie es besser aus, bitte). Zu einer Muttersprachlerin, die man perfekt verstanden hat. Der Hohn war groß. Wer sich mal ein Bild vom Temperament Borrells machen will, der sollte sich dieses Interview bei Conflict Zone (Deutsche Welle) angucken (Spoiler: zeitweise verlässt er wutentbrannt das Studio).

Keine Ahnung, ob das alles dazu beiträgt, dass Spaniens Image verbessert wird, aber ich hab da so meine Zweifel. Was in Katalonien überhaupt nicht gut ankam, war die Tatsache, dass Borrell bei einem Treffen des Europarats wieder davon sprach, dass es am 1-O nur zwei Verletzte und keine Polizeigewalt gegeben hätte. Dies sei „ein gutes Beispiel für Fake News“, da die meisten Videos und Bilder „Mossos zeigen würden, die auf die katalanische Feuerwehr einschlagen“ oder „die chilenische Polizei während der Diktatur von Pinochet“. Komisch nur, dass man auf den zehntausenden Videos vom 1-O nicht einen schlagenden Mosso sieht, die Orte ganz klar in Katalonien liegen, und die Menschen auf Katalanischen rufen. Zum Glück gibt es heute Handykameras, in anderen Zeiten hätten wir Borrell glauben müssen. Der letzte Paukenschlag von España Global kam dann im Februar 2019: ein Promo-Video, um das „wahre Spanien“ zu zeigen („the real Spain“). Warum? Warum muss ein Staat, der so davon überzeugt ist, dass er eine vollständige Demokratie ist, Propagandavideos veröffentlichen, um der Welt zu beweisen, dass man eine Demokratie ist? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Deutschland, Frankreich oder Dänemark sowas nötig hätten. Wenn sowas nötig ist, dann muss es Instanzen im Ausland geben, die anfangen zu zweifeln. Anders kann man sich dieses Video nicht erklären. Ob dieses durchgehende „Wir sind eine Demokratie“-Gehabe aber hilft, oder eher wie ein verzweifelter Versuch wirkt, sich selbst davon zu überzeugen, weiß ich nicht. Hier das Original-Video, und hier eine bearbeitete Version von Òmnium Cultural. 

Im Dezember 2018 stellte die PP ihren Bürgermeisterkandidaten für Barcelona vor (die Kommunalwahlen sind im Mai 2019): Josep Bou, ein katalanischer Unternehmer, der als Jugendlicher freiwilliges Mitglied der OJE war (Organización Juvenil Española – ‘Spanische Jugendorganisation’, Teil der franquistischen Einheitspartei Movimiento Nacional/ FET de las JONS) und der 1978 in die faschistische Fuerza Nueva eintrat, die dagegen kämpfte – teilweise auch mit politischen Morden – dass Spanien eine Demokratie wird. Heute leugnet er das, aber zum Glück gibt es Originaldokumente von Fuerza Nueva, in denen nicht nur sein vollständiger Name (José Bou Vila; damals durften katalanische Vornamen noch nicht geschrieben werden und erst recht nicht bei Fuerza Nueva), sondern auch sein damaliges Alter (23; 1955 geboren), sein Beruf (Bäcker; ihm und seiner Familie gehören heute zwölf Bäckereien in Katalonien) und seine Adresse (dort, wo sich damals die familieneigene Bäckerei befand) dokumentiert sind. Es ist schon komisch, wie uns immer alle verkaufen wollen, dass mit dem Ende der Diktatur alle in Spanien zu makellosen Demokraten geworden sind; selbst, wenn sie jahrelang aktiv gegen die Demokratisierung gekämpft hatten. Aber so ist das halt. So ist es auch kein Wunder, dass Bou bei seinen Meetings schon seit Jahren einen Satz zitiert, der von José Antonio Primo de Rivera – dem Gründer der faschistischen Falange Española und Sohn des Diktators Miguel Primo de Rivera – geprägt wurde: «España es irrevocable» (Spanien ist unumstößlich). Josep Bou ist kein PP-Mitglied, aber er will die „Españolidad“ (spanisches Wesen/ „Spanischheit“) Kataloniens verteidigen. Seine Rede beim Meeting, wo seine Kandidatur bekannt gegeben wurde, war wohl einer seiner surrealsten Auftritte. Er beharrte darauf, dass er Katalane und stolzer Spanier sein kann (als wenn das jemand in Frage stellen würde), und um seine Katalanität zu beweisen, zählte er alle seine katalanischen Nachnamen auf: «Ich heiße Josep Bou…i Vila, i Costa, i Font, i Barceló, i Fontarnau, i Pujals, i Sendra, i Soler, i Berenguer, i Solà i Puigdesens…ICH BIN KATALANE!» (natürlich sagte er das alles aber auf Spanisch). Würde ein separatistischer Katalane auf seine zwölf katalanischen Nachnamen pochen, um sich als besseren Katalane darzustellen, würde er als fremdenfeindlicher und identitärer Nationalist abgestempelt werden; tut dies aber ein spanisch-nationalistischer Katalane, so gilt er im Rest Spaniens als „guter Katalane“. Das Beste – von seinem histrionischen Auftritt mal abgesehen – waren allerdings die Gesichter der PP-Genossen (in erster Reihe, Andrea Levy und Pablo Casado), die sich wohl fragten, ob sie mit Bou wirklich die richtige Entscheidung getroffen hatten. Doch sie mussten sich was einfallen lassen, schließlich sagen alle Umfragen voraus, dass die PP es wohl nicht schaffen wird, ins barcelonesische Stadtparlament/Gemeinderat (Ajuntament de Barcelona) gewählt zu werden (manche Umfragen sprechen 0,6% der Stimmen).

Die Unionisten sind immer die ersten, die fordern, dass die Kommunalwahlen vom nationalen/territorialen Konflikt getrennt werden sollen, doch sind sie die ersten, die damit Wahlkampf machen. Anders ist auch die Kandidatur von Manuel Valls für Ciudadanos nicht zu erklären, der mit allen Mitteln verhindern will, dass die separatistischen Parteien Barcelona regieren. Doch nicht nur das: er will auch verhindern, dass Ada Colau und ihr Linksbündnis Barcelona en Comú weiterhin Barcelona regieren (die Tatsache, dass jetzt laut Gesetz 30% der Neubauwohnungen Sozialwohnungen sein müssen, dass Barcelona die Wasserversorgung wieder kommunalisiert hat, einen eigenen öffentlichen Stromanbieter gegründet hat, und dabei ist, Airbnb, Uber, etc., den Kampf anzusagen, ist für Valls und die Wirtschaftselite der Stadt ein Graus). Doch wer ist Manuel Valls? Eine kuriose Figur. 1962 während des Sommerurlaubs in Barcelona geboren, entstammt er einer gutbürgerlichen katalanisch-schweizerischen Familie, die aber schon seit Jahrzehnten in Paris lebte. Er wuchs in Frankreich auf, erlangte die französische Staatsbürgerschaft, ging mit 24 in die Politik, war von 2001 – 2012 Bürgermeister von Évry (bei Paris), von 2012 – 2014 Innenminister und von 2014 – 2016 Premierminister Frankreichs. Zwar war er bis 2017 Mitglied der französischen Sozialdemokraten (Valls, Hollande und Macron setzten ihren neoliberalen Flügel innerhalb der Parti Socialiste durch, was zum Niedergang der Partei führte: von 28,6% im Jahr 2012 fielen sie auf 6,3% im Jahr 2017; nach den französischen Präsidentschaftswahlen 2017 trat Valls dann aus der PS aus und schloss sich Macrons neuer La République en Marche an), aber bekannt wurde er vor allem wegen seines fremdenfeindlichen und harten Kurses gegen die Roma in Frankreich (neben seinen Aussagen, in denen er die Roma mit Bettlern und Dieben gleichstellte, ließ er über 5.000 rumänische und bulgarische Roma abschieben). Auch ein geheimer Mitschnitt seiner Aussage, dass es in seiner Stadt Évry mehr Weiße geben müsste, oder seine strikte Verweigerung, weitere Flüchtlinge aufzunehmen, sorgten für Furore. Wenige Monate nach dieser Aussage demonstrierten in Barcelona fast eine halbe Million Menschen dafür, mehr Flüchtlinge aufzunehmen (unter dem Motto «Casa nostra, casa vostra» – ‘Unser Haus ist euer Haus’). Niemand, wirklich niemand, versteht, was Valls jetzt in Barcelona sucht; wenn man mal davon absieht, dass seine politische Karriere in Frankreich vorbei und er bei den Franzosen verpönt ist. Man muss nur die französische Presse lesen, um zu wissen, wie lächerlich die Franzosen diesen Schritt von Valls finden. Es gab auch schon Dankesschreiben, nach dem Motto „Jetzt sind wir ihn los und ihr müsst ihn ertragen“.

Aber was will er in Barcelona? In einer Stadt, die er nur aus seinen Urlauben kennt; von der er kaum mehr kennt als die Viertel Horta, Eixample und Ciutat Vella (Altstadt)? Auf die Frage, wie teuer denn ein Bahn- oder Busticket in Barcelona sei, antwortete er: „Wir sollten über wichtigere Themen reden…aber, wenn ich das Taxi nehme, dann sind es zwischen 7 – 10 Euro“. Man kann kaum entfremdeter von einer Gesellschaft sein, die man vertreten will, wenn man „über wichtigeres“ sprechen möchte als die Preise des öffentlichen Nahverkehrs. Über 1,1 Mio. Menschen benutzen täglich das U-Bahnnetz Barcelonas (ca. 431 Mio./Jahr), über eine halbe Million benutzen täglich das Busnetz. Mit dem Taxi fahren – überraschenderweise – die wenigsten zur Arbeit. Die ersten Wochen nach der Ankündigung seiner Kandidatur widmete er sich ausschließlich seinem Image in den sozialen Netzwerken, um den Menschen zu zeigen, wie verwurzelt er doch in Barcelona ist. Er postete Fotos, während er Xurros und heiße Schokolade in der Traditionsbar La Pallaresa aß (kein Einheimischer geht da mehr hin, weil man wegen der Touristen stundenlang in der Schlange steht); während er ein Barça-Spiel im Camp Nou besuchte; wie er im Bar Pinotxo im Markt La Boqueria zu Mittag aß (auch hier findet man kaum noch Einheimische), etc. Nicht zu Unrecht witzelten die Leute bei Twitter damit, dass ihm wohl jemand einen Touristenführer geschenkt hatte. Es fehlte nur ein Foto bei der Sagrada Familia und beim Taubenfüttern auf der Plaça Catalunya. Doch was er für Barcelona machen will, weiß niemand. Er redet immer davon, wie katalanisch und spanisch er sich fühlt, und dass Spanien mehr auf Katalonien hören sollten, aber: Was glaubt der Mann eigentlich, was die Katalanen seit Jahrzehnten, wenn nicht sogar seit Jahrhunderten, versuchen? Als wenn er aus Frankreich kommen müsste, um uns zu erklären, was Sache ist. Und jemand, der sich mit Albert Rivera, Josep Borrell und Mario Vargas Llosa fotografieren lässt, erst recht nicht. Bei manchen seiner Diskurse, bei denen er gegen Katalanisten, Linke, Antimonarchisten (er hat ja gut reden, kommt er doch aus einer Republik) und Unabhängigkeitsbefürworter wettert, stehen einem die Haare zu Berge (allerdings, und das muss man ihm lassen, beleidigt er nicht so unverschämt wie andere).

Was wohl seine Vorfahren davon gehalten hätten? Denn Manuel Valls ist nicht einfach irgendwer: er ist der Sohn von Xavier Valls i Subirà (bester und zugleich unbekanntester Maler des Kataloniens der Nachkriegszeit; ging 1949 ins Exil nach Frankreich), der Cousin von Roser Capdevila i Valls (Autorin und Illustratorin der beiden erfolgreichsten katalanischen Zeichentrickserien, Les Tres Bessones – ‘Die Drillinge’ und La Bruixa Avorrida – ‘Die verflixte Hexe’; wurden in 158 Ländern ausgestrahlt), der Enkel von Magí Valls i Martí (überzeugter Katalanist; Schriftsteller und Dichter in katalanischer Sprache; Mitglied der katalanistischen, christdemokratischen Unió Democràtica de Catalunya), und der Urenkel von Josep Maria Valls i Vicens (Schriftsteller und Anwalt; Vorsitzender der Handelskammer von Barcelona; Mitglied der katalanistischen Partei Lliga de Catalunya und einer der Verfasser der Gründungsvereinbarung von 1890 der Unió Catalanista, einer der ersten politischen Plattformen, die alle katalanistischen Vereinigungen, Parteien und Vereine zusammen bringen wollte, um von Madrid die Selbstverwaltung zurückzufordern). Der Cousin seines Vaters Xavier, Manuel Valls i Gorina, war zudem der Komponist des Cant del Barça, der Hymne des F.C. Barcelona. Wer aus solch einer zutiefst katalanistischen Familie kommt, sollte sich nicht wundern, dass heute große Teile derjenigen, die seit 1978 dafür gekämpft haben, dass Spanien föderaler wird, Katalonien als Nation innerhalb Spaniens akzeptiert wird und dass die Anfeindungen gegenüber der katalanische Sprache aufhören, heute zu den Unabhängigkeitsbefürworter gehören. Auch in Manuel Valls Familie ist das so: fast alle seine Cousins, Tanten und Onkel, die noch in Katalonien leben, sind heute für die Unabhängigkeit. 

Am 21. Dezember 2018 sollte in Barcelona der spanische Ministerrat (Consejo de Ministros) tagen. Seit 1976 – noch mit dem von Franco zum Regierungschef ernannten Arias Navarro – hatte der Ministerrat nicht mehr in Barcelona getagt. Es sollte eine positive Botschaft, ein Annäherungsversuch der spanischen Regierung sein, doch große Teile der katalanischen Bevölkerung empfanden das als Provokation. Nicht unbedingt die Tatsache, dass der Ministerrat in Barcelona tagen wollte, sondern das Datum: der 21. Dezember, der Jahrestag der durch die Anwendung des Artikels 155 von Madrid aufgezwungenen katalanischen Parlamentswahlen am 21. Dezember 2017. Noch dazu wollte Pedro Sánchez das Treffen unbedingt in der Llotja de Mar, Mitten im Stadtzentrum, austragen, was nur zu einem Chaos führen konnte. Das Umfeld muss abgesperrt werden, d.h. es würde zu stundenlangen Staus kommen, die Menschen würden nur schwer an ihre Arbeitsplätze oder Wohnungen gelangen, die Geschäfte der Umgebung würden einen ihrer wichtigsten Verkaufstage verlieren (Freitag vor Weihnachten), etc. Das war aber egal, das Treffen musste dort stattfinden. Über 1.100 Guardias Civiles und Policías Nacionales wurden, mal wieder, nach Katalonien verlegt, um die Mossos bei ihrer Arbeit zu „unterstützen“. Denn schon in den Tagen vor dem 21. Dezember hetzten die Hauptstadtmedien gegen die Mossos. Weil sie bei Straßensperren der CDRs im Dezember nicht direkt mit Knüppeln auf die Demonstranten losgegangen waren, sondern versucht hatten, zuerst mit ihnen das Ende der Demonstrationen zu verhandeln, wurde den Mossos im Rest Spaniens „Inactividad“, also Untätigkeit, vorgeworfen. Was man im Rest des Staates nicht versteht, ist, dass die Mossos d’Esquadra nach den Demonstrationswellen 2011/2012, bei denen sie teilweise extrem gewaltsam gegen die Demonstranten der Bewegung 15-M vorgegangen waren, einen Wandel begonnen haben. Statt direkt zu intervenieren, setzt man mittlerweile auf Vermittlung und Verhandeln, um unnötige Gewalt zu verhindern (vor allem, weil Polizeigewalt oft zu Ausschreitungen führt). Diesen Wandel, der selbst bei den Mossos noch nicht vollständig vollzogen ist, wie Videos von Polizeigewalt bei anderen Straßensperren, etc. zeigen, gab es bei den spanischen Polizeikörpern aber nicht und man versteht ihn auch nicht.

Und was taten die Hauptstadtmedien? Diesen Diskurs gegen die Mossos fortführen, natürlich, und ihn mit „Videos“ der Gewalt in Katalonien zu „untermauern“. Sie zeigten Katalonien als einen Ort im totalen Chaos, mit Bildern von Demonstranten, die durch die Innenstadt marschierten, Schaufenster einschlugen und Restaurants verwüsteten. Was war das Problem mit diesen Videos? Sie stammten entweder gar nicht aus Katalonien oder waren aus anderen Jahren. So zeigte man Videos von den Gamonal-Protesten in Burgos (Kastilien; 2014), von Ausschreitungen in Barcelona in Solidarität mit den Gamonal-Protesten (2014), von Protesten im Ausland, und in LaSexta zeigte man Videos von den Balkan-Kriegen während man über Katalonien sprach. Besonders lächerlich war die Berichterstattung bei Antena3. Nicht nur, dass man in der Nachrichtensendung ein anonymes Dokument veröffentlichte, in dem die CDRs angeblich sagten, „über 6.000 Individuen rekrutiert“ zu haben, „um Chaos zu stiften und Katalonien mit Guerrilla-Taktiken anzugreifen“, man bezeichnete die CDRs auch als „Guerrilla“ und „Gewalttätige“. Niemand weiß, woher dieses Dokument kommt, aber ALLE CDRs (wir erinnern uns daran, dass sie keine gemeinsame Struktur haben, es sind autonome Nachbarschaftsvereine) haben sich davon distanziert. Und wie berichtete man bei Antena3 über die sogenannten „Gelbwesten“? Man sprach zwar von „Zusammenstößen“, aber nicht von Gewalt; man sprach von „Jugendlichen, die versuchten die Polizisten zu überraschen“, aber nicht von Gewalt; von „Protesten“ und „Aktivisten“, aber nicht von Terroristen, Chaos, Guerrilla oder Gewalt. In diesen Medien wurde versucht, die Situation vor dem 21. Dezember 2018 aufzuheizen, um bei möglichen Zwischenfällen die erneute Anwendung des Artikels 155 und den Rücktritt von Pedro Sánchez fordern zu können. Tatsächlich war in Katalonien alles normal; ja, es gab ab und zu Straßensperren der CDRs, aber jeder, der in Katalonien lebt oder sich zu der Zeit in Katalonien aufhielt, konnte bei der Berichterstattung einfach nur mit dem Kopf schütteln. Oder wütend werden. Immer mehr Katalanen berichten darüber, dass sie von besorgten Freunden und Familienangehörigen aus dem Rest Spaniens angerufen werden, um zu wissen, ob es ihnen gut geht. Denn Katalonien wäre ja ein einziges Chaos. Die Menschen konnten nur lachen, sagen, dass es ihnen gut geht und dass man nicht alles glauben soll, was man über Katalonien liest, hört oder im Fernsehen sieht.

Am 20. Dezember beendeten die vier katalanischen Gefangenen dann ihren Hungerstreik. Jordi Turull war zuvor auf die Krankenstation verlegt worden, weil sich sein Gesundheitszustand stark verschlechtert hatte. Nach 20 (Sànchez und Turull) bzw. 17 Tagen (Rull und Forn) wurde der Hungerstreik beendet, weil man das Hauptziel erreicht hatte: das Verfassungsgericht hatte angefangen, über die Beschwerden zu beraten und hatte einen entsprechenden Zeitplan veröffentlicht.

Am Abend des 20. Dezember trafen sich Pedro Sánchez und Quim Torra im Pedralbes-Palast (Palau Reial de Pedralbes), um über die Situation in Katalonien zu sprechen. Es war die erste bilaterale Begegnung zwischen der spanischen und katalanischen Regierung seit langem. Viel kam dabei nicht raus, aber immerhin ein gemeinsam verfasstes und unterschriebenes Dokument, in dem man feststellte, dass es „in Katalonien ein politisches Problem“ gibt, das nur „durch einen ernsthaften Dialog im Rahmen der Rechtssicherheit“ gelöst werden kann. Das mag bescheuert wirken, aber bis zu dem Zeitpunkt hatte die Regierung immer geleugnet, dass es in Katalonien einen politischen Konflikt gibt. Während man in separatistischen Kreisen hervorhob, dass man statt „im Rahmen der spanischen Verfassung“ nun „im Rahmen der Rechtssicherheit“ geschrieben hatte und daraus interpretierte, dass Sánchez vielleicht doch ein verhandeltes Referendum in Erwägung zog (was dieser sofort dementierte), fielen die Hauptstadtmedien über Sánchez her. „Sánchez, Gefangener seines Paktes“/ „Sánchez verkauft sich an Torra“ (ABC; die Rechte war überzeugt davon, dass Sánchez mit den Separatisten einen Pakt hatte), „Die Kapitulation von Pedralbes“/ „Das Foto der Erniedrigung“ (El Mundo), „Sánchez kapituliert vor Torra“ (La Razón), „Sánchez wäscht Torra rein“ (El Español) oder „Sánchez verkauft Spanien, um weiterregieren zu können“ (OkDiario), waren nur einige der Schlagzeilen; die Leit- und Meinungsartikel waren um einiges aggressiver („Sánchez vollzieht den Verrat an Spanien für die Unterstützung der Putschisten“, „Sánchez führt Spanien an den Rand eines Bürgerkriegs“, „Sánchez ist der Judas Spaniens“, etc.). Und wir sprechen hier nicht von rechtsextremistischen Medien wie La Gaceta (ca. 3 Mio. Unique User/Monat), Periodista Digital (5,2 Mio. Unique User/Monat), Libertad Digital (5,8 Mio. Unique User/Monat), Intereconomia TV, COPE, 13TV, etc. Es sind die wichtigsten Zeitungen und Online-Medien der parlamentarischen Rechten Spaniens (PP/Ciudadanos). El Mundo ist die zweitgrößte Tageszeitung Spaniens (Auflage: 230.000/Tag; über 21 Mio. Unique User/Monat); ABC erreicht mit ihrer Print- und Onlineausgabe ca. 600.000 Leser täglich; La Razón hat eine Auflage von ca. 100.000 Exemplaren/täglich, aber auch eine wachsende Onlinepräsenz (6 Mio. Unique User/Monat) und OkDiario – nur online verfügbar und in viele Korruptions- und Spionageskandale verwickelt – steigert seine Reichweite um fast 20% monatlich (im Moment zwischen 9 und 11 Mio. Unique User/Monat). Das ist wie als hätten sich die FAZ, der Focus, Die Welt, die Junge Freiheit, Compact und die BILD zusammengetan, um Merkel als „Volksverräterin“ zu bezeichnen, weil sie z.B. mit Yanis Varoufakis gesprochen hat (mir ist grad kein besserer „Feind“ der deutschen Konservativen eingefallen). Es war so surreal die ganzen Schlagzeilen und Artikel zu lesen, obwohl doch gar nichts passiert war. Was war denn der Skandal? Dass Sánchez sich mit Torra getroffen hatte? Dass Sánchez und Torra zu dem Schluss gekommen sind, dass es in Katalonien einen politischen Konflikt gibt, den man nur mit Politik, Dialog und Demokratie lösen kann? Mehr stand in dem Dokument ja nicht. Aber für große Teile der spanischen Bevölkerung war das Bild vom spanischen Präsidenten mit dem „größten Feind Spaniens“ anscheinend sehr skandalös. 

Am 21. Dezember war dann der große Tag: würde es in Katalonien zum großen Knall kommen oder würde alles normal verlaufen? Naja, in Katalonien fragte sich das eigentlich niemand. Jeder wusste, dass es Proteste geben würde, die aber wie immer friedlich sein würden. Vielleicht würde es ein paar Zwischenfälle geben, aber nichts außergewöhnliches. Die insgesamt 9.000 Polizisten (Mossos, Guardia Civil und Policía Nacional), die das Gebiet um die Llotja de Mar herum absperrten und bewachten, wirkten zwar einschüchternd und zugleich provozierend, doch niemand rechnete mit dem Chaos, der in den spanischen Medien angekündigt wurde. Die Panik, die die großen Medien schürten, hinterließen nichtsdestotrotz ihre Spuren. Viele vermieden es, an dem Tag in die Stadt zu fahren. Schon in den frühen Morgenstunden versammelten sich zehntausende Menschen an den Absperrungen, um gegen die spanische Regierung zu demonstrieren. Natürlich kamen auch die CDRs, was ziemlich lustig war. Die Hauptstadtmedien waren da, um die gefährlichen CDRs zu interviewen, doch ihre Ansprechpartner waren zumeist ältere Frauen um die 60, die ihnen sagten, sie sollen aufhören zu lügen. „Wir sind die CDRs!“, riefen sie.

Òmnium Cultural hatte – zusammen mit der ANC und 15 weiteren Vereinen – in der Nähe einen alternativen „Volksrat der Minister“ (Consell Popular de Ministres) organisiert. Anstatt der zuständigen Minister traten dort dann Vertreter verschiedener Vereinigungen auf, die die Probleme der einzelnen Ministerien anprangerten (z.B. Vertreter des Front d’Alliberament Gai de Catalunya und der feministischen Bewegung statt der Ministerin für Gleichberechtigung; Vertreter der Bauerngewerkschaft Unió de Pagesos statt des Landwirtschaftsministers; Vertreter von SOS Racisme statt der Ministerin für Arbeit, Migration und Soziales; Vertreter der Associació Catalana de Drets Humans statt der Justizministerin; Vertreter von Stop Mare Mortum statt des Außenministers, etc.). Zehntausende wohnten diesem Event bei. Das Klima war friedlich: feierlich, aber auch empört und fordernd. Die ANC hatten die Menschen zudem dazu aufgerufen, als Zeichen des Protestes langsam durch die Stadt zu fahren und den Verkehr so aufzuhalten. Einige lokale CDRs konzentrierten sich dagegen auf die Straßensperren und sperrten vor allem bis zum späten Vormittag (ab Mittag waren alle Straßen wieder frei) fast alle Zufahrtsstraßen nach Barcelona, einige Autobahnen am Grenzübergang zu Frankreich und an den Grenzen zu Aragón und Valencia. An diesem Tag fuhren laut Verkehrsbehörde über 50% weniger Autos durch Barcelona als an „normalen“ Freitagen.

Eines muss allerdings gesagt werden: obwohl der Großteil der Demonstrationen friedlich war, gab es auch ein paar Zwischenfälle; vor allem mit vermummten Jugendlichen. Im Vorfeld hatte es innerhalb des separatistischen Lagers eine Debatte gegeben: sollte man akzeptieren, dass die Menschen bei den Demonstrationen ihre Gesichter vermummen? Eigentlich war der Großteil dagegen. Allerdings hat das Knebelgesetz von 2015 eine ziemlich negative Folge für Demonstranten: die Polizisten filmen die Demonstrationen, identifizieren die Teilnehmer und verhängen dann im Nachhinein Ordnungsstrafen, die zwischen 100 und mehreren Tausend Euro schwanken können; je nachdem, wie dem Polizeibeamten zu Mute ist. Und dabei ist es egal, ob man tatsächlich ein Unruhestifter war oder nicht. Selbst Journalisten, die über Demonstrationen berichtet haben, wurden schon zu hohen Bußgeldern verdonnert, obwohl man auf den „Beweisbildern“ ganz klar sah, dass sie Presse-Westen/-Armbinden und Kameras trugen. Natürlich konnten die Gegner der Vermummung dieses Argument nachvollziehen, trotzdem war der Konsens, dass man sich nicht vermummen würde. Einige kamen trotzdem mit Sturmmasken, etc., was ihnen von den restlichen Demonstranten allerdings auch lauthals vorgehalten wurde. Und es waren auch diese Vermummten, die versuchten, an mehreren Punkten die Polizeiabsperrung zu überwinden. Das führte natürlich dazu, dass die Polizei eingriff. Leider teilweise auch ziemlich brutal. Selbstverständlich teile ich die Empörung, die das auslöste; es waren keine schönen Bilder, wie manche Mossos hinter Demonstranten herjagten, sie mit Schlagstöcken schlugen oder sie mit Foam-Geschossen (geschäumter Kunststoff) beschossen. Aber es hatte halt Provokationen gegeben (z.B. wurden Dosen und Farbe geworfen, es wurde versucht, die Absperrung zu überwinden), weshalb man damit rechnen  musste, dass die Polizei eingreift. Allerdings kam es auch zu einem besonders unschönen Zwischenfall: durch eines der Foam-Geschosse wurde ein Demonstrant so verletzt, dass ihm ein Hoden entfernt werden musste. Insgesamt nahm die Polizei 15 Menschen fest; über 62 Personen mussten ärztlich versorgt werden (darunter auch über 20 Mossos). Hier zwei Videos der Zwischenfälle, die sich allerdings auf zwei Punkte der Innenstadt konzentrierten (Via Laietana und Avinguda Drassanes). 

Wie man sieht, waren es vor allem die Jugendlichen, die sich vermummten und am aggressivsten protestierten. Sie gehören vor allem der „separatistischen Linken“ (Esquerra Independentista) an, die man vielleicht am ehesten mit der deutschen Interventionistischen Linken vergleichen kann. Allerdings ist es keine Partei oder Organisation, sondern eine politische Bewegung. Ihre Organisationen sind vor allem die CUP, Arran, La Forja – Jovent Revolucionari, die Studentengewerkschaft SEPC (Sindicat d’Estudiants dels Països Catalans) und die Gewerkschaften COS (Coordinadora Obrera Sindical) und die Intersindical-CSC. Arran und La Forja – die beiden Jugendorganisationen – kommen in den gesamten katalanischsprachigen Regionen auf etwa 600 Mitglieder (500 Arran und ca. 100 La Forja). Nur, um zu wissen, wie repräsentativ sie für die Unabhängigkeitsbewegung sein können oder eben nicht. In diesen Kreisen werden die Stimmen lauter, die meinen, dass man aktiver protestieren müsse; dass man mit „Schleifen und Nelken“ nichts erreicht hat. Nur Repression. Und wenn man in Spanien so überzeugt davon ist, dass man in Katalonien gewalttätig ist und deshalb schon Leute vor Gericht stellt, obwohl gar nichts passiert war, dann sollte man ihnen doch einfach einen echten Grund geben. Und ganz Unrecht haben sie nicht: was ist das für eine Botschaft, die man an eine empörte Bevölkerung sendet, wenn Menschen, die an einer Straßensperre teilgenommen haben, wegen Terrorismus angeklagt werden? Wenn man nichts macht (höchstens eine Ordnungswidrigkeit), und trotzdem behandelt wird, als hätte man eine Bombe gelegt, warum sollte man da nicht mal Müllcontainer in Brand setzen? Zumindest wären dann die strafrechtlichen Konsequenzen gerechtfertigter und man würde vielleicht etwas mehr internationale Aufmerksamkeit bekommen. 

ERC und JuntsxCat distanzieren sich konsequent von solchen Gedanken: für sie gibt es nur den gewaltfreien Protest. Mit Streiks, einer massiven zivilen Mobilisierung, um Madrid zum Handeln zu zwingen, und zivilem Ungehorsam, aber immer gewaltfrei. Das sah man auch an den restlichen Demonstranten, die den Störenfrieden zuriefen, dass sie aufhören sollen; sich vor sie stellten, wenn sie versuchten, Mülltonnen zu bewegen oder den Absperrzaun zu durchbrechen, etc. Allerdings bekamen sie dabei auch öfter Schläge von den Mossos ab, die nicht zwischen den Leuten unterschieden, die z.B. von der einen Seite gegen den Zaun drückten, um ihn umzukippen, und denjenigen, die sich auf die andere Seite gestellt hatten, um dies zu verhindern. Wichtig war auch die Arbeit der Feuerwehrleute (mit den orangenen Westen): sie gehören zumeist zur Berufsfeuerwehr der Generalitat (Cos de Bombers de la Generalitat), sind zum größten Teil in der Gewerkschaft COS organisiert und haben sich beim 1-O den Respekt vieler Katalanen verdient, als sie sich schützend vor die Wähler und Demonstranten warfen und viele Schläge der spanischen Polizei abbekamen. Dieses Mal stellten sie sich zwischen die aufgebrachte Menge und die Mossos, und verhinderten so zum einen, dass einzelne Demonstranten die Polizeiabsperrung überwinden konnten und zum anderen, dass sich die Stimmung noch weiter aufheizte. Dass die Unabhängigkeitsbewegung aber anders ist, als diese vereinzelten Zwischenfälle, sieht man hier (1. der Consell Popular de Ministres von Òmnium Cultural und 2. die Demo „Tombem el règim“ – ‘Lasst uns das Regime stürzen’ am Abend, über 80.000 Teilnehmer): 

Das Leben in Katalonien ging weiter; wie immer. Auch die spanische Regierung machte aus den vereinzelten Zwischenfällen kein Drama: ihr Ministerrat hatte ungestört im Herzen Barcelonas tagen können. Eine der Entscheidungen, die bei diesem Treffen getroffen wurden, war, den Flughafen Barcelonas (Aeroport de Barcelona – El Prat) in Aeroport de Josep Tarradellas Barcelona – El Prat umzubenennen. Das kann die Regierung einfach so entscheiden, weil der Flughafen von der staatlichen AENA verwaltet wird und nicht, wie seit Jahren gefordert, von der Generalitat. Natürlich ist es nur eine symbolische Namenänderung, niemand wird den Flughafen tatsächlich so nennen, aber trotzdem kam das bei vielen Katalanen gar nicht gut an. Nicht unbedingt die Tatsache, dass sich die spanische Regierung für Josep Tarradellas entschieden hatte (Tarradellas war jahrelang der Präsident der katalanischen Exil-Regierung während der Diktatur, und war die Person, die es während der Transición schaffte, die katalanische Autonomieregierung wieder einzuführen), sondern, dass die spanische Regierung die Änderung beschloss, ohne mit der katalanischen Regierung, den jeweiligen Stadtverwaltungen (El Prat de Llobregat und Barcelona), etc. zu sprechen. Es war ein erneuter Akt der Bevormundung, ein erneutes Aufzwingen einer Entscheidung, bei der man nichts zu melden hatte. Mal ganz davon abgesehen, dass die Namensänderung unnötig war und nur verstanden werden kann, wenn man weiß, dass sowohl die PP (änderte 2014 den Namen des Flughafens von Madrid in Aeropuerto Adolfo Suárez Madrid-Barajas um; Suárez war der spanische Präsident während der Transición) als auch die PSOE dabei sind, die Persönlichkeiten der Transición „wiederauferstehen“ zu lassen, um den sozialen Bewegungen, die mit der Transición und der damit verbundenen Nichtverarbeitung der Diktatur brechen wollen (u.a. Podemos, die baskischen, galicischen und katalanischen Regionalisten/ Nationalisten/ Separatisten, die Feministinnen, etc.), entgegenzuwirken. 

Weitere Maßnahmen, die nach dem Treffen bekannt gegeben wurden, waren u.a. die Erhöhung des Mindestlohns von 735€ auf 900€/Monat (Dank des Drucks von Podemos; die PSOE wollte 800€, Podemos 1.200€; in Deutschland liegt er bei 1.470€), die Erhöhung der Beamtengehälter und eine Investition von 113 Mio. Euro ins Straßennetz Kataloniens (aber nur ins staatliche Straßennetz). Außerdem erließ man eine Erklärung, in der die Regierung „den Militärprozess (Consejo de Guerra) gegen Lluís Companys ablehnt und verurteilt“. Das war zwar nett gemeint, aber unbedeutend. Das, was man in Katalonien seit der Wiedereinführung der Demokratie fordert, ist die Annullierung des Prozesses gegen Companys. Weiter oben habe ich bereits erklärt, wer Lluís Companys i Jové war, aber eines ist noch wichtig zu erwähnen: Er ist der einzige demokratisch gewählte Regierungspräsident Europas, der vom Faschismus hingerichtet wurde. Frankreich und Deutschland haben sich bereits öffentlich dafür entschuldigt, an seiner Festnahme und Auslieferung an Franco beteiligt gewesen zu sein, aber die spanische Justiz weigert sich bis heute, den Prozess zu annullieren, um seinen Namen rein zu waschen. Und die jeweiligen spanischen Regierungen haben es „noch nicht geschafft“, ein Gesetz zu erlassen, damit dies endlich geschieht.

Was allerdings positiv aufgenommen wurde, war die Tatsache, dass die Ministerin für Territorialfragen, Meritxell Batet (aus Barcelona, vom PSC), bei der anschließenden Pressekonferenz einige Fragen auf Katalanisch (und Gebärdensprache) beantwortete. Das war etwas, was es noch nie gegeben hatte. 

Der Januar 2019 verlief zunächst ohne nennenswerte Zwischenfälle. Pedro Sánchez wollte seinen Haushaltsplan im Parlament durchbringen, war aber auf die Unterstützung der katalanischen Parteien angewiesen. Ihre Bedingung: einen ernsthaften Dialog über ein Referendum zu beginnen. Das lehnte Sánchez aber vehement ab. Mit ihm würde es kein Referendum geben. Zwar war der Haushaltsplan für Katalonien nicht schlecht – Sánchez lockte mit einer Investition von 2 Milliarden Euro, knapp 700 Mio. mehr als Rajoy Katalonien hatte zukommen lassen – doch auch diese Investition verstieß gegen das Autonomiestatut Kataloniens: laut dem Statut, das Teil der spanischen Verfassung ist, muss die staatliche Investition in Katalonien so hoch sein, wie der Anteil der katalanischen Wirtschaft am spanischen BIP. Also 19,2%, der gesamten staatlichen Investitionen, und nicht wie im Haushaltsplan veranschlagt 16,8%. Aber das war eigentlich besser als nichts; so nah am vorgeschriebenen Prozentanteil waren die staatlichen Investitionen seit 2009 nicht mehr. ERC spielte sogar mit dem Gedanken, für den Haushaltsplan zu stimmen, was den PDeCAT ziemlich verärgerte. Konnte man bedingungslos für einen Haushaltsplan stimmen, während die Regierung nichts dafür tat, um den Konflikt zu lösen? Während es immer noch politische Gefangene gab? 

Allerdings gab es am 16.01.2019 einen Vorfall, der die Gemüter in Katalonien wieder erhitzte: 16 Personen – darunter zwei Bürgermeister (CUP) und ein Pressefotograf – wurden in Girona von der Policía Nacional festgenommen. Sie sollten an den Protesten am Jahrestag des 1-O teilgenommen haben und zusammen mit über 400 anderen Personen die Gleise im Bahnhof von Girona blockiert haben. Die Polizei hatte aber keinen Haftbefehl, auch nicht vom zuständigen Richter; warum nahm sie also Menschen fest, obwohl die „Tat“ über 3 Monate zurücklag? Hätte es nicht gereicht, die Personen zur Aussage vorzuladen, wie es sonst immer der Fall ist? Es geht schließlich um den Vorwurf der „Störung der öffentlichen Ordnung“, nicht um ein Gewaltdelikt o. Ä. Der Fall des Pressefotografen war besonders skurril: er wurde auf offener Straße von vier Beamten in Zivil in ein Auto „gesetzt“ und zum Revier gefahren. Dort zeigten sie im die „Beweisfotos“, auf denen allerdings klar zu sehen war, dass er als „Presse“ ausgewiesen war und Fotos von den Ereignissen schoss. Einer der verhafteten Bürgermeister (Ignasi Sabater, Verges) war an jenem Tag sogar nachweislich woanders…Außerdem wurde dem Anwalt einiger Verhafteter, Benet Salellas, mehrere Stunden lang der Zugang zum Polizeirevier verweigert, weil er auf Katalanisch sprach und ihn der Polizist nur reinlassen wollte, wenn er Spanisch spricht. Am Ende wurden alle nach einigen Stunden wieder freigelassen: der einzige Grund der Festnahme war die Übergabe einer Vorladung. Am Abend kam es überall in Katalonien zu Demonstrationen gegen diese willkürlichen Festnahmen, da man überzeugt davon war, dass sie nur dazu dienen sollten, Angst bei der Unabhängigkeitsbewegung zu schüren.

Wenige Tage später warnte das katalanische Büro für politische und bürgerliche Rechte (Oficina de Drets Polítics i Civils/ ODPC) davor, dass es in Katalonien in den letzten zwei Jahren über 320 rechtsextremen Übergriffe gegeben hatte und dass nicht genug dagegen getan würde. Diese Zahlen wären nur die Spitze des Eisbergs, da nur die Fälle aufgelistet werden, in denen ein rechtsextremer/faschistischer Hintergrund nachgewiesen werden konnte. Die Dunkelziffer sei höher, vor allem, weil diese Gruppen (ca. 20; darunter GDR Cataluña, Tabarnia, Legión Urbana, Democracia Unidad Española) sehr viel besser organisiert und vernetzt seien als noch vor einem Jahr. Die ODPC warnte davor, dass sie gewaltsamer vorgehen könnten, sollte es in Katalonien erneut zu einer angespannten Situation kommen (z.B. sollten die angeklagten Politiker verurteilt werden und die Katalanen deswegen auf die Straßen gehen; oder sollte z.B. der katalanische Präsident als Antwort auf die Verurteilung erneut die katalanische Republik ausrufen). Hier Bilder von einigen Zwischenfällen (u.a. eine pro-spanische Nazidemo, der  Brandanschlag auf das Jugendhaus Ateneu Popular de Sarrià und Hakenkreuze an der Fassade des Sitzes von Òmnium Cultural), Bilder von Körperverletzungen hab ich mal weggelassen. 

Auch, wenn der Januar nicht ganz ruhig war, war er doch um einiges ruhiger als der Februar 2019. Es sollten schließlich viele Dinge passieren: die katalanischen Gefangenen mussten von Katalonien nach Madrid gebracht werden; der Gerichtsprozess – der wichtigste Prozess der demokratischen Geschichte Spaniens – gegen die katalanischen Gefangenen sollte beginnen; die ANC und Òmnium Cultural planten unzählige Demonstrationen gegen den Prozess; mehrere katalanische Gewerkschaften hatten zum Generalstreik aufgerufen; sowohl Sánchez als auch Torra mussten ihre Haushaltspläne durchbringen und Franco sollte endlich umgebettet werden. Franco blieb, wo er war (Nachtrag Juni 2019: der Oberste Gerichtshof, der auch den katalanischen Prozess verhandelt, hat die Umbettung wieder unterbrochen, bis es nicht über die Anzeige der Familie Franco entscheidet).

Direkt am 01. Februar wurden die katalanischen Gefangenen von einem Großaufgebot der Guardia Civil von Katalonien nach Madrid gebracht. Tausende Menschen versammelten sich an den Gefängnissen und entlang der Autobahnen, um sich von ihnen zu verabschieden und um zu demonstrieren. Selbst, wenn man keinen von ihnen gewählt hatte, war es ein sehr beklemmendes Gefühl. Dazu beigetragen hat natürlich auch die Art des Transportes: der Polizeibus war eine Art Gefängnis auf Rädern. 14 Zellen, so groß wie eine Flugzeug-Toilette (1m²), 160cm hoch, ohne Blickkontakt und kameraüberwacht. 7,5 Stunden lang mussten die Gefangenen in diesen Mini-Zellen sitzen und sich die hämischen Kommentare der Polizisten anhören (gegen einen wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet, weil er ein Video in den sozialen Netzwerken hochgeladen hatte, in dem er sich über die Gefangenen und die Demonstranten lustig machte; er wurde für drei Monate ohne Bezahlung suspendiert, allerdings übernahm die Polizeigewerkschaft AUCG für die Zeit seine Bezahlung). 

Am 05. Februar wurde bekannt, dass sich die Generalitat und die spanische Regierung darauf geeinigt hatten, dass bei ihrem „bilateralen Parteien-Dialog“ ein Protokollant (relator) oder Koordinator anwesend sein würde, um die Gespräche zu koordinieren. Die Generalitat sprach dagegen von einem Vermittler (mediador). Zur richtigen Terminologie gab die spanische Regierung eine Pressekonferenz, die über 1,5 Stunden dauerte. Besonders die rechten Medien wollten in der Figur des Protokollanten einen „internationalen Vermittler“ sehen, der für Katalonien arbeitet. Es war egal, dass die spanische Regierung dies tausendmal dementierte und versicherte, dass es „in Katalonien niemals ein Unabhängigkeitsreferendum geben wird“. Die rechte Presse und die üblichen Parteien waren bereits verrückt geworden. „Der Verrat an Spanien“, „Verräter“, „Sánchez gibt auf und akzeptiert einen Vermittler im Dialog mit den Sezessionisten“, „Die Kapitulation von Sánchez“, „Mit dem Vermittler erniedrigt Sánchez den Staat“, „Der Vermittler: ein Verrat an Spanien“, „Sánchez: die Kapitulation des Staates“, waren einige der Schlagzeilen. Pablo Casado sprach sogar von Hochverrat. Naja, er sagte noch einiges mehr; er schaffte es, Sánchez in nur knapp einer Minute 19 Mal zu beleidigen (u.a. „er ist der größte Verräter“, „ein Treuloser“, „ein Verbrecher, „ein illegitimer Präsident“, „er ist eine Geisel“, „er ist inkompetent, mittelmäßig, lächerlich, verantwortungslos und selbstherrlich“, „der größte Verbrecher der demokratischen Geschichte Spaniens“, „ein notorischer Lügner“, „er ist einfach eine Katastrophe für die Zukunft Spaniens“). Nur zu Erinnerung: Sánchez wollte nur einen Dialog beginnen; Politik machen, nichts anderes. Und am nächsten Tag rief Albert Rivera (Ciudadanos) zu einer „riesigen Demonstration gegen Sánchez und gegen den Dialog mit Katalonien“ auf. Nur wenige Minuten später schlossen sich Vox und die PP an. Als wäre das nicht schon nervig genug, gesellten sich am nächsten Tag auch viele der „Barone“ des PSOE (wichtige Persönlichkeiten der Partei, sowohl auf staatlicher als auch auf regionaler Ebene) dazu und kritisierten Sánchez in der Öffentlichkeit; u.a. Felipe González (von 1982 – 1996 Präsident Spaniens), Alfonso Guerra (ewige rechte Hand von González, von 1977 bis 2015 Kongressabgeordneter), Emiliano García-Page (Ministerpräsident von Castilla – La Mancha), Javier Lambán (Ministerpräsident von Aragonien) und Guillermo Fernández Vara (Ministerpräsident von Extremadura). Was allen allerdings gemein ist, ist dass sie am liebsten zusammen mit Ciudadanos regieren würden, da ihnen Pedro Sánchez „zu links“ ist. Sánchez als links zu bezeichnen, sagt übrigens mehr über jene „Sozialdemokraten“, die sich dem Neoliberalismus hingegeben haben, als über Sánchez selbst, der mit allen Mitteln versucht, bloß nicht mit Podemos koalieren zu müssen. 

Nur zwei Tage später erklärte die spanische Regierung den Dialog mit den Katalanen für beendet. Warum? Die Regierung hatte die Rolle des „Koordinators/Protokollanten“ immer weiter heruntergeschraubt, um weitere Kritik zu verhindern; doch von katalanischer Seite aus konnte man das nicht akzeptieren. Da die spanische Regierung ein Referendum und das Recht auf Selbstbestimmung im Voraus kategorisch ausgeschlossen hatte, sah man in der Generalitat keinen Grund, um diesen „falschen Dialog“ fortzuführen. Wer allerdings denkt, dass die rechte Opposition aufhörte, gegen Sánchez zu hetzen, der irrt sich: jetzt war er der „Verlierer“, der von seinen „separatistischen Freunden fallen gelassen wurde“. Die Generalitat dagegen warf Sánchez vor, aus Angst vor den Rechtsextremen von seinem Plan abgewichen zu sein und die Brücken zwischen Barcelona und Madrid erneut eingerissen zu haben.

Zwei Tage vor Beginn der Prozesses und drei Tage vor der Haushaltsplan-Abstimmung, für die Sánchez keine Mehrheit hatte, fand dann die „riesige“, „größte patriotische“ Demo gegen Sánchez statt (Motto: Für die Einheit Spaniens. Wahlen jetzt!). Auch rechtsradikale und faschistische Organisationen hatten sich angeschlossen, wie z.B. Hogar Social, die Falange, España 2000 und ADÑ Identidad Española (eine „Koalition“ von mehreren Falange-Parteien und den Neonazis von Democracia Nacional). Natürlich durften auch einige Polizei-Gewerkschaften und Mario Vargas Llosa nicht fehlen. Es war einfach nur ein Witz. PP, Ciudadanos und Vox hatten von hunderttausenden Menschen gesprochen, die das „wahre Spanien“ verteidigen würden. Am Ende waren es 45.000. Es stimmt, dass eher progressiv eingestellte Spanier ziemlich angespannt Zuhause saßen; sollten es wirklich so viele Menschen sein? Als man dann die Teilnehmerzahlen sahen, mussten viele lachen. Vor Erleichterung. Außerdem waren die Bilder der Demo auch ziemlich lächerlich. Jeder wollte neben Santiago Abascal, dem großen Anführer von Vox, stehen; es kam sogar zu Ellenbogenstößen zwischen Javier Maroto (PP) und Cristiano Brown (UPyD), um zwischen Pablo Casado (PP) und Abascal zu stehen. Hier ein paar Fotos von der Demo; von jenen „Nicht-Nationalisten“, den „normalen Spaniern“, die, die Katalanen als Nationalisten beschimpfen.

Am 12. Februar war dann der große Tag gekommen: es begann der Großprozess gegen die inhaftierten katalanischen Politiker und Aktivisten. Über 500 Zeugen waren geladen, 50% von ihnen Polizisten (von den Zeugen der Anklage waren 80% Polizisten); 11 Wochen sollte die Hauptverhandlung dauern, die live im Fernsehen übertragen werden würde. Diese Tatsache nutzte der vorsitzende Richter Marchena zudem, um den internationalen Menschenrechtsverbänden (u.a. Amnesty International, International Trial Watch, Civil Liberties Union for Europe, EuroMed Rights, International Commission of Jurists, European Democratic Lawyers und Front Line Defenders), die als Beobachter am Verfahren teilnehmen wollten, die Akkreditierung zu verweigern und ihnen keine Sitze im Publikum zu reservieren. Da es eine öffentliche Verhandlung ist, könnten die Beobachter einfach kommen und sich ins Publikum setzen. Hätte man die Verhandlung im größten Saal des Obersten Gerichtshofes stattfinden lassen, wäre das sogar möglich. Weil das Verfahren allerdings in einem der kleineren Säle stattfindet (ganz zufällig), muss man oft schon Stunden vor Beginn der Sitzung vor Ort sein (meist vor 7 Uhr), um auch noch einen Platz zu erhaschen (da natürlich auch Journalisten, Bürger, Politiker und Familienangehörige anwesend sein wollen). Damit wird die Arbeit der internationalen Beobachter extrem erschwert, da eine TV-Übertragung keine reale Beobachtung ersetzen kann.

Zum Richter Marchena – dessen rechtskonservative Haltung allgemein bekannt ist (traf sich öfter zum Essen mit PP-Politikern, stellte wiederholte Verfahren gegen PP-Politiker ein) – muss auch noch was gesagt werden: Als die PSOE und die PP im November 2018 die Zusammensetzung des “Generalrats der rechtsprechenden Gewalt” (Consejo General del Poder Judicial; benennt u.a. die Richter des Obersten Gerichtshofs und schlägt Richter für das Verfassungsgericht vor) beschlossen, wurde er von der PP als Präsident des Generalrats vorgeschlagen (die PSOE durfte 11 Mitglieder benennen, die PP 9 und den Präsidenten; obwohl der Präsident dem Gesetz nach von den 20 Mitgliedern gewählt werden muss). Daraufhin schrieb Ignacio Cosidó (hoher PP-Funktionär im Senat) in die WhatsApp-Gruppe der PP-Senatoren (die aufgebracht waren, weil die PSOE mehr Mitglieder hatte ernennen dürfen): „Aber wir haben einen ausgezeichneten Präsidenten gewählt […] mit dem wir die Strafkammer von hinten kontrollieren“. Mal ganz davon abgesehen, dass Cosidó mit dieser Nachricht die Gewaltenteilung in Spanien mit Füßen tritt, indem er seine Kollegen damit beruhigt, dass sie ja die Strafkammer des Obersten Gerichtshofs „von hinten“ kontrollieren….warum ist das so wichtig für sie? Die Strafkammer ist u.a. zuständig für die Verfahren gegen Abgeordnete, etc. (in letzter Zeit vor allem PP-Abgeordnete, die wegen Korruption angeklagt sind) und eben für den Prozess gegen die Unabhängigkeitsbewegung. Als die WhatsApp-Nachrichten veröffentlicht wurden, verzichtete Marchena auf seinen neuen Posten, und blieb, wo er war: als vorsitzender Richter im Prozess gegen die katalanischen Politiker (kontrolliert die PP jetzt die Strafkammer von vorne?). 

Über den Gerichtsprozess an sich werde ich hier erstmal nicht schreiben, denn der verdient einen Beitrag für sich. Ich kann nur sagen, dass sich mein Magen zusammenzog, als ich das erste Mal die 12 Angeklagten vor dem Richter sitzen sah. Vor ihnen die sieben Richter, links die Verteidiger und rechts die drei Ankläger: die Staatsanwaltschaft (mit vier Staatsanwälten), die Rechtsvertretung des Staates (Abogacía del Estado; mit zwei Anwältinnen) und die Popularklage, also Vox (Ortega Smith und ein anderer Anwalt).

In den gesamten letzten Monaten war das Gefühl der Ungerechtigkeit groß, doch dieses Bild war die Verkörperung der Machtlosigkeit, der Ungerechtigkeit. Es war wie ein Schlag ins Gesicht. In mir kam eine tiefe Traurigkeit auf, die ich nicht wirklich zuordnen konnte. Und ich glaube, dass es vielen Katalanen ähnlich ging. Ich hatte nie mit den Unabhängigkeitsbefürworter sympathisiert – um ehrlich zu sein, hab ich sie lange verabscheut – und noch heute teile ich den Wunsch nach einem unabhängigen Katalonien nicht. Aber ich bin überzeugter Demokrat — vielleicht nicht unbedingt sehr überzeugt von der heutigen Parteienherrschaft und repräsentativen Demokratie, weil ich der Meinung bin, dass sie nur dazu führt, dass sich die Repräsentanten (Politiker) nicht an ihr Wort halten müssen — aber Demokrat. Und ich verteidige das Selbstbestimmungsrecht der Völker; in der West-Sahara, in Palästina, im Kosovo, in Kurdistan, im Tibet, in Xinjiang (Ostturkestan), in der Kabylei (Algerien), im Rif (Marokko), in Schottland, auf Korsika, kurz: überall. Und ich glaube daran, dass es einen funktionierenden Rechtsstaat geben muss, der eine gerechte Gesellschaft garantiert. Es kann nicht sein, dass sich Teile der Polizei und Staatsanwaltschaft eine Geschichte aus den Fingern saugen, daraus eine Tat konstruieren, die nicht stattgefunden hat und dass sich die Gerichte sogar darauf einlassen. Nur, weil es darum geht, die Einheit des Territoriums zu verteidigen. Weil man die Ehre retten muss; ein Exempel statuieren will, damit sich kein anderes Regionalparlament traut, das umzusetzen, wofür es gewählt wurde. Denn ja, das Referendum wurde von der katalanischen Regierung anberaumt, aber nur, weil das katalanische Parlament sie dazu aufgefordert hatte. Ein Referendum durchzuführen, ist in Spanien keine Straftat. Das Verfassungsgericht hatte es zwar suspendiert, aber es fand trotzdem statt. Das ist höchsten Ungehorsam. Keine Rebellion, kein Aufruhr. Dass ein Parlament die Unabhängigkeit ausruft, ist nicht illegal oder strafbar. Denn damit eine Unabhängigkeitserklärung strafbar ist, muss es einen gewaltsamen öffentlichen Aufstand gegeben haben, der die Grundfeste der staatlichen Ordnung erschüttert. Laut den meisten Strafrechtlern muss es sogar ein bewaffneter Aufstand sein. Das ist Rebellion. Und die gab es nicht. Es ist offensichtlich, dass der Vorwurf der Rebellion nur aufrecht erhalten wird, um die Angeklagten in U-Haft zu behalten und sie daran zu hindern, ihre politischen Rechte wahrzunehmen. Und das ist nicht rechtsstaatlich, sondern autoritär. In über 15 Monaten hat die Staatsanwaltschaft nicht einen einzigen Beweis für den gewaltsamen Aufstand liefern können. Nicht ein Video, nicht ein Dokument. Die einzigen Beweise sind vereinzelte Zwischenfälle mit Demonstranten, die aber nicht über Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte oder Sachbeschädigung hinaus gehen (insgesamt gab es am 1-O nur 8 Festnahmen); und natürlich die Polizeiberichte, die vor Ungereimtheiten nur so triefen (angebliche Zwischenfälle in Dörfern, die es nicht gibt; falsch übersetzte Unterhaltungen; ausgedachte Personen, die entweder aus Falschübersetzungen oder Fehlinterpretationen entstanden, etc.). Man ist sich noch nicht einmal darin einig, wie viele Polizisten am 1-O ärztlich behandelt werden mussten und warum (es ist nämlich nicht dasselbe, wenn ein Polizist auf dem nassen Boden ausrutscht und sich den Knöchel verletzt oder ein Polizist von einem Demonstranten angegriffen wird).

Doch es gibt eine Sache, die entscheidend ist: niemand sprach damals von Rebellion oder Aufruhr. Während die Menschen auf den Straßen demonstrierten, selbst als sie am Referendum teilnahmen und sich im gewaltfreien Widerstand übten, sprach niemand von Rebellion (im Zeitraum September/Oktober 2017, den die Staatsanwaltschaft als „aufständische Periode“ – “Período Insurreccional” bezeichnet). Für die spanische Regierung hatte das Referendum ja gar nicht stattgefunden. Es war im November 2017, als plötzlich überall von Rebellion die Rede war. Eine Rebellion, die niemand gesehen hatte, während sie stattfand. Ein angeblicher Staatsstreich, der vor den Augen der Öffentlichkeit vollzogen wurde, während der Staat einfach zuschaute. Sowas gibt es nicht; kein Staat lässt einen Staatsstreich tatenlos geschehen. Entweder es gab keine Rebellion oder die spanische Regierung war ein Komplize, weil sie nicht eingriff.  Hätte es eine Rebellion gegeben, dann hätte Rajoy den Ausnahmezustand ausrufen müssen, damit das Militär eingreift. Doch das passierte nicht und war auch nie geplant. Stattdessen wandte Rajoy den Artikel 155 der Verfassung an: eine administrative Maßnahme. Wie der emeritierte Richter des Obersten Gerichtshofs, José Antonio Martín Pallín, vor kurzem sagte: „Diejenigen, die die Theorie des Staatsstreichs verteidigen, müssen wenigstens eingestehen, dass es sich um den längsten Staatsstreich der Geschichte handelt. Ein Staatsstreich, der über zwei Jahre lang sowohl vom Militär – das die Pflicht gehabt hätte, einzugreifen – als auch von den Institutionen – die für die Bewahrung der öffentlichen und verfassungsmäßigen Ordnung zuständig sind – mit Gleichgültigkeit beobachtet wurde, erscheint doch etwas eigenartig.“ Schon Jürgen Habermas (zählt zu den weltweit meistrezipierten Philosophen und Soziologen) beschrieb den Zivilen Ungehorsam als „Teil einer reifen politischen Kultur in einem demokratischen Rechtsstaat“ und warnte davor, dass sich „ein Rechtsstaat, der den zivilen Ungehorsam verfolgt als wäre er ein gewöhnliches Verbrechen, auf den rutschigen Abhang des autoritären Legalismus“ begibt.

Außerdem ist der Oberste Gerichtshof noch nicht einmal zuständig: eigentlich hätte der Fall zuerst am Landgericht Barcelona (Audiència Provincial de Barcelona) und am Oberlandesgericht Kataloniens (Tribunal Superior de Justícia de Catalunya) verhandelt werden müssen (so sieht es die Verfassung und das europäische Recht vor). Vor allem, weil der Oberste Gerichtshof nur dann als erste/einzige Instanz auftreten darf, wenn es um Abgeordnete mit parlamentarischer Immunität geht. Die katalanischen Angeklagten hatten aber entweder noch nie die parlamentarische Immunität (Jordi Cuixart und Jordi Sànchez) oder sie wurde ihnen vor der Anklage entzogen (die Politiker, die durch den Artikel 155 abgesetzt wurden). Was außerdem verschärfend hinzukommt, ist, dass der Ermittlungsrichter Llarena gar nicht für den Fall zuständig war: laut den eigenen Richtlinien der Strafkammer des Obersten Gerichtshofs werden die Fälle nach Dienstalter vergeben, wonach Llarena, der erst ein Jahr zuvor an den Obersten Gerichtshof berufen worden war, auf Platz 6 der Liste stand. Es wären also 5 Richter vor ihm dran gewesen, aber er sollte den Fall anscheinend unbedingt bekommen (schon sein Aufstieg zum Obersten Gerichtshof ist voller Unregelmäßigkeiten). 

Ändern kann man es jetzt nicht mehr, und alle Beschwerden wurden abgeschmettert. Die Hoffnung in die europäische Justiz ist groß, allerdings wird sich das ganze noch Jahre hinziehen. In Katalonien geht man von einem harten Urteil aus und fordert den Freispruch. In Madrid gibt es mittlerweile Stimmen, die davon ausgehen, dass das Urteil nicht „ganz so hart“ ausfallen wird. Vor allem, weil sich die Staatsanwaltschaft ziemlich dumm angestellt hat. Aber selbst diese Stimmen gehen von Strafen zwischen 10 und 15 Jahren aus. Das würde Katalonien wieder zum Kochen bringen.

Am 16. März 2019 fand in Madrid die Demo Omplim Madrid (Lasst uns Madrid füllen) statt. Die ANC und Òmnium Cultural hatten die Demo im Machtzentrum Spaniens organisiert, um den Protest der Katalanen auch mal dort sichtbar zu machen. Zehntausende Katalanen folgten dem Aufruf und begaben sich – u.a. in fast 400 Reisebussen und 10 Zügen – nach Madrid. Es war die erste Demo der Unabhängigkeitsbewegung in der spanischen Hauptstadt. Neben der ANC, Òmnium und den katalanischen Parteien schlossen sich auch dutzende andere (zumeist eher kleine) Vereine und Organisationen aus allen Ecken Spaniens an; darunter u.a. die CGT (anarcho-syndikalistische Gewerkschaft; 90.000 Mitglieder und vertritt rund 2 Mio. ArbeiterInnen), der SAT (Andalusische Arbeitergewerkschaft), Gure Esku Dago (‘Es liegt in unseren Händen’; Plattform zur Selbstbestimmung des Baskenlandes), Altsasu Gurasoak (Unterstützer der Familien der Jugendlichen aus Altsasu), EH Bildu (linker, baskisch-nationalistischer und separatistischer Parteienverband; zweitstärkste Partei im Baskenland), Izquierda Castellana (Kastilische Linke; links, kastilisch-nationalistisch), Madrileños por el Derecho a Decidir (Madrilenen für das Selbstbestimmungsrecht) und der BNG (Bloque Nacionalista Galego; links, galicisch-nationalistisch). Insgesamt nahmen ca. 120.000 Personen an der Demo teil. Die Mottos: „Selbstbestimmung ist kein Verbrechen“ und „Demokratie bedeutet entscheiden“. Es war schön und ziemlich berührend zu sehen, dass es noch ein anderes Spanien gibt; aber an der Situation änderte das natürlich nichts.

Auch die spanischen Parlamentswahlen, die im April 2019 stattfanden, änderten nichts: die PSOE wurde stärkste Kraft (28,7%), weigert sich aber bis heute, mit Unidas Podemos (14,3%) eine gemeinsame Koalitionsregierung zu bilden. Es ist einfach nur traurig zu sehen, wie unfähig sich die PSOE anstellt. Das liegt aber auch vor allem daran, dass es auf staatlicher Ebene noch nie eine Koalition gegeben hat. Während Koalitionen auf regionaler Ebene Alltag sind (vor allem im Baskenland, Navarra, Valencia, den Balearen und Katalonien), konnten die PP und die PSOE den Staat bisher immer alleine regieren (entweder mit absoluter Mehrheit oder als Minderheitsregierung). Eine Koalition von PSOE und Unidas Podemos hätte zwar nicht die absolute Mehrheit, könnte aber perfekt regieren, da sie die Unterstützung von nahezu allen Regionalparteien hätte (PNV-EAJ, EH Bildu, ERC, PRC, Compromís und wahrscheinlich auch PDeCAT). 

Doch Sánchez stellte sich quer. Statt mit Unidas Podemos zu verhandeln traf er sich mit PP und Ciudadanos, um von ihnen eine Enthaltung zu bekommen (so könnte die PSOE als Minderheitsregierung regieren). Dies wurde aber ziemlich eloquent abgelehnt. Obwohl die Parteibasis am Wahlabend laut und deutlich „¡Con Rivera no!“ (Nicht mit Rivera; also nicht mit Ciudadanos regieren) und „¡Sí se puede!“ (Wahlslogan von Podemos) gerufen hatte, beharrte Sánchez wochenlang darauf; egal wie oft ihm Albert Rivera die Tür vor der Nase zuschlug. Denn – und das ist in Spanien leider immer wichtig – die Wirtschaft, vor allem die Banken, wollten eine Koalition von PSOE und Ciudadanos (das machten sie auf immer wieder öffentlich deutlich). Sánchez hatte es geschafft, viele Wähler zu mobilisieren: nicht nur frühere Nichtwähler, sondern vor allem auch eigentliche Podemos-Wähler. Er hatte viele Leihstimmen erfolgreich zur PSOE gelockt. Denn nachdem PP, Ciudadanos und Vox angekündigt hatten, zusammen regieren zu wollen, polarisierte sich der Wahlkampf zu einem Kampf von „Links gegen Rechts“. Die Angst vor dem Trifachito (abgeleitet von Tripartito – ‘Drei-Parteien-Koalition’ und facha – ‘faschistisch/rechtsextrem’) war bei vielen Spaniern sehr groß. Die hohe Wahlbeteiligung — mit knapp 76% die höchste seit 2004 — führte letztendlich zum „Sieg“ der linken Kräfte: 165 zu 147 Sitzen (PSOE/Unidas Podemos vs. PP/Ciudadanos/Vox); inklusive der linken regionalistischen Kräfte (ERC/EH Bildu/Compromís/Partido Regionalista de Cantabria) 186 : 147; inklusive der regionalistischen Kräfte, die zwar nicht links sind, aber trotzdem nie ein Trifachito unterstützen würden (JuntsxCat/ PNV-EAJ) und derjenigen, die es tun würden (Navarra Suma/ Coalición Canaria): 199 : 151. Das sieht aber deutlicher aus als es tatsächlich war. Wenn man nur die Stimmen anguckt, die PSOE/Unidas Podemos (inklusive der regionalen Koalitionen En Marea und En Comú Podem) gewannen, dann erreichten sie 43% der Stimmen (11.264.287 Stimmen); PP/Ciudadanos/Vox zusammen 42,81% (11.217.410 Stimmen). Erst durch die linken und nationalistischen Parteien aus Katalonien, Valencia und dem Baskenland wird dieses spanienweite Gleichgewicht zwischen Links und Rechts in Richtung Links verschoben (53% zu 43,8%; die Mehrheit an Mandaten ist sogar noch klarer: 57% zu 43%). Am schlimmsten war die Wahl für die PP: sie verlor fast 50% der Stimmen (16,7%; 2016 waren es noch 33%), 71 Mandate (jetzt 66 Mandate) und die absolute Mehrheit im Senat (jetzt 26%; vorher 62%). Vox schaffte mit 10,3% der Stimmen und 24 Mandaten zwar einen fulminanten Einzug in den Kongress, blieb aber –  zur Freude vieler – hinter den Prognosen vieler Umfragen (teilweise bis zu 20%). Nun hat auch Spanien die Rechtsextremen im Parlament sitzen. Keine „Rechtspopulisten“, sondern waschechte Rechtsextreme. Wer allerdings bei diesem Wahlergebnis versucht, als theoretisch sozialdemokratische Partei mit der rechtsliberalen Ciudadanos zu koalieren, tritt den Wählerwillen mit Füßen.  

In Katalonien wurde ERC zur stärksten Partei (24,6%), zum ersten Mal seit der Wiedereinführung der Demokratie. Tatsächlich war es auch das erste Mal, dass eine separatistische Partei in Katalonien die spanischen Parlamentswahlen gewann (zwischen 1977 und 2011 hatte immer der PSC gewonnen; 2011 CiU, damals aber nicht separatistisch; und 2015 und 2016 jeweils En Comú Podem). Doch ERC wurde von der PSOE ignoriert, obwohl sie dutzende Male zum Gespräch aufriefen. Während PP, Ciudadanos und Vox im gesamtspanischen Kontext 42,8% der Stimmen erhielten, kamen sie in Katalonien auf nur 20% (Ciudadanos: 11,55%; PP: 4,85%; Vox: 3,6%). Aus dem Baskenland verschwanden PP und Ciudadanos sogar komplett (zusammen ca. 10%, aber kein einziges Mandat).

Nachtrag: Am 10. November 2019 gibt es nun doch Neuwahlen; die vierten Parlamentswahlen in vier Jahren. Die PSOE hat keine Koalition mit Podemos gewollt (Zitat Pedro Sánchez: „Ich könnte nachts nicht schlafen, wenn ich mit Podemos regieren würde“); Unidas Podemos weigerte sich, Sánchez ihre Stimmen zu geben, ohne an der Regierung beteiligt zu werden und weder PP noch Ciudadanos waren bereit, sich bei der Abstimmung zu enthalten, um Sánchez zum Präsidenten zu machen. Es war ein einziges Armutszeugnis für die spanische Politik, aber vor allem für die PSOE und für Pedro Sánchez im speziellen. Jener Sánchez, der die Wahlen gewonnen hatte, weil er mit einer Koalition mit Unidas Podemos und einer links-progressiven Regierung geworben hatte. Jener Sánchez, der 2016 als Parteivorsitzender der PSOE hatte zurücktreten müssen, weil die Wirtschaft einen unglaublichen Druck ausgeübt (er selbst berichtete öffentlich darüber) und die hohen Parteimitglieder gegen ihn geputscht hatten; und der Dank eines Podemos-nahen Diskurses im Jahr 2017 trotzdem erneut von der Parteibasis zum Parteivorsitzenden gewählt worden war. Man weiß nicht genau, was sein Plan mit den Neuwahlen ist — schließlich kann man den Frust der Menschen schlecht einschätzen — Fakt ist aber, dass er sich anscheinend mehr Stimmen erhofft. Es bleibt zu hoffen, dass er sich damit nicht ins eigene Bein geschossen hat. Denn besonders die linke Wählerschaft scheint ziemlich enttäuscht zu sein und neigt dann eher dazu, nicht wählen zu gehen. 

Zudem wird im Oktober 2019 das Urteil im Gerichtsprozess erwartet…niemand weiß, wie sich das alles entwickeln wird. Klar ist bisher nur, dass sich die Basis der Unabhängigkeitsbewegung neu organisiert und einen „heißen Herbst“ mit konstanten Mobilisierungen plant. Unter dem Motto Tsunami Democràtic (Demokratischer Tsunami). Bei den Parteien fehlt bislang allerdings eine einheitliche Linie: ERC zieht anscheinend in Erwähnung, als Antwort auf das Urteil, Neuwahlen in Katalonien auszurufen (um die Mehrheit der Unabhängigkeitsparteien auszubauen) oder eine Einheitsregierung zu bilden (vielleicht inklusive En Comú Podem und CUP), JuntsxCat ist noch unentschlossen, setzt aber eher auf einen institutionellen Konflikt (z.B. erneute Ausrufung der Republik, etc.) und die CUP fordert u.a. einen unbefristeten Generalstreik (ähnlich dem 3. Oktober 2017), um so den Staat endlich zum verhandeln zu zwingen. Wir werden sehen, was passiert.



 

Quellen:

Sis gràfics que expliquen com són els ciutadans que se senten tan catalans com espanyols

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