Seit meinem letzten Beitrag zur Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien hat sich einiges getan. Das Referendum, das darüber entscheiden soll, ob Katalonien unabhängig wird oder nicht, soll am 1. Oktober stattfinden. Lange Zeit war nicht klar, wann es stattfinden würde, denn die Regierung von Puigdemont wollte zuerst die gesetzlichen Rahmenbedingungen schaffen, damit die Anberaumung überhaupt legal ist. Die spanische Verfassung – zumindest wenn sie so ausgelegt wird, wie es die Regierung in Madrid tut – erlaubt nämlich keine Referenden zur Unabhängigkeit, weil die Souveränität Spaniens beim spanischen Volk liegt. Deshalb dürfte so ein Referendum nur stattfinden, wenn alle Spanier darüber abstimmen (Rajoy hätte das ja vorschlagen können, um zu gucken was die Katalanen sagen, hat er aber nicht). Allerdings ist diese Auslegung nicht die einzig mögliche; viele Juristen – und nicht nur katalanische – haben bereits darauf aufmerksam gemacht, dass es allein der politische Wille und nicht die Verfassung ist, der verhindert, dass in Katalonien eine legale Volksabstimmung stattfinden kann.
Also hatte die Regierung von Katalonien folgenden Plan: Man war schon seit Monaten dabei, eine neue Gesetzgebung für Katalonien auszuarbeiten, die sogenannte Llei de transitorietat jurídica i fundacional de la República (Gesetz des juristischen Übergangs und der Gründung der Republik). Niemand wusste, was da wirklich drinstehen würde, denn es war lange Zeit geheim (damit das Verfassungsgericht das Gesetz nicht sofort verbieten konnte). Am 28. August wurde das Gesetz dann im katalanischen Parlament registriert. Der Sinn hinter dem Gesetz ist es, für die Übergangszeit – in der Katalonien sich von Spanien loslöst und eine eigene Verfassung ausarbeitet – einen juristischen Rahmen zu haben, der garantiert, dass alles weiterhin funktioniert (u.a. Verwaltung, Sozialstaat, etc.). Es soll erst inkraft treten, wenn das „Ja“ zur Unabhängigkeit am 1. Oktober gewinnt. So langwierige und harte Debatten, wie es sie in den darauffolgenden Tagen im katalanischen Parlament gab, hatte es in Katalonien noch nie gegeben. Am 6. September wurde das nächste wichtige Gesetz vorgestellt, das „Gesetz für das bindende Referendum zur Selbstbestimmung von Katalonien“ (Llei del referèndum d’autodeterminació de Catalunya). Sinn des Gesetzes war es, der Volksabstimmung einen rechtlichen Rahmen zu geben. Da es ja nicht nach spanischem Recht ging, legitimierte man es mit der katalanischen Gesetzgebung und dem Internationalen Recht. Das Gesetz wurde morgens vorgestellt, und am Abend zur Abstimmung freigegeben. Dafür hatte die Parlamentsmehrheit ein „Express-Verfahren“ (eine einzige Lesung, danach Abstimmung) verabschiedet, das zwar von der spanischen Regierung vors Verfassungsgericht gebracht wurde, von diesem aber für verfassungskonform erklärt worden war.
Zum Referendum muss man sagen, dass es ja eigentlich gar nicht von JxSí gewollte war. In ihrem Wahlprogramm 2015 stand, dass sie die Unabhängigkeit in 18 Monaten ausrufen würden, wenn sie gewinnen. Und sie gewannen, waren allerdings abhängig von der Unterstützung der antikapitalistischen CUP, die angesichts der knappen Mehrheit ein Referendum forderte. Das Referendum war u.a. auch eine Forderung gemäßigterer Kräfte innerhalb der separatistischen Parteien und ein Zugeständnis an diejenigen, die die Unabhängigkeit nicht wollten. So hatten sie nämlich nochmal die Möglichkeit, ihren Willen explizit ausdrücken zu können. Doch Ciudadanos, PP und PSC wollten kein Referendum, weshalb sie jegliche Debatte darüber torpedierten (Filibusterisme – Filibusterei). Und das, obwohl laut der letzten Umfrage (24.09.2017; Metroscopia) 82% der Katalanen ein Referendum wollten, selbst 75% der Wähler vom PSC, 57% der Wähler von Ciudadanos und 49% der PP-Wähler hielten ein legales Referendum für die beste Lösung.
Nach einer 12 Stunden dauernden Debatte, wurde das Referendumsgesetz verabschiedet: 72 Abgeordnete stimmten dafür (JxSí und CUP), 11 enthielten sich (CSQEP). Die 52 Abgeordneten der restlichen Opposition (PP, PSC und Ciutadans) nahmen nicht an der Abstimmung teil und verließen das Parlament. Damit ergab sich die komische Situation, dass JxSí und die CUP mit der Verabschiedung des Gesetzes die einzigen waren, die auch das Recht der Unionisten verteidigten, ihre Meinung zur Unabhängigkeit äußern zu können. Zwei Tage später wurde das Gesetz vom Spanischen Verfassungsgericht ausgesetzt. Außerdem warnte es die 948 katalanischen Bürgermeister und 64 Amtsinhaber der Generalitat davor, das Referendum zuzulassen. Am 7. September wurde das „Gesetz des juristischen Übergangs“ zur Abstimmung im Parlament zugelassen. Auch diese Debatte zog sich in die Länge, da die Opposition die Parlamentssprecher dreimal dazu aufrief, die Zulassung der Debatte zu überdenken (was dazu führt, dass die Sitzung unterbrochen werden muss, damit sich die Parlamentssprecher beraten können), sehr lange Reden hielt, aber zum eigentlichen Gesetz nichts sagte. Um 14 Uhr hatten JxSí und die CUP gefordert, die Tagesordnung zu ändern, und über das Gesetz abzustimmen; und es sollte bis kurz vor 1 Uhr (8. September) dauern, bis auch dieses Gesetz dann mehrheitlich beschlossen wurde: 71 stimmten dafür (JxSí, CUP), 10 dagegen (CSQEP) und die Abgeordneten von PP, PSC und Ciutadans verließen erneut das Parlament, ohne an der Abstimmung teilzunehmen.
Es war ehrlich gesagt kein schönes Bild. Ja, die Separatisten haben die absolute Mehrheit im Parlament; aber irgendwie war das alles ziemlich beschämend. Die Opposition schrie, haute auf die Sitze, und redete die ganze Zeit davon, dass man ihre Rechte missachtet hätte. Ob es richtig war, die Tagesordnung zu ändern, um das Gesetz zu verabschieden, kann man diskutieren. Hätten sie das nicht gemacht, hätte es vom Verfassungsgericht anulliert werden können. Aber jede Partei hatte Zeit, sich das Gesetz anzugucken und Änderungsanträge zu stellen. Ob diese nun angenommen werden oder nicht, liegt halt an denen, die die absolute Mehrheit haben. Selbst Joan Coscubiela, Parteisprecher von Catalunya Sí que es Pot (CSQEP) kritisierte die Separatisten scharf, er wolle in keinem Land leben, indem eine Mehrheit einfach die Andersdenkenden ausschließt. Er erntete tobenden Applaus von PP, PSC und Ciudadanos. Einige seiner Parteikollegen schauten dagegen eher verwirrt, während er seine Rede hielt. Fakt ist, dass es wohl nicht notwendig gewesen wäre, das Gesetz an diesem Tag zu verabschieden (da, es ja erst nach dem 1. Oktober inkraft treten sollte; und nachdem ja schon der Vortag so polemisch gewesen war) und dass der Consell de Garanties Estatutàries (Garantierat des Autonomiestatuts) Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit deutlich gemacht hatte. JxSí und die CUP machten aber deutlich, dass dies die einzige Möglichkeit gewesen wäre, um das Gesetz zu verabschieden, weil der spanische Staat es sonst verhindert hätte. Außerdem wusste ja jeder, was der Consell de Garanties Estatutàries dazu meinte (man hatte im Vorfeld schon Gesprächsrunden mit allen Parteisprechern gehabt). Der Plan war ja, mit dem neuen Gesetz einen Übergang von der spanischen Verfassung zu einer zukünftigen katalanischen Verfassung zu garantieren, ohne in ein legales Vakuum zu fallen. Dass das Verfassungsgericht es annullieren würde, wusste man, nur würde man sich nicht daran halten, denn das Übergangsgesetz – so stand es dort zumindest – unterstand keinem anderen staatlichen Gesetz oder Gericht. Hier die Rede von Coscubiela:
Im Rest Spaniens erntete dieses Vorgehen natürlich viel Kritik. Viele sprechen sogar von einem Staatsstreich. Generell ist es ja legitim, dass eine Mehrheit im Parlament Gesetze bestimmen kann. Allerdings hätte man dieses Gesetz mit einer größeren Mehrheit verabschieden müssen. Wenn das katalanische Parlament das Autonomiestatut ändern will, dann braucht man dafür eine 2/3 Mehrheit; selbst um einen Direktor für den Medienrat zu bestimmen, braucht man eine 2/3 Mehrheit. Und hier ging es schließlich ja nicht um irgendwas, sondern um die Zukunft eines ganzen Landes. Qualifizierte Mehrheiten haben ihren Sinn in der Demokratie, besonders, damit nicht plötzlich eine autoritäre Mehrheit über die anderen bestimmen kann. Jedoch argumentieren die Separatisten, dass das Gesetz nur inkraft tritt, wenn das „Ja“ gewinnt, und dass – sollte dies passieren – ein verfassungsgebender Prozess begonnen wird, an dem die ganze Gesellschaft teilnehmen soll. Die neue Verfassung würde dann nochmal im Parlament verabschiedet werden müssen, und dann sehr wohl mit einer 3/5 Mehrheit (und anschließend nochmal durch ein Referendum vom katalanischen Volk akzeptiert werden).
Andererseits war das alles ja zu erwarten; keiner kann behaupten, dass es überraschend kam: JxSí und die CUP hatten sich in ihrem Wahlprogramm ganz klar dazu verpflichtet, die Unabhängigkeit Kataloniens auszurufen. Und sie durften sich mit diesem Wahlprogramm zur Wahl stellen. Wenn das alles so illegal und „terroristisch“ ist, warum haben die Gerichte/Wahlkommissionen das nicht verhindert? Oder hatte man etwa gedacht, dass sie bluffen? Puigdemont hatte bereits 2016 angekündigt, ein Referendum abhalten zu wollen, mit oder ohne die Zustimmung von Madrid. Zwar versuchte er immer wieder, mit Rajoy ein legales Referendum zu verhandeln, doch Madrid lehnt jeden Dialog ab. Er hat Rajoy sogar vorgeschlagen, dass man das Referendum erst im nächsten Jahr abhalten könnte, dass man über die Frage diskutieren könnte, über Mindestbeteiligungen, etc. Und selbst jetzt hat er zum Dialog aufgerufen, um ein legales Referendum zu organisieren. Aber Rajoy blockt – wie immer – ab. Man hat seit 2012 alles versucht: Verfassungsreformen vorgeschlagen; eine neue Finanzierung Kataloniens; eine nicht bindende Bürgerbefragung im Jahr 2014 mit über 2 Mio. Teilnehmern; Verhandlungen, damit die Zentralregierung die Kompetenz für ein Referendum zeitweise an die Generalitat überträgt (der Vorschlag wurde von Vertretern von CiU, ERC und ICV im spanischen Kongress verteidigt und wurde mit 299 Nein-Stimmen brutal zurückgewiesen); bis zu 18 Mal wurde im Kongress/Senat darum gebeten, ein Referendum abhalten zu dürfen. Die Antwort war immer Nein. Zurecht sagen die Separatisten daher, dass das jetzt nicht der Weg ist, den sie gewollte hatten, sondern dass es der einzige Weg ist, den ihnen die Blockade der Zentralregierung gelassen hatte, um ihr Wahlprogramm in die Tat umzusetzen. Ich weiß nicht, was in Madrid mehr weh tat: die Tatsache, dass es Separatisten gibt, oder die Tatsache, dass es tatsächlich Parteien gibt, die ihr Wahlprogramm einhalten.
Am 12. September suspendierte das Spanische Verfassungsgericht das Gesetz vorläufig und warnte erneut alle Amtsinhaber Kataloniens davor, an den Vorbereitungen des Referendums teilzunehmen.
Zwischen August und September hat die Generalitat vieles unternommen, um das Referendum vorzubereiten. So ließ sie Urnen herstellen (da die Urnen, die normalerweise bei Wahlen benutzt werden, vom Staat bereitgestellt werden) und versteckte diese, da sie sonst von der Polizei beschlagnahmt worden wären. Allerdings drohte Rajoy den Unternehmen, die die Generalitat dabei unterstützten, sodass eigentlich alle daraufhin die Zusammenarbeit mit der Regionalregierung aufkündigten. Trotzdem sagt Puigdemont, bereits über 18.000 Wahlurnen zu haben, um die Volksabstimmung zu garantieren.

Die Frage auf Katalanisch, Spanisch und Aranesisch: Wollen Sie, dass Katalonien ein unabhängiger Staat in Form einer Republik wird?
Da es wahrscheinlich zu Problemen kommen würde, die Wahlunterlagen bereitzustellen (die Polizei hatte den Befehl, Wahlunterlagen zu konfiszieren), riefen verschiedene Abgeordnete im Internet dazu auf, die Stimmzettel Zuhause auszudrucken und mitzubringen. Außerdem schalteten verschiedene Medien (darunter die öffentliche TV3 und Catalunya Ràdio) und Zeitungen (wie Ara, Avui, VilaWeb, Nació Digital oder El Nacional) Werbung für die Teilnahme am Referendum. Man sah zwar, dass sich was bewegte, aber es waren noch so viele Fragen offen. Was würde die Regierung von Rajoy tun, um das Referendum zu verhindern? Welches Wahlregister würde man benutzen? Wo würde man wählen können? Kann ein Referendum bindend sein, wenn alles so geheim organisiert werden muss?
Am 11. September – dem Nationalfeiertag Kataloniens (La Diada) – um Punkt 17:14 Uhr (in Gedenken an den 11. September 1714, als Katalonien seine Eigenständigkeit verlor), begann die „Diada del Sí“ (Feiertag des „Ja“). Wie auch in den letzten 5 Jahren, organisierten die Vereine ANC und Òmnium eine medienwirksame Massendemonstration im Zentrum Barcelonas, um die Kraft der Unabhängigkeitsbewegung zu demonstrieren und die Generalitat dazu aufzufordern, das Referendum trotz aller Widrigkeiten durchzuführen. Über 1 Million Menschen bildeten in Barcelona ein Kreuz, mit Rufen wie „Votarem!“ (Wir werden wählen) oder „Independència“ (Unabhängigkeit).
Auch wenn 1 Mio. Menschen mal wieder sehr, sehr viele Menschen sind (diese soziale Bewegung hat das größte Mobilisierungspotential ganz Europas), so war die Teilnahme nicht ganz so groß, wie es die Organisatoren erwartet haben müssen. Zumindest hat sie nicht die Zahlen anderer Jahre erreicht (z.B. 2010: 1,5 Mio.; 2012: 2 Mio.; 2013: 1,5 Mio.; 2014: 1,8 Mio.; 2015: ca. 2 Mio.; 2016: ca. 1 Mio.). Ich persönlich hatte mehr Menschen erwartet, vor allem, weil die Organisatoren Werbung damit machten, dass diese Diada, die letzte wäre, an der man die Freiheit Kataloniens fordern müsse, denn bald wären sie ja unabhängig. Andererseits war es auch zu erwarten, so ist seit Anfang 2017 ein Rückgang derjenigen zu beobachten, die klar für die Unabhängigkeit sind: Waren im Juli 2016 noch knapp 50% der Katalanen für die Unabhängigkeit und ca. 42% dagegen, waren es im Juni 2017 nur noch ca. 42%, die dafür waren und knapp 50%, die dagegen waren. Trotzdem wollen etwa 67% der Befragten am 1. Oktober wählen gehen, egal welchem Lager sie angehören. Allerdings überwiegt bei denen, die wählen gehen wollen, das „Ja“ zur Unabhängigkeit (62,4% würden für die Unabhängigkeit stimmen, 37,6% dagegen). Bei den unter 30 Jährigen liegt der Anteil an Unabhängigkeitsbefürwortern sogar bei 60%, bei den zwischen 31 und 45 Jährigen sinkt er auf 44%, und steigt dann bei den über 66 Jährigen wieder auf 54%. Laut den letzten Umfragen sind immer noch über 80% der Katalanen für ein Referendum (jedoch wollen 48% das unilaterale Referendum und der Rest eins, das mit dem Staat vereinbart ist). Doch was am meisten erstaunt hat, ist die Tatsache, dass mittlerweile 30% der Spanier dafür sind, den Katalanen ein Referendum zu ermöglichen. Das war noch vor wenigen Monaten undenkbar.
Wie dem auch sei, die Generalitat entschied, den Urteilen des Verfassungsgericht nicht mehr Folge zu leisten. Man würde sich nicht mehr an die spanische, sondern nur noch an die katalanische Gesetzgebung halten. Und so begann die Wahlkampagne für das Referendum; allerdings ziemlich einseitig. Während die Parteien, die die Unabhängigkeit wollen, über 1,5 Mio. € für die Kampagne in die Hand nahmen, entschieden die Parteien, die gegen die Unabhängigkeit sind, ihre Wähler davon zu überzeugen, am Referendum nicht teilzunehmen. Die einen, weil sie eh keine Volksabstimmung wollen (PP und Ciutadans), die anderen, weil sie nur ein legales Referendum unterstützen würden, aber kein unilaterales (PSC). Dies ist auch der Grund, weshalb das Referendum von Podemos und seinen Bündnispartnern in Katalonien (CSQEP und En Comú Podem) kritisiert wird. Es garantiert einfach nicht, dass auch diejenigen, die gegen die Unabhängigkeit sind, wählen gehen. Allerdings rufen sie trotzdem dazu auf, wählen zu gehen; dabei sehen sie den 1. Oktober nicht als bindendes Referendum, sondern als Tag des Protestes und der sozialen Mobilisierung, um die beiden Streitparteien zum Dialog zu bewegen.
Und was tat die Regierung in Madrid? Nichts. Naja, nichts ist vielleicht nicht das richtige Wort. Sie tat dasselbe, was sie die letzten Jahre getan hat, um mit dem Problem in Katalonien fertig zu werden: Sie schickte die Justiz vor. Damit wird ein politischer Konflikt „judikalisiert“ (judicializado), d.h. wo eigentlich eine politische Lösung her müsste – denn ein politisches Problem löst man mit Politik – sucht man die Hilfe bei den Gerichten, um die politischen Gegner klein zu halten. Neben den verbotenen Gesetzen, kam es allerdings zu noch einigen weiteren Handlungen. So wies der spanischen Generalstaatsanwalt Maza die Staatsanwälte in Katalonien dazu an, jeden der über 700 Bürgermeister vorladen zu lassen, die sich bereit erklärt hatten, das Referendum in ihren Wahllokalen stattfinden zu lassen. Die Bürgermeister, die nicht zur Vernehmung erscheinen, sollen festgenommen werden. Diese Entscheidung wurde stark vom ehemaligen Oberstaatsanwalt und emeritierten Richter des Obersten Gerichtshofs José A. Martín Pallín kritisiert; in einer Demokratie könne man nicht diejenigen verfolgen, die Lokale bereitstellen, um Wahlurnen aufzustellen; besonders, weil dies ja „präventiv“ passiert, ohne dass bereits eine Straftat stattgefunden hätte. Außerdem machte Maza bekannt, dass er gegen den katalanischen Präsidenten Puigdemont, gegen die Parlamentspräsidentin Carme Forcadell, gegen das Präsidium des Parlaments (Mesa del Parlament) und gegen alle Mitglieder der katalanischen Regierung Anklage wegen Gehorsamsverweigerung, Rechtsbeugung und Veruntreuung öffentlicher Gelder (mutmaßliche Ausgaben fürs Referendum, obwohl es vom Verfassungsgericht verboten worden war) erheben wird. Maza ist eine sehr polemische Person: wegen seiner Schlüsselrolle in verschiedenen Korruptionsskandalen innerhalb der Staatsanwaltschaft und der PP wurde er vom spanischen Parlament offiziell missbilligt; was in einer normalen Demokratie dazu geführt hätte, dass er zurücktritt. Allerdings hat er sehr gute Verbindungen zur PP (von der er auch ernannt wurde), und blieb. Ich möchte noch kurz anmerken, dass aktuell vier Minister des Regierungskabinetts vom Parlament missbilligt wurden und trotzdem weiterhin ihr Amt bekleiden als wäre nichts: der Justizminister Catalá (weil er versucht haben soll, sich in die Korruptionsermittlungen seiner Partei einzumischen), der Finanzminister Montoro (weil seine Steueramnestie verfassungswidrig war), und der Innenminister Zoido und der Außenminister Dastis (weil sie die Flüchltingsquote der EU missachtet haben, und bisher nur 14% der Flüchtlinge aufgenommen haben, die Spanien aufnehmen sollte). Aber es läuft alles super.
Der Oberste Gerichtshof von Katalonien (Tribunal Superior de Justícia de Catalunya/ TSJC) ließ die Klage zu und wies die Guardia Civil (paramilitärische Polizei Spaniens) und die Mossos d’Esquadra (katalanische Polizei) dazu an, nach Urnen und Werbung für das Referendum zu suchen und zu beschlagnahmen. Allerdings scheint der Generalstaatsanwalt seine Kompetenzen überschritten zu haben, als er die Bürgermeister vorlud, denn es gab ja bereits ein Verfahren gegen das Referendum (von Seiten des TSJC), weshalb er eigentlich nicht selber Zeugen bzw. Verdächtige vorladen kann. Aber auch das wird keine Folgen haben, außer, dass er seinen Fall einstellt und stattdessen das TSJC ermitteln lässt. Außerdem erhob der Staatsanwalt von Barcelona Anklage gegen die Mitglieder der Wahlkommission (Sindicatura Electoral). Bei dem allen muss man eine Sache im Hinterkopf haben: Die Staatsanwaltschaft (sowohl in Spanien als auch in Deutschland) ist ein hierarchisches System, mit dem Generalstaatsanwalt an der Spitze, der von der Regierung ernannt wird und dem Justizminister untersteht. Das bedeutet, dass die Staatsanwaltschaft politisch ist, denn der Generalstaatsanwalt muss den Wünschen der Regierung entsprechen. Dieser gibt dann Anweisungen an die untergeordneten Staatsanwälte, die diese Anweisungen ausführen müssen. Natürlich ist von dem Generalstaatsanwalt Neutralität zu erwarten, aber bei jemandem, der der Regierungspartei so nahe steht, wie Maza…
Das ist wichtig zu wissen, um das, was danach kam, zu verstehen. Der Generalstaatsanwalt hatte die Staatsanwaltschaften in Katalonien angewiesen, alles zu tun, um das Referendum zu verhindern. So wies die Staatsanwaltschaft von Tarragona am 8. September die Guardia Civil an, verschiedene Druckereien und Zeitungen zu durchsuchen, um vermeintliche Wahlplakate, etc. zu beschlagnahmen. Selbst in A Coruña (Galicien) durchsuchte die Polizei verschiedene Firmen, die in der Lage gewesen wären, Urnen für die Generalitat herzustellen. In den folgenden Tagen wurden dutzende Druckereien in Barcelona, L’Hospitalet de Llobregat, Sant Feliu de Llobregat und Badalona durchsucht, und insgesamt 100.000 Wahlplakate beschlagnahmt. Bei einer anderen Durchsuchung wurden 1,3 Mio. Wahlplakate und Flyer beschlagnahmt, die zur Teilnahme am Referendum aufriefen. Zwischen dem 13. und 16. September ordnete das TSJC die Schließung der Website, die über das Referendum informierte, und die Sperrung von über 30 Domains an. Zudem wurden die Internetprovider dazu angehalten, den Zugang zu verschiedenen Websites zu blockieren, die mit dem Referendum zu tun hatten. Daraufhin veröffentlichte die Generalitat über Twitter verschiedene Links zu Proxyservern, um so den Sperrungen zu entgehen.
Als Reaktion darauf, dass die Guardia Civil Wahlplakate konfiszierte, entstand die Kampagne „Empaperem“ (Wir tapezieren): Die Bevölkerung rief dazu auf, selber Wahlplakate auszudrucken und überall im Land aufzuhängen. Dazu wurde die Website empaperem.cat eröffnet, die PDFs mit dem Spruch „Votem per ser lliures“ (Wir wählen, um frei zu sein) in den drei Amtssprachen Kataloniens (Spanisch, Katalanisch und aranesisches Okzitanisch) bereitstellt. In jeder Stadt, in jedem Dorf, gingen hunderte in der Nacht auf die Straße, um Plakate aufzukleben.
Außerdem wurden viele Veranstaltungen in Katalonien, aber auch im Rest Spaniens, verboten, die entweder mit dem Referendum oder mit der aktuellen Situation in Katalonien zu tun haben. So verbot der Richter Yusty Bastarreche in Madrid (auf Antrag der PP) eine Veranstaltung des Vereins „Madrileños por el Derecho a Decidir“ (Madrilenen für das Selbstbestimmungsrecht), die in einem Gemeindesaal stattfinden sollte. Als Begründung gab er an, dass das Referendum ja vom Verfassungsgericht verboten worden sei und eine Veranstaltung zu dem Thema zu einer Straftat aufrufen würde. Allerdings ist seine rechts-konservative Gesinnung allgemein bekannt, er schrieb rege in Foren, wie sehr er den Separatismus, aber auch Podemos und Manuela Carmena (die Bürgermeisterin von Madrid, die den Gemeindesaal für die Veranstaltung bereitgestellt hatte), verabscheute. Warum darf man für die Legalisierung von Marihuana demonstrieren, obwohl der Verkauf von Marihuana illegal ist? Warum darf man für die Republik demonstrieren, obwohl die aktuelle Staatsform die Monarchie ist? Aber weil das Referendum illegal ist, darf man nicht über das Selbstbestimmungsrecht sprechen? Ähnliche Veranstaltungen wurden in zahlreichen Städten verboten bzw. von den Bürgermeistern gar nicht erst erlaubt.
Am 14. September wies Correos (die spanische Post, dort noch in öffentlicher Hand) seine Mitarbeiter an, keine Briefe, etc., zuzustellen, die etwas mit dem Referendum zu tun haben. Am 19. September durchsuchte die Guardia Civil einige Büros des privaten Zustellers Unipost in Barcelona, L’Hospitalet de Llobregat, Terrassa und Manresa. Dabei wurden über 45.000 Mitteilungen beschlagnahmt, die an die Wahlhelfer geschickt werden sollten. Begleitet wurde die Durchsuchung von hunderten Demonstranten, die durch Sitzblockaden, die Polizei davon abhalten wollte, die beschlagnahmten Dokumente mitzunehmen:
Um die Mossos d’Esquadra am 1. Oktober, aber schon vorher, zu „unterstützen“, hat die Regierung von Rajoy etwa 6.000 Polizisten, darunter Guardia Civil und Policía Nacional, nach Barcelona versetzt. Das kam in Katalonien überhaupt nicht gut an. Die Guardia Civil ist keine normale Polizei, sie ist eine paramilitärische Polizeieinheit, die zeitgleich dem Innenministerium und dem Verteidigungsministerium unterstellt ist. Wegen ihrer Rolle in der Geschichte (mit ihr gelangen oder missglückten Staatsstreiche), vor allem aber, weil sie in Katalonien das Gesicht der Repression während der Franco-Diktatur war, genießt sie hier relativ wenig Ansehen. Nicht zuletzt auch, weil in der Vergangenheit immer wieder Vorwürfe laut wurden (u.a. auch von Amnesty International), dass sie in manchen Verhören Foltermethoden angewendet zu haben (es wurden auch schon einige deswegen verurteilt). Dementsprechend nahmen viele Katalanen die Tatsache, dass jetzt 6.000 zusätzliche Polizisten in Katalonien stationiert wurden, eher als Okkupation wahr. Da es deshalb vor den Unterkünften immer wieder zu „Escraches“ kam (Demonstrationen mit Sprechchören, Musik, Plakaten etc.), und es nicht genug Unterkünfte für die ganzen Polizisten gab, charterte die spanische Regierung drei Kreuzfahrtschiffe, um die Polizisten zu beherbergen. Allerdings haben die Hafenarbeiter (Estibadores) in einer Versammlung entschieden, die Schiffe nicht zu versorgen. Eines der Kreuzfahrtschiffe, das Moby Dada, war kurz darauf überall in den sozialen Netzwerken: Seine Fassade – voll mit Cartoon-Figuren von Looney Tunes wie z.B. Daffy Duck, Piolín (Tweety) oder Wile E. Coyote – scheint doch etwas lächerlich für die Unterbringung der staatlichen Sicherheitskräfte. Nicht einmal Hollywood wäre darauf gekommen, ein Kreuzfahrtschiff mit Tweety und Daffy Duck zu schicken, das 4.000 Polizisten beherbergen soll, deren Aufgabe es ist, ein Referendum zu verhindern. Um wahrscheinlich der Häme im Internet den Wind aus den Segeln zu nehmen, wurden die Figuren – eher schlecht als recht – abgedeckt, was allerdings dazu führte, dass wiederum der Hashtag #FreePiolin zum Trending Topic wurde.
Am 16. September fand in Bilbao (Baskenland) eine große Demonstration in Solidarität mit Katalonien statt. Etwa 30.000 Menschen demonstrierten für das Selbstbestimmungsrecht und sangen am Ende l’Estaca auf Baskisch.
Am 20. September passierte es dann: Ein Gericht in Barcelona ordnete verschiedene Durchsuchungen und Verhaftungen an. Es begann die sogenannte Operación Anubis (Anubis war der Totengott der alten Ägypter). Die Guardia Civil führte 41 Durchsuchungen durch, nahm 14 Regierungsbeamte fest und beschlagnahmte 10 Mio. Stimmzettel. Zuerst durchsuchten sie das Wirtschaftsministerium (Conselleria d’Economia) und nahmen u.a. Josep Maria Jové, Generalsekretär des Vizepräsidenten, und Lluís Salvadó, Generalsekretär für Finanzen, fest. Später durchsuchten sie noch das Ministerium für Auslandsangelegenheiten (Conselleria d’Exteriors), das Ministerium für Soziales (Conselleria d’Afers Socials), das Regierungsministerium (Conselleria de Governació), die Präsidialabteilung (Departament de Presidència), das Finanzamt in der Zona Franca (Agència Tributària), das Zentrum für Telekommunikation der Generalitat, etc. Insgesamt wurden 14 hohe Beamte festgenommen, darunter eben wichtige Mitarbeiter der Ministerien, aber auch Mitarbeiter von IT-Firmen. So wurde Rosa Rodríguez Curto, Direktorin der Firma T-Systems, in Madrid verhaftet.
Das alles blieb natürlich nicht unbemerkt. Schon wenige Stunden nach der ersten Durchsuchung versammelten sich Menschen vor den Gebäuden, um dagegen zu demonstrieren. Erst waren es wenige, schließlich war es noch nicht einmal Mittags; aber es wurden immer mehr. Am frühen Abend hatten sich über 40.000 vor der Conselleria d’Economia versammelt, um gegen die Durchsuchungen und Festnahmen zu protestieren. Auch an anderen Orten versammelten sich wütende Katalanen, wie z.B. vor den Polizeirevieren und dem TSJC. Vor der Parteizentrale der antikapitalistischen CUP versammelten sich hunderte Demonstranten, um die Policía Nacional mit Sitzblockaden davon abzuhalten, die Zentrale zu durchsuchen. Denn dafür hatte sie überhaupt keinen Gerichtsbeschluss. Nach 8 Stunden zogen die Polizisten dann ab. Auch die ANC und Òmnium riefen dazu auf, am Abend gegen die Makrooperation der Polizei zu demonstrieren. Und sie kamen: zehntausende Menschen füllten Barcelonas Straßen, in einem Ambiente, das zwischen Empörung und Wut auf die Guardia Civil und die spanische Regierung auf der einen Seite, und Musik, Partystimmung und Gesang auf der anderen Seite, schwankte. Auch in anderen Städten, nicht nur in Katalonien, sondern in ganz Spanien, kam es zu Protesten. Nicht nur in Valencia, Bilbao oder Donostia/ San Sebastián und 40 anderen Städten, sondern auch in Madrid.
Schon am 17. September hatten sich hunderte Madrilenen im Viertel Lavapiés versammelt – wo nun die zuvor verbotene Veranstaltung über das Selbstbestimmungsrecht statt fand – und sangen zusammen L’Estaca, ein Lied von Lluís Llach, das früher zum Protest gegen die Diktatur diente. Es hatte etwas befremdliches, Madrilenen auf Katalanischen singen zu sehen….zu oft hat man Madrilenen gegen das Katalanische wettern sehen. Doch jetzt zu sehen, dass es auch anders geht, war sehr bewegend. Für alle Katalanen.
Allerdings fehlten bei den Kundgebungen in Madrid, etc. natürlich nicht die Faschisten, die mit ihren „Arriba España“-Rufen und den Franco-Flaggen versuchten, die Demonstranten zu provozieren. Mich persönlich hat der 20. September sehr schockiert. Natürlich wusste jeder, dass Rajoy alles unternehmen würde, um das Referendum zu verhindern. Aber an diesem Tag war einfach zu viel auf einmal passiert: die dauernden Meldungen von neuen Razzien und neuen Festgenommen, die Ankunft der Kreuzfahrtschiffe für die 6.000 auswärtigen Polizisten, die 10 Mio. beschlagnahmten Wahlzetteln, die zehntausenden Menschen auf der Straße, die für die Freilassung der Gefangenen demonstrierten, die nächtlichen Cassolades (Proteste, wo mit Töpfen und Löffeln Lärm gemacht wird, vor allem von Zuhause aus; z.B. hier). Immer wieder hörte man, dass man sich in Francos Zeiten zurückversetzt fühlte, der Ton wurde härter; manche Politiker fingen an, von politischen Gefangen zu reden, darüber, dass die spanische Regierung die Autonomie Kataloniens ausgesetzt hätte und nun dabei wäre, es militärisch (mit der Guardia Civil) zu besetzen. Man sprach davon, dass Madrid in Katalonien einen Staatsstreich durchgeführt hätte. Und in Madrid sprach man dagegen vom Sieg der Demokratie.
Die Demonstration vor der Conselleria d’Economia dauerte bis in die frühen Morgenstunden. Anscheinend konnte die Guardia Civil das Gebäude wegen der Demonstranten nicht verlassen, weshalb sie über 20 Stunden im Gebäude fest saßen. Den Mossos d’Esquadra wurde daraufhin vorgeworfen, nicht genug für die Sicherheit der Guardia Civil getan zu haben, denn anscheinend war es einigen Deppen gelungen, zwei Fahrzeuge der Guardia Civil zu beschädigen (und mit Müll zu befüllen), ohne dass es die Mossos verhindern konnten. Allerdings waren die Mossos überhaupt nicht über den Einsatz benachrichtigt worden und noch gar nicht angekommen, als das mit den Autos passierte (zuerst saßen und standen Journalisten und singende Leute auf den Autos und beklebten sie mit Aufklebern und Plakaten; später wurden wohl die Scheiben eingeschlagen und die Reifen zerstochen). Anders als die Guardia Civil zuerst behauptete, wurden allerdings die Waffen, die unbeaufsichtigt in den Autos lagen (!!!), nicht geklaut. Erst als die Mossos kamen und erfuhren, dass Waffen in den Autos waren, wurden die Menschen von den Autos ferngehalten. Den Beamten der Guardia Civil wurde immer wieder angeboten, sie sicher raus zu eskortieren, aber sie wollten nicht. Man bot ihnen auch an, das Gebäude durch eine Hintertür zu verlassen, aber auch das wollten sie nicht („es gehöre sich nicht für die Guardia Civil, durch die Hintertür zu verschwinden“). Außerdem haben sich die Mossos darüber beschwert, dass sie niemand darüber informiert hatte, dass die Razzien durchgeführt werden würden; denn dann hätten sie es besser planen können. Schließlich gibt es Einsatzpläne für solche Situationen. Selbst als die Organisatoren der Demo, die ANC und Òmnium, mit Freiwilligen einen Gang frei machten und die Mossos diesen mit Antidisturbios (Riot Police – Bereitschaftspolizisten) sichern wollten, kam die Guardia Civil nicht aus dem Gebäude. Warum das ganze Theater kann ich leider nicht verstehen. Sowas passiert anscheinend, wenn es keine Kommunikation zwischen den verschiedenen Polizeieinheiten gibt. Böse Zungen behaupten, dass das alles von der Polizei (und damit von der Regierung) inszeniert war, um das, was noch folgen sollte, vorzubereiten.
Auch der nächste Tag, der 21. September, war geprägt von Demonstrationen für die Freilassung der Gefangenen, für das Referendum und gegen die Polizeiaktionen vom Staat. Vor dem TSJC versammelten sich wieder tausende Menschen, um zu demonstrieren. Aber es war etwas passiert. Natürlich hörte man noch die typischen „Independència“-Rufe, aber es waren nicht mehr so viele. Der Diskurs hatte sich dahin geändert, dass man die Demokratie verteidigen wollte. Wählen ist Demokratie, Wahlen zu verhindern ist antidemokratisch. Menschen ins Gefängnis zu stecken, weil sie anders denken, ist antidemokratisch. Eine Regierung, die die Justiz und die Polizei vorschickt, um ein politisches Problem zu lösen, ist autoritär. Es ging immer weniger darum, die Unabhängigkeit zu verteidigen, und immer mehr darum, die Demokratie in Katalonien und die katalanischen Institutionen zu verteidigen. Und damit haben die Befürworter der Unabhängigkeit und des Referendums einen moralischen Vorteil gewonnen. Es war ein großer Fehler Rajoys, die Polizei in Katalonien agieren zu lassen, wie in längst vergangenen Zeiten. Auch im Ausland verstand man das Handeln der spanischen Regierung nicht. Und das kam Puigdemont gerade recht. Die mächtigen Bilder von Menschen, die vor Kasernen und Gerichten für die Freilassung von Beamten demonstrieren; die den Polizisten und selbst dem Richter, der die Verhaftungen veranlasst hatte, Nelken auf die Autos und in die Büros legten; die zusammen ihre Nationalhymne und L’Estaca sangen (beides Symbole des Kampfes gegen den Autoritarismus), gingen um die Welt. Natürlich waren die Leute aus politischen Gründen inhaftiert worden (man hätte die Untersuchungen ja auch ohne Festnahmen durchführen können), Katalonien ist aber nicht militärisch besetzt und es herrscht auch (noch) kein offizieller Ausnahmezustand. Aber die Bilder, die die Polizeiaktionen ermöglicht haben, sind da. Und damit scheint die Unabhängigkeitsbewegung zumindest die moralische Oberhand gewonnen zu haben.
Die meisten Festgenommen wurden am folgenden Tag auf Kaution freigelassen, die restlichen sechs Angeklagten kamen dann am 22. September frei. Jedoch beschloss die Staatsanwaltschaft der Audiencia Nacional (Gericht zur Terrorismusbekämpfung) die beiden Präsidenten von der ANC und Òmnium (Jordi Sánchez und Jordi Cuixart) wegen Sedición anzuklagen („sedición“ bedeutet soviel wie „Aufruhr“ und der Straftatbestand stammt noch aus der Franco-Diktatur; es gibt in Deutschland keinen entsprechenden Straftatbestand, am ehesten ist er mit Volksverhetzung zu vergleichen, jedoch muss es einen Aufstand gegeben haben, der zum Ziel hatte, sich die staatlichen Institutionen aneignen zu wollen), da sie am 20. September zur – friedlichen – Demonstration gegen die Polizeiaktion aufgerufen hatten. Ein paar Tage später wurde die Anklage von der Richterin Carmen Lamela zugelassen. Sollten die beiden für schuldig befunden werden, droht ihnen eine bis zu 15 jährige Haftstrafe. Mittlerweile hatten sich auch die Universitäten Kataloniens den Protesten angeschlossen. Sowohl an den Unis von Girona, Tarragona und Lleida, als auch an der Universitat de Barcelona und der Universitat Autònoma de Barcelona begannen die Studenten einen Streik, erschienen nicht mehr zum Unterricht und campierten vor den Rektoraten. Außerdem hatte der spanische Finanzminister die Haushaltskasse der Generalitat interveniert. Damit war die Autonomie Kataloniens de facto interveniert, ohne jedoch den umstrittenen Artículo 155 anwenden zu müssen, der dies dann offiziell gemacht hätte. Dieser Paragraph erlaubt es der Zentralregierung, eine Regionalregierung zu zwingen, bestimmte Gesetze oder die Verfassung durchzusetzen (wie genau, steht da aber nicht); oft wurde damit gedroht, allerdings wurde selbst von Rajoy immer wieder versichert, dass er diesen Schritt nicht gehen würde. Zu groß wäre der Effekt in Katalonien, denn schon im Jahr 1934 hatte man die Autonomie suspendiert, die gesamte katalanische Regierung vor Gericht gestellt und kurz darauf war der Spanische Bürgerkrieg ausgebrochen. Da man wusste, dass man den Paragraph nicht offiziell anwenden konnte, versuchte man es sozusagen durch ein Hintertürchen. Die Konten der Generalitat werden jetzt vom spanischen Finanzminister kontrolliert, was vor allem bei der Bezahlung der katalanischen Beamten zu Schwierigkeiten führen wird.
Inzwischen gibt es auch keinen Wahlkommission mehr: Das Verfassungsgericht hatte jedem Mitglied der Kommission mit einer Geldstrafe von bis zu 12.000€ für jeden Tag, den sie weiterhin in der Kommission tätig waren, gedroht, sodass die Generalitat die Wahlkommission auflöste. Damit fehlt allerdings ein wichtiger Bestandteil, damit das Referendum Gültigkeit hat. Mal ganz davon abgesehen, dass es ja schon vom Verfassungsgericht ausgesetzt worden war. Aber die Generalitat hatte ja ein eigenes Gesetz für das Referendum verabschiedet, nach dem sie sich richten wollte. Und in diesem Gesetz war die Wahlkommission unentbehrlich. Trotzdem beharrt Puigdemont darauf, dass das Referendum stattfinden wird. Jetzt sollen internationale Beobachter die Wahlkommission ersetzen.
Am 23. September fand zudem das Fußballspiel F.C. Barcelona vs. Girona FC statt. Es war das erste Mal, dass diese beiden katalanischen Vereine in der ersten Liega gegeneinander spielten. Nach dem Singen der katalanischen Nationalhymne, ertönten die „Votarem“-Rufe (Wir werden wählen).
Am 24. September gab es wieder eine große Demonstration in Barcelona. Die ANC und Òmnium hatte über 1 Mio. Stimmzettel ausgedruckt und verteilten sie unter den Anwesenden und forderten diese auf, sie überall in Katalonien zu verteilen. Währenddessen überflogen Polizeihubschrauber die Demo. Am selben Tag hatte Unidos Podemos (das Wahlbündnis von Izquierda Unida und Podemos) eine Versammlung in Zaragoza organisiert, um mit allen Parteien, die eine Lösung für den Konflikt wollten, über mögliche Lösungen zu diskutieren. Neben Podemos und seinen verschiedenen regionalen Kandidaturen (z.B. Barcelona en Comú, Catalunya en Comú, die galicische En Marea, Zaragoza en Común), kamen auch Abgeordnete der katalanischen PdeCAT und ERC, der valencianischen Compromís und der baskischen PNV. Die PP, Ciudadanos und PSOE wollten nicht teilnehmen. Vor dem Veranstaltungsort versammelten sich über 600 Ultras, spanische Nationalisten, die die 400 Teilnehmer der Versammlung daran hinderten, den Ort zu verlassen. Neben Beschimpfungen wie „Verräter“ und „Putschisten“, Rufen wie „Viva España„ und „Contra la traición, ejecución“ (Gegen den Verrat, Exekution), kam es allerdings auch zu Handgreiflichkeiten. So wurde z.B. die Parlamentspräsidentin von Aragón durch eine Flasche verletzt, die auf sie geworfen wurde. Die Polizisten, die da waren, reichten zuerst nicht aus, um die Rechtsextremen zurückzudrängen.
Am 25. September geschah erstmal nicht viel. Jedoch brachen hunderte Polizisten aus ganz Spanien auf, um am 1. Oktober das Referendum zu verhindern. Inzwischen sind 75% aller Bereitschaftspolizisten Spaniens in Katalonien. Die Videos, die kurz nach dem Aufbruch in Richtung Katalonien, im Internet kursierten, stachelten allerdings das Klima in Katalonien weiter an. Man sieht, wie hunderte Menschen mit spanischen Flaggen (teilweise auch mit Franco-Flaggen) die Guardia Civil und die Policía Nacional am Straßenrand verabschieden, während sie „A por ellos“ (Holt sie euch/Macht sie fertig), „Hostias como panes“ (in etwa „Schlagt sie richtig“) oder „Viva la Guardia Civil“ riefen. Die Polizisten selbst teilweise eingehüllt in Spanien-Flaggen oder mitten in Barcelona die spanische Nationalhymne über Lautsprecher abspielend…das alles hilft leider nicht. Die Bilder von Polizei-Konvois, die in Katalonien eintrafen und besonders dieses „A por ellos„, das man sonst nur von Fußballspielen kennt, erweckten in vielen Katalanen einmal mehr das Gefühl, dass man auf sie Jagd macht. Aber das scheint wohl selbst Rajoy erkannt zu haben, so verurteilte er diese Art der Verabschiedungen und wies die Bürgermeister dazu an, keine Manifeste oder öffentliche Flaggeneide (Schwur auf die spanische Flagge) mehr zu veranstalten, um die Situation nicht weiter aufzuheizen. Einen Tag später scheint er das aber wieder vergessen zu haben, denn gestern veröffentlichte die PP eine Video-Kampagne, um auf die Hispanophobie der katalanischen Separatisten aufmerksam zu machen.
Am 26. September sperrte die Guardia Civil über 140 Websites, die meisten davon hatten über das Referendum informiert. Aber auch die Website der ANC wurde gesperrt (allerdings wenige Stunden später mit der Domain .eu wieder geöffnet). Auch die Seite der Generalitat, wo die Bürger nachgucken konnten, in welchem Wahllokal sie wählen können, wurde gesperrt. Außerdem gab die Generalitat bekannt, dass alle Benachrichtigungen an die Wahlhelfer verschickt wurden, obwohl letzte Woche 45.000 Benachrichtigungen beschlagnahmt wurden. Wie sie es geschafft haben, sie trotzdem zu verschicken (vor allem, weil die öffentliche Post ja keine Briefe zustellt, die mit dem Referendum zu tun haben), weiß man nicht. Geplant ist auch, dass die Wahlkommission am Tag des Referendums erneut ernannt wird, um so zu verhindern, dass das Verfassungsgericht genug Zeit hat, um Geldstrafen gegen die Mitglieder auszusprechen. Zudem haben sich einige Druckereien zusammengetan, um alle Stimmzettel für Sonntag auszudrucken. Seit gestern demonstrieren Schüler der Sekundarstufe und Studenten in ganz Katalonien unter dem Motto „Buidem les aules“ (Wir leeren die Klassenzimmer). Und die spanische Regierung hält weiterhin daran fest, dass es kein Referendum geben wird. Am 1. Oktober werden neben den knapp 17.000 Mossos, fast 10.000 Polizisten der Guardia Civil und Policía Nacional in Katalonien sein. Es ist das größte Polizeiaufgebot in der Geschichte der spanischen Demokratie. Welche Polizei am Ende verhindern soll, dass gewählt wird, weiß man noch nicht. Der spanische Innenminister hatte die Mossos am 23. September der Guardia Civil unterstellt, was zwar akzeptiert, von Josep Lluís Trapero Álvarez, dem Polizeipräsidenten der Mossos, aber missbilligt wurde. Die Mossos wären für die öffentliche Sicherheit in Katalonien zuständig, nicht die Guardia Civil, und sie hätten keinen Grund geliefert, um jetzt wie kleine Kinder beaufsichtigt werden zu müssen. Die Generalitat hat angekündigt, rechtliche Schritte dagegen einzuleiten, denn laut Autonomiestatut und dem spanischen Polizeigesetz unterstehen die Mossos dem katalanischen Innenministerium und nicht dem spanischen. Bis jetzt scheint es aber so, als würden die Mossos den Anweisungen des Generalstaatsanwalt entsprechen. Nur beim Absperren der Wahllokale scheint man sich uneinig zu sein. Der Staatsanwalt will, dass alle Wahllokale abgesperrt werden und deren Öffnung am Sonntag verhindert wird. Doch die Mossos haben – obwohl sie angekündigt haben, die Anweisungen zu befolgen – Zweifel angemerkt, da es ihrer Meinung nach zu „ungewünschten Gefahren“ kommen könnte, weil es vorhersehbar sei, dass diese Aktion zur Störung der öffentlichen Ordnung führen würde.
Was am 1. Oktober passieren wird, ist unklar. Zwar beharrt die Generalitat immer noch auf dem Referendum und sagt, dass es stattfinden wird, aber jeder, der nicht in Extreme verfällt, weiß, dass dieses Referendum keine rechtlichen Grundlagen mehr hat und dementsprechend international nicht anerkannt werden wird. Man weiß nicht genau, welches Wahlregister benutzt wird, ob die Wahllokale öffnen können, ob es Wahlurnen geben wird und ob überhaupt die Mehrheit der Katalanen wählen gehen wird. Außerdem weiß man nicht, wie die Polizei verhindern wird, dass gewählt wird. Werden sie sich vor die Wahllokale stellen? Was werden sie machen, wenn die Menschen trotzdem versuchen, in die Wahllokale zu gelangen? Werden sie vorhandene Wahlurnen entfernen? Wird es zur Anwendung von Gewalt kommen? Manche Medien berichten jetzt schon darüber, dass radikale Systemgegner aus Italien und Griechenland angekündigt haben, am 1. Oktober in Barcelona zu sein, um Chaos zu verbreiten. Wir in Hamburg wissen, was das heißen kann. Aber stimmt das? Wenn ja, würde das den gesamten friedlichen Prozess beschmutzen. Zwischen Puigdemont und Rajoy kommt es nur zu gegenseitigen Schuldzuweisungen, auch wenn Puigdemont sich immer noch dazu bereit erklärt hat, über ein legales Referendum zu verhandeln. Für Rajoy und den rechts-extremen Flügel der PP kommt ein Referendum oder etwas, was dem auch nur ähnelt, überhaupt nicht in Frage. Die Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau, hat die EU aufgerufen, zu vermitteln. Die Stadt Barcelona selbst stellt offiziell keine eigenen Wahllokale bereit, um die Beamten nicht zu gefährden, allerdings werden die Wahllokale geöffnet, die der Generalitat unterstehen. Und das Klima wird immer angespannter. Katalanen, die in der Öffentlichkeit stehen, und es wagen, das Referendum am 1. Oktober zu kritisieren, werden schnell in den sozialen Netzwerken als Faschisten beleidigt; Spanier, die es wagen, ein Referendum in Katalonien zu verteidigen, erleiden dieselben Beleidigungen, nur von der anderen Seite. Immer noch werden jede Nacht Plakate in den Städten aufgehangen, und kurz darauf von der Polizei wieder entfernt. Tausende Studenten demonstrierten heute für das Referendum und sperrten die Hauptverkehrsstraßen Barcelonas. Die Feuerwehr Barcelonas und anderer Teile Kataloniens hat sich dazu entschieden, bei der Durchführung des Referendums zu helfen, indem sie mit Feuerwehrleuten sichere Gassen zu den Wahllokalen bildet. Die CUP hat dazu aufgerufen, die Wahllokale schon am Tag vorher zu besetzen, um zu verhindern, dass die Polizei sie schließt. Mehrere Lehrer- und Elternverbände haben die Plattform EscolesObertes (Offene Schulen) ins Leben gerufen, um so sicherzustellen, dass die Wahllokale (oft halt Schulen) geöffnet werden können. Es sind dutzende, vielleicht hunderte, Nachbarschaftsvereine entstanden, die sich für das Referendum einsetzen wollen, aber auch insgesamt für sozialen Fortschritt und mehr Demokratie kämpfen wollen; diese Menschen aller Art, egal ob jung oder alt, betuchter oder ärmer, in Katalonien geboren oder woanders, haben sich mit ihren Nachbarn zusammengetan und die sogenannten Comitès de Defensa del Referèndum gegründet (CDR; Komitees für die Verteidigung des Referendums). Ihr Plan ist auch die Wahllokale im voraus zu besetzen, aber vor allem auch die Wahllokale am 1-O durch friedlichen Widerstand zu beschützen. Außerdem hat die größte Agrar-Gewerkschaft Unió de Pagesos angekündigt, dass die Landwirte ihre Trecker bereitstellen, um Absperrungen zu errichten und so zu verhindert, dass die Polizei vor die Wahllokale vorrücken kann. Währenddessen hat die Guardia Civil schon wieder 2,5 Mio. Wahlzettel, 4 Mio. Briefumschläge und 100 Wahlurnen in einer Fabrik in Igualada gefunden. Bis auf die Urnen, die nachweislich für eine Wahl beim F.C. Barcelona bestimmt waren, wurde alles beschlagnahmt. Außerdem hat die Polizeigewerkschaft Unión de Guardias Civiles einen Fernsehreporter wegen Terrorismus, ja wegen Terrorismus, angezeigt, weil er während einer Live-Übertragung auf einem Auto der Guardia Civil stand. In Barcelona bewacht die Guardia Urbana (Stadtpolizei) die Wahlurnen, die normalerweise für Wahlen benutzt werden, damit sie niemand mitnimmt. Neben der zusätzlichen Polizei, hat der spanische Innenminister Zoido zudem einen umstrittenen Wasserwerfer nach Barcelona geschickt, der seit seiner Beschaffung im Jahr 2013, noch nie benutzt wurde. Neben dem Wassertank hat es noch einen zusätzlichen Tank, in dem Tinte hinzugefügt wird, um die Leute zu markieren. Man weiß nicht, was passieren wird. Und ich glaube, die meisten Katalanen macht es ziemlich traurig, dass man bis zu diesem Punkt gekommen ist. Das Klima in Katalonien ist sehr gespalten: Nicht unbedingt wegen des Referendums, denn laut der letzten Umfrage von letzter Woche, wollen 82% der Katalanen ein Referendum (allerdings ein legales, mit der Zentralregierung vereinbartes Referendum mit Garantien). Aber die Frage der Unabhängigkeit spaltet das Land. Auf der einen Seite wollen immer mehr Menschen die Unabhängigkeit (laut einer Umfrage von El Español waren Anfang September 50,1% dafür und 45,7% dagegen), auf der anderen Seite radikalisieren sich aber auch die Ansichten. Bürgermeister, die die Wahllokale nicht öffnen wollen, werden teilweise beschimpft; aber auch Leute, die z.B. Wahlplakate aufhängen oder für die Unabhängigkeit demonstrieren, werden als Putschisten und Verräter bezeichnet, manchmal sogar tätlich angegriffen (das ist nämlich leider der große Unterschied zwischen den Separatisten und den spanischen Ultras; Separatisten können beleidigen, beschimpfen, aber die anderen werden gewalttätig).
Auch beim heutigen Europa-League-Spiel Athletic Bilbao vs. Sorja Luhansk ertönten von Seiten des Athletic-Fanblocks „Votarem“-Rufe (hier).
Und es kommt weiterhin jeden Tag zu Demonstrationen in ganz Katalonien. Egal ob in Barcelona, Tarragona, Vic, Manresa, oder Girona. Oder in Lleida, Tortosa, Terrassa oder Sant Boi. Überall. Die Krise mit Katalonien ist mittlerweile zur wichtigsten Staatskrise Spaniens seit der Wiedereinführung der Demokratie geworden. Nicht einmal der Putschversuch vom 23. Februar 1981 (von Teilen der Guardia Civil und des Militärs durchgeführt) hatte diese Auswirkungen. Die regierende PP hat keine Mehrheit im Parlament und hängt vom Wohlwollen der baskisch-nationalistischen PNV-EAJ ab. Doch diese haben, nach Beginn der Operación Anubis, bekannt gegeben, dass sie den Haushaltsplan für 2018/2019 nicht unterstützen werden, bis man eine Lösung für Katalonien gefunden hat. Auch wenn die großen Parteien formal hinter den Aktionen der PP stehen (vor allem Ciudadanos, aber auch PSOE), gibt es weite Teile der Opposition, die dagegen sind. So stimmte letzte Woche eine Mehrheit des Kongresses (PSOE, Unidos Podemos und verschiedene nationalistische Regionalparteien) gegen einen Gesetzesvorschlag von Ciudadanos – der von der PP unterstützt wurde – um das Referendum zu verhindern. Ciudadanos forderte z.B. den Zugang zu sozialen Netzwerken am 1. Oktober zu beschränken. Ja, Demokratie heißt auch, sich an die Gesetze zu halten, aber der Zweck heiligt nicht die Mittel. Und besonders nicht in diesem Fall, denn es handelt sich nur um Urnen. Die übrigens nur auf diese Art und Weise aufgestellt werden, weil man der Generalitat seit Jahren keinen Kompromiss angeboten hat.
Überall aus Europa werden Stimmen laut, die Rajoy dazu aufrufen, mit Puigdemont zu verhandeln; gleichzeitig rufen sie Puigdemont dazu auf, das Referendum am 1. Oktober abzusagen. Aber es ist schwierig. Beiden Parteien nützt es, dass die Situation sich weiter zuspitzt. Rajoy sammelt mit seinem Handeln viele Stimmen im ländlichen Spanien, vor allem in den rechten und rechts-extremen Kreisen. Die Verteidigung der Einheit Spaniens war und ist das wichtigste Ziel der spanischen Rechten. Traurigerweise werden neuerdings sogar Stimmen lauter (von Ciudadanos mal abgesehen), denen Rajoys Vorgehen nicht hart genug ist. Und Puigdemont verdankt dem Handeln Rajoys, dass immer mehr Katalanen die Unabhängigkeit wollen. Maza, der Generalstaatsanwalt, hat sogar durchsickern lassen, dass er es für möglich hält, auch Puigdemont zu verhaften. Für jemanden, der bereit ist, sein politischen Leben dafür zu opfern, ist das aber keine Drohung. Mehr noch, es würde dazu führen, dass sich Katalonien endgültig von Spanien abwendet. Nach den letzten veröffentlichten Umfragen (Januar 2017), fühlen sich 25% der Katalanen ausschließlich als Katalanen, 23% fühlen sich mehr als Katalanen als als Spanier. Das sind knapp 50%, die zumindest emotional wenig bis gar nichts mehr mit Spanien anfangen können. Letztes Jahr waren es insgesamt noch etwa 33% (die Zahlen können aber je nach Institut und Monat variieren). 40% fühlen sich sowohl als Katalanen als auch als Spanier. Nur knapp 9% fühlen sich mehr oder ausschließlich als Spanier. An diese 40% richten sich immer die PP und Ciudadanos, sie wären die „stumme Mehrheit“ in Katalonien. Die, die die Unabhängigkeit nicht wollen, die „guten Katalanen“. Doch von der PP will in Katalonien fast niemand etwas wissen, schließlich wählten sie nur ca. 13% (bei den Spanischen Parlamentswahlen 2016) bzw. 8% (bei den katalanischen Parlamentswahlen 2015). Und eine Partei, die in den letzten Jahrzehnten dutzende Korruptionsskandale angehäuft hat (im Moment stehen über 900 Abgeordnete wegen Korruption vor Gericht), die aktiv und passiv gegen Katalonien und das Katalanische gehetzt hat, und die immer, wenn sie kann, Politik gegen Katalonien macht, hat für Katalanen, egal als was sie sich fühlen, keinerlei moralische Autorität. Denn unter der Politik der PP leiden alle Katalanen (und auch Spanier), nicht nur die Separatisten.
Ich persönlich kann mir nicht vorstellen, was passieren kann. Ich will es mir auch nicht vorstellen. Es macht mich traurig zu sehen, dass man bis hierhin gekommen ist. Es war klar, beide Seiten haben es seit Monaten angekündigt. Aber von einem spanischen Präsidenten hätte man doch etwas mehr Weitsicht erwartet. Was denkt er denn, was passieren wird? Meint Rajoy tatsächlich, dass man die Ideen der Menschen verändern kann, indem man Menschen verhaftet, Websites sperrt, Polizei zur Einschüchterung schickt, Wahlplakate und Stimmzettel beschlagnahmt und die Menschen daran hindert, wählen zu gehen? Ehrlich? Natürlich muss man auch die Generalitat kritisieren: in ihrem Bestreben unbedingt das Referendum durchführen zu können, hat sie gewiss nicht alles richtig gemacht. Und man nutzt geschickt die Zuspitzung der Situation, um das Bild Spaniens als autoritären Staat noch weiter zu untermauern. Vor allem im Ausland. Es spielt ihnen sehr in die Hände, wie der Staat agiert, um sich in der Opferrolle zu bestärken. Es ist jedoch allein die Schuld des spanischen Staates, dass man solche Bilder überhaupt „ausnutzen“ kann. Denn es ist ja passiert. Aber am Ende muss man auch sagen, dass die Generalitat alles mögliche getan hat, um ein legales Referendum abzuhalten. Die Antwort aus Madrid war aber immer Nein. Die Generalitat hat immer gesagt, dass dieses Referendum nicht das ist, was sie gerne hätten; aber es sei nun mal das einzige, was möglich war. Die Antwort auf ein politisches Problem darf nie eine juristische sein. Selbst die Polizisten und Richter beschweren sich, dass Rajoy die Justiz dafür ausnutzt, um keine politische Antwort geben zu müssen. Und das kann nicht lange gut gehen. Ich hoffe nur, dass die PSOE noch einlenkt, und zusammen mit Unidos Podemos, etc., einen Dialog beginnt. Spanien braucht eine tiefgreifende Reform der Verfassung. Und mit diesen Mehrheiten könnte man es hinbekommen. Spanien muss ein föderativer oder sogar konföderativer Staat werden (entweder wie Deutschland oder wie es ursprünglich für die BRD und DDR geplant war), der seine Plurinationalität und Mehrsprachigkeit anerkennt. Es kann nicht sein, dass jemand aus Madrid keine Ahnung von der Geschichte, Sprache und Kultur Kataloniens, Galiciens oder des Baskenlands hat. Würde man ein Referendum machen, in dem die Katalanen dann zwischen diesem neuen Spanien und der Unabhängigkeit wählen können, dann würde das neue Spanien bestimmt gewinnen. Angesichts der aktuellen Situation und der fehlenden Bereitschaft des Staates seit Jahrzehnten irgendwas zu verändern, ist das aber leider nur Wunschdenken. Die Frage „Unabhängigkeit Ja oder Nein“ hat für all diejenigen, die was verändern wollen, nur eine Antwort: Ja. Denn mit „Nein“ würde man den Status Quo beibehalten, und das will fast niemand mehr in Katalonien. Hoffentlich erkennen das die, die die Macht haben und stellen ihre Parteiinteressen mal hinten an. Die meisten Menschen haben nämlich die Nase gestrichen voll.