Das Caló – früher auch Zincaló, Romanó, von manchen Sprechern auch Chipí-Callí (Sprache der Calé) und von Sprachwissenschaftlern oft Romaní Ibérico (Iberisches Romani) genannt – ist die Sprache der Calé, der spanischen Roma (auch Gitanos genannt). Caló bedeutet auf Romani „schwarz“ (= kalo). Dabei handelt es sich aber nicht mehr um eine Varietät des Romani, sondern um eine Mischsprache: Die Grammatik ist fast ausnahmslos Spanisch (aber auch Katalanisch oder Portugiesisch), der Wortschatz größtenteils Romani. Diese Sprachvarietäten, die es auch in anderen europäischen Ländern gibt (z.B. das Anglo-Romani in England oder das Romani Rakripa in Skandinavien), nennt man auch Para-Romani. Jedoch hat sich in der Romani-Linguistik auch der Name Pogadolekt (von Romani pogadi čhib – ‘gebrochene Sprache’) eingebürgert, den ich bevorzugen würde; nicht zuletzt, weil es ein wichtiger Beitrag von Roma-Sprachwissenschaftlern zur allgemeinen Sprachwissenschaft wäre.
Man kann nicht über das Caló schreiben, ohne auf seine Sprecher — die Calé —einzugehen. Die Geschichte der Roma in Spanien geht bis ins 15. Jhd. zurück. Wie genau sie nach Spanien kamen ist aber bis heute nicht eindeutig geklärt. Es gibt Theorien, die besagen, dass sie – nachdem sie Indien im 10. Jhd. verlassen hatten – über die Straße von Gibraltar aus Nordafrika kamen. Andere besagen, dass sie von Norden einwanderten, nachdem sie vom Balkan aus durch Europa zogen. Man weiß nur, dass ihre Präsenz in Spanien seit 1425 belegt ist, und dass man sie früher „Egipcianos/ Egiptanos“ (Ägypter) nannte, da man davon ausging, dass sie aus Ägypten kamen. Aus Egiptano wurde dann wohl Giptano und am Ende Gitano (ähnliches passierte auch z.B. im Englischen: Egyptian > Gyptian > Gypcyan > Gypsy). Anders als in Deutschland, wo sich die Sinti und Roma selbst nicht mit dem Z-Wort bezeichnen, was bei der Wortherkunft (byzantinisches Griechisch Tsingános = Unberührbare) und den grausamen Nazi-Verbrechen mehr als verständlich ist, nennen sich in Spanien die Roma selbst auch Gitanos, da das Wort — ursprünglich auch eine Fremdbezeichnung — bei weitem nicht so negativ behaftet ist wie hierzulande.
Bei ihrer Ankunft sprachen sie Romanes/ Romaní, eine indoarische Sprache (genauso wie Hindi, Urdu, Bengali oder Panjabi), die ihren Ursprung wohl im klassischen Sanskrit hat. Da die Roma allerdings von Indien aus in mehreren Migrationsbewegungen nach Europa kamen, entwickelte sich das Romani anders als die übrigen indoarischen Sprachen. Durch den Kontakt zu anderen Sprachen kamen zu den Wörtern indischen Ursprungs auch welche persischen, armenischen und griechischen Ursprungs hinzu. Und auch der Kontakt zu den Mehrheitssprachen in Europa blieb nicht folgenlos: Es entstanden viele unterschiedliche Dialekte. Trotzdem ist es den meisten europäischen Roma heute immer noch möglich, sich untereinander auf Romani zu verständigen, egal ob der Gesprächspartner aus Bulgarien, der Türkei, Rumänien, Deutschland oder Frankreich ist, weil sich der Grundwortschatz kaum verändert hat.
Wie im Rest Europas hatten es die Gitanos in Spanien nicht leicht. Anfangs gab es keine Probleme, es ist sogar belegt, dass Kolumbus im Jahr 1498 vier Gitanos mit nach Amerika nahm. Doch schon ein Jahr später, im Jahr 1499, wurde ein königliches Gesetz erlassen, das alle Gitanos dazu zwang, sesshaft zu werden und sich der Mehrheitsgesellschaft anzupassen (unter Androhung von Verbannung, Folter und Sklaventum). Was hatten sie verbrochen? Sie waren anders. Sie gehorchten keinem Herren, sie hatten keinen festen Wohnsitz und zahlten deshalb keine Steuern. Immer wieder kam es zu großangelegten Razzien, die zum Ziel hatten, so viele junge Roma-Männer wie möglich festzunehmen, um diese dann als Ruderer für spanische Galeeren zwangzurekrutieren. Als die Repressionen gegen die Roma in Westeuropa im 17. Jhd. zunahmen, verursachte dies einen neuen Migrationsstrom nach Spanien. Dasselbe passierte auch im 19. Jhd. als die Roma in Rumänien aus dem Sklaventum befreit wurden. Diese, im 19. Jhd. nach Spanien gekommenen, Roma nannte man in Spanien „húngaros“ (Ungarn).
Die Familien wurden dauernd umgesiedelt, ihnen wurde verboten ihre traditionelle Kleidung zu tragen oder ihre Sprache zu sprechen, ab dem 18. Jhd. wurden sie zudem massenhaft nach Amerika deportiert. Im Jahr 1749 veranlasste der spanische König Fernando VI. die “Gran Redada” (die Große Razzia), die das Ziel hatte, alle in Spanien lebenden Gitanos zu verhaften und nach Geschlechtern zu trennen, um sie so langfristig auszurotten. Die Historiker gehen von etwa 10.000 inhaftierten Gitanos aus. Es waren nicht mehr, weil im königlichen Erlass nicht klar definiert war, wer als Gitano zu gelten hatte und wer nicht. So begrenzte man sich auf bestimmte, traditionell von Gitanos ausgeführte, Berufe etc. Außerdem hatten viele Gitanos, die schon seit Generationen in Spanien lebten, bereits das Bürgerrecht erhalten, weshalb sie nicht festgenommen werden konnten.
Zur Ausrottung kam es jedoch nicht, da der neue spanische König Carlos III. im Jahr 1763 anordnete, die Gefangenen frei zu lassen. Allerdings sollte es bis 1783 dauern, bis wirklich alle inhaftierten Gitanos freigelassen wurden. Carlos III. erteilte jedem Gitano eine Aufenthaltsberechtigung und ernannte sie zu Bürgern Spaniens. Von nun an hatten sie das Recht, sich überall im Königreich niederzulassen und jeglichen Beruf nachzugehen. Außerdem galt nun die Schulpflicht auch für die Gitanos. Wer sich weigerte einen Gitano zu beschäftigen oder den Gitanos eine Wohnung zu geben, musste mit harten Strafen rechnen. Schließlich wurde das Wort „Gitano“ offiziell in der spanischen Verwaltung verboten, sodass es seit 1783 keine staatliche Unterscheidung zwischen Gitanos und Payos/ Gaché (Nicht-Roma) mehr gibt. Doch der Preis dafür war hoch: Um diese Privilegien zu erhalten, mussten die Roma ihr Leben als eigene Ethnie aufgeben. Sie mussten sesshaft werden und durften weder ihre traditionelle Kleidung tragen noch Caló oder Romaní sprechen. Insgesamt gab es zwischen 1499 und heute über 280 königliche Erlasse, die sich gegen die Roma, ihre Kultur und Sprache richteten.
Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass es sich beim Caló hauptsächlich um eine gesprochene Sprache handelt. Es gibt kaum schriftliche Zeugnisse, weder im ursprünglichen Romani noch in Caló. Jedoch erscheinen einzelne Sätze in Romani in der Literatur des Siglo de Oro (Goldenes Zeitalter Spaniens, 16./17. Jhd.), besonders um die Gitanos „authentisch“ wirken zu lassen. So sagt eine Gitana im Theaterstück „Aucto del finamiento de Jacob“ (16. Jhd.): «aduca penatereza» (richtig geschrieben wohl «a ducapén na tereza»), was in heutigem Romani wohl eher „(a) dukhipen na theresa“ geschrieben werden würde („No tienes [la] pena“ = “Du hast nicht den Kummer”). Dass das Romaní aber auch noch im 17. Jhd. lebendig war — obgleich es wohl schon teilweise kastilisiert war — beweist z.B. die Aussage des Stadthalters von Campo (Kastilien): «hablaban un idioma que no podíamos entender y otras veces hablaban castellano» (“sie sprachen eine Sprache, die wir nicht verstehen konnten, und manchmal sprachen sie Spanisch”). Allerdings sprachen wohl zu der Zeit schon die meisten Gitanos Spanisch. Durch das jahrhundertelange Verbot der Sprache, die Verfolgung, die Deportierungen, etc., hatten sich die meisten Gitanos zumindest nach Außen hin an die Mehrheitsgesellschaft angepasst.
Anders lässt sich die Entstehung des Caló nicht erklären. Da sich das Caló dadurch auszeichnet, dass es hauptsächlich aus Romaní-Wortschatz und spanischer Grammatik besteht, kann es schlecht sein, dass die Caló-Sprecher zu dem Zeitpunkt noch Romaní beherrschten. Wenn man eine neue Sprache lernt, dann merkt man sich am schnellsten die Wörter; sich die Grammatik zu merken und richtig anzuwenden, dauert länger. Deswegen ist es am wahrscheinlichsten, dass Gitanos, deren Muttersprache bereits Spanisch war und die keine oder nur geringe Kenntnisse der Romaní-Grammatik hatten (z.B. durch Großeltern, die noch Romaní sprachen), absichtlich Romaní-Wörter in ihr Spanisch einfügten. Zu welchem Zweck auch immer. Manche meinen, dass es so als Geheimsprache diente, andere denken, dass es zur Stärkung der Gitano-Identität betragen sollte, die ihnen ja offiziell verboten worden war.
Dabei handelt es sich beim Caló nicht um eine Kreolsprache (wie es z.B. das jamaikanische Patois, das haitianische Kreyòl oder das philippinische Chavacano sind), da sich diese hauptsächlich dadurch auszeichnen, dass die Grammatik der Sprache der Kolonialmacht (oder Prestige-Sprache, Basissprache) vereinfacht wird und sich teilweise sogar die Wortstellung (Syntax) innerhalb der Sätze ändert. Das Caló hat die spanische Grammatik allerdings nahezu lückenlos übernommen. Außerdem besteht der Wortschatz der meisten Kreolsprachen zu ca. 80% aus Wörtern der europäischen Basissprache, während es beim Caló und anderen Pogadolekten umgekehrt ist. Die Entwicklung vom ursprünglichen Romaní zum Caló muss wohl als gradueller Prozess betrachtet werden, der zudem von Familie zu Familie, von Gemeinde zu Gemeinde und von Region zu Region unterschiedlich schnell und tiefgreifend vonstatten ging. Außerdem ist es nicht auszuschließen, dass sich durch die nomadische Lebensweise vereinzelter Roma-Familien, der Wortschatz immer wieder neu anreicherte und bestimmte Familien, die vielleicht sehr abgeschieden lebten, ein weitaus konservativeres Caló beibehielten, als es z.B. bei den Roma in den Großstädten der Fall war. Heute unterscheidet man auf der Iberischen Halbinsel vier Caló-Varietäten: das spanische Caló (hatte seinen Ursprung in Andalusien, weshalb es auch andalusisches Caló genannt wird), das portugiesische Caló (geht auf das andalusische Caló zurück), das katalanische Caló (basiert nicht auf dem Spanischen, sondern auf dem Katalanischen) und das baskische Caló oder Erromintxela (basiert auf der baskischen Grammatik; für andere Caló-Sprecher unverständlich).
Man geht davon aus, dass es bereits Ende des 17./ Anfang des 18. Jhds. keine Romani-Sprecher mehr in Spanien gab. Ab dieser Zeit war Caló wohl die Muttersprache vieler Gitanos, aber auch Nicht-Gitanos bedienten sich des Caló. Besonders die Gauner nahmen viele Caló-Wörter in ihre Gaunersprache (Germanía) auf, was bewirkte, dass man in der spanischen Gesellschaft das Caló auch immer mit Gaunersprache in Verbindung brachte und bringt. Die erste Wortsammlung erscheint Mitte des 18. Jhds.: „Lengua egipciaca, y más propio, Guirigay de Jitanos“. Interessant ist in diesem Manuskript z.B. der Satz „avelar mal muy“ = span.: tener mala cara (schlecht/krank aussehen; wörtlich: ein schlechtes Gesicht haben). Avelar (in anderen Texten auch terelar) bedeutet „haben“ (Romani-Wortstamm: av-bzw. ther–; z.B. im walisischen Romani ‘avel’; im mazedonischen Arli-Romani: ‘therel’), hier mit dem spanischen –ar als Infinitiv-Endung. Muy heißt „Gesicht, Mund“ (span.: cara) und kommt vom Romani „muj“. Allerdings ist das Wort im Romani männlich (im Spanischen weiblich), weshalb man im Caló das spanische Adjektiv „mal“ (schlecht) angepasst hat: mal muy statt mala muy. Aber schon in diesem Glossar wird klar, dass man die Romani-Grammatik nicht mehr wirklich beherrschte. So erscheint ‘mollate’ für „Wein“, obwohl es auf Romani „mol“ wäre. Mollate ist der Lokativ von mol (Romani: molyate). Ähnliches ist mit dem Romani-Satz „Merav bokhatar“ (Ich sterbe vor Hunger) passiert: Merelo de bocata (span.: Me muero de hambre). Obwohl man im Caló nun die Präposition „de“ eingefügt hat, benutzt man weiterhin die damit jetzt eigentlich unnötige Ablativ-Endung -ata(r).
Das erste zeitlich genau datierte Zeugnis auf Caló, sind ein paar Zeilen einer Seguidilla (La Gran Boda de los Gitanos; Guerrero, 1761):
∼ Ya chala la palestra / por apalustro / Si tu tai lo junela / ya sin najato / chele belengue / Y a los chino les jalle / mixtos el mengue ∼
Leider konnte ich keine wirkliche Übersetzung dafür finden, zumal man sich anscheinend auch bei der Schreibweise nicht sicher ist (man findet zwei verschiedene Versionen). Neben eindeutig spanischen Wörter (z.B. la, ya, por, si, lo) und einigen, zumindest mir, unbekannten Wörtern (z.B. apalustro, chele belengue) findet man viele Wörter, die klar auf dem Romaní basieren: Chalar heißt ‘gehen/überqueren’ (Romani: džal), tai (eigentlich dai) heißt ‘Mutter’ (Romani: daj), junelar bedeutet ‘(zu)hören/bemerken’ (Romani: šunel), sin bedeutet ‘ich bin’ (Romani: sim), najato bedeutet wohl ‘verloren’ (Romani: našado, našav- = verlieren), chino (auch chinel) könnte ‘Polizist/ Gerichtsdiener/ gelehrte Person’ bedeuten (Romani: dženo, Person), jallar (meistens jalar oder jalelar) heißt ‘essen’ (Romani: hal), mixto bedeutet ‘gut’ (Romani: mišto) und mengue (auch bengue) ist der ‘Teufel’ (Romani: beng). Zu den Wörtern palestra, apalustro und chele belengue habe ich leider nicht viel gefunden. Palestra scheint wohl aufs Mittelgriechische „Peristerá“ (Taube) zurückzugehen, da das Sinti-Wort für Taube (Pilsteri) den selben Ursprung hat. Deshalb könnte es sowohl ‘Taube’ als auch ‘Braut’ bedeuten, weil das spanische Wort für Taube, ‘Paloma’, in Liedern oft ein Synonym für die Braut ist. Für apalustro habe ich noch eine zweite Schreibweise gefunden, nämlich apalusnó. Diese würde zumindest mehr Sinn machen. So schreibt z.B. Cañizares, dass es mit dem Romani palutno (zuletzt, hinter) verwand sein kann und ‘hinten, hinter’ bedeuten könnte. Übersetzt könnte die Strophe wie folgt heißen:
Schon geht die Braut / nach hinten / Wenn deine Mutter das bemerkt / bin ich verloren / chele belengue / Und die Polizisten sollen vom Teufel (richtig) verschlungen werden (kein Anspruch auf Richtigkeit :D)
Am besten dokumentiert jedoch ist das Caló des 19. Jahrhunderts. Das liegt vor allem daran, dass es mit der Zeit zu einem Grundbestandteil des andalusischen Folklore, und ins besondere des Flamencos, wurde. Ohne die Gitanos gäbe es heute keinen Flamenco, oder zumindest nicht so, wie es ihn heute gibt. Aber dazu vielleicht mehr in einem anderen Beitrag. Die Aficionados, die Flamenco-Liebhaber, also die weiße Mittel- und Oberschicht Spaniens, begannen Caló zu „lernen“ und zu schreiben. So waren es auch diese Payos (Nicht-Roma), die die ersten Glossare und „Wörterbücher“ schrieben. Zu diesen gehörten u.a. die Autoren Pabanó, Quindalé und Trujillo. Ihnen haben wir zwar viel Information über das Caló de 19. Jhds. zu verdanken, aber leider auch viele Fehler und Ungenauigkeiten. In ihrem Bestreben das Caló zu purifizieren bildeten sie viele Wörter, die es so gar nicht gab. So wurden Teile eines spanischen Wortes, die eine Entsprechung in Romaní hatten, einfach übersetzt: Sardenar soll z.B. condenar (verurteilen) bedeuten. Da „con“ (mit) auf Romaní „sar“ bedeutet, hieß das Verb dann Sardenar. Ähnliches passierte mit Marzo (März): „Mar“ (Meer) bedeutet „loria“, also hieß der Monat dann „Loriazo“, obwohl das eigentliche Caló-Wort dafür Quirdaré war. Selbst ihre Nachnamen hatten sie übersetzt: Pabanó hieß eigentlich Manzana (Apfel, Romani: phabai), Quindalé hieß eigentlich Mayo (Mai, Caló: Quindalé) und Trujillo hieß eigentlich Cruzillo (Cruz = Kreuz, Romani: trušul > Caló trujul). Um diese Art der Fehlübersetzung zu verdeutlichen, hier ein fiktives Beispiel: Nehmen wir an, wir möchten das Wort „Januar“ kastilisieren, aber da wir keine Ahnung vom Spanischen haben, nehmen wir einfach einen Teil des deutschen Wortes, von dem wir die Übersetzung wissen. Ja-nuar = „Ja“ bedeutet im Spanischen ‘Sí’. Unser neues Wort für Januar wäre dann also „Sinuar“ (statt des spanischen Enero).
Allerdings gab es im 19. Jhd. auch wissenschaftlichere Arbeiten zum Caló. So verdanken wir den Großteil unseren Wissens über diese Sprache dem englischen Schriftsteller und Sprachenthusiasten George Henry Borrow. Borrow sprach 21 Sprachen und hatte in 51 Sprachen Lesekompetenz. Besonderes Interesse hatten in ihm die Roma geweckt, sodass er viele Bücher über sie veröffentlichte. In „The Zincali“ (1841) schreibt er über die spanischen Gitanos, über ihre Lebensweise und auch über ihre Sprache. Neben verschiedenen Bibel-Zeilen in Caló, enthält das Buch auch ein kleines Glossar. Da er über gute Romani-Kenntnisse verfügte, verglich er das Vokabular mit anderen Romani-Dialekten, besonders mit den Dialekten Ungarns. So z.B. die Zahlen von 1 – 10:
Anzumerken ist hier allerdings, dass er sich für das ungarische Romani auf das Werk „Mithridates: oder allgemeine Sprachkunde“ von Johann Christoph Adelung (1806) beruft, der bei der Verschriftlichung klar vom Deutschen beeinflusst war. Heute würde man die Zahlen in Romani (z.B. im rumänischen Kalderash-Dialekt) eher jekh, duj, trin, štar, panž, šov, efta, oxto, enija/iňa und deš schreiben, und in Caló yequé, dui, trin, ostar/estar (auch sista), panché, jobé/zoy, eftá/esñá, otor/ostor, nebel (auch esnia oder eñia)und dequé/esdén (siehe Vocabulario Caló-Español, Español-Caló, von José Manuel Mójica Legarre; oder Vocabulario Caló von Gabriel Veraldi-Pasquale).
Borrow übersetzte auch das Lukasevangelium ins Caló, nach eigenen Angaben in Zusammenarbeit mit zwei Gitanas. Er veröffentlichte zwei Versionen, eine 1837 und eine überarbeitete Version im Jahr 1872. Man muss wohl aber davon ausgehen, dass die erste Version authentischer war, da die von 1872 kaum mehr Wörter spanischen Ursprungs enthält, was wahrscheinlich seinem Bestreben nach einem „reinen“ Caló zuzuschreiben ist. Nichtsdestotrotz ist der Anteil von Romani-Wörtern mit ca. 65% in der ersten Version schon ziemlich hoch, bei manchen Wortarten beträgt der Anteil sogar zwischen 90 und 100% (Substantive, Pronomen, Verben, Adjektive und Numerale). Wie sehr das Caló der Lukasevangelien allerdings dem alltäglichen Caló jener Zeit entspricht, kann man nicht sagen. Wahrscheinlich handelt es sich bei beiden Versionen um eine Art purifiziertes Caló (auch Borrow konsultierte für seine Arbeit die Glossare der Aficionados-Autoren), allerdings wurde zumindest die Version von 1837 von vielen Gitanos noch einigermaßen verstanden. Hier ein Beispiel:
Interessant sind hier natürlich die Unterschiede zwischen den beiden Versionen, aber auch das Grundvokabular an sich, das ja größtenteils gleich geblieben ist. Doch erstmal zu den Unterschieden:
- Borrow benutzt in den beiden Versionen zwei verschiedene Caló-Verben für „erzählen, sprechen“. Zum einen „chamullar“ (vom Romani-Stamm čaml– ‘(zer)kauen’), zum anderen „araquerar“ (Romani rakerel ‘spreche’). Vielleicht kam ihm „chamullar“ zu spanisch vor, weil es mittlerweile auch in die spanische Standardsprache übergegangen war.
- Im Text vom 1872 benutzt er „tarquino“ statt des spanischen „parabola“ (Gleichnis).
- Während er im Text von 1837 noch das spanische Wort „cien“ für hundert benutzt, entscheidet er sich im Text von 1872 für „gres“ (hundert, Jahrhundert)
- Die Zahl 99 schrieb er in der ersten Version auf Spanisch „noventa y nu(eve)“, doch in der überarbeiteten Version ersetzte er es durch die Caló-Entsprechung „esñerdi ta eñia“ (Kalderash-Romani: iňavardeš taj iňa).
Zum restlichen Vokabular kann man sagen, dass es meistens ziemlich deutlich aufs Romani zurückgeht; allerdings nicht immer. So sind die Wörter penar – ‘sagen’ (Romani: phenel – ‘sagen’), coin – ‘wer’ (Romani: kon/ koj – ‘wer’), enré/ andré – ‘in/ zwischen/ drin’ (Romani: andre – ‘in/ drin’), sinelar – ‘sein’ (Romani: si/ isi – ‘sein, existieren’), manu – ‘Mann’ (Romani: manuš – ‘Mann’), terelar – ‘haben’ (Romani: therel – ‘haben/ bekommen’), braji – ‘Schaf’ (Romani: bakri – ‘Schaf’; im ersten Manuskript von 1836, bevor das Evangelium veröffentlicht wurde, erscheint das Wort als „braki“), najabelar – ‘verlieren’ (Romani: našavel – ‘verlieren/ töten/ weglaufen’), mequelar – ‘zurücklassen’ (Romani: mekel – ‘lassen/ verlassen/ zurücklassen’), averes – ‘andere’ (Romani: aver – ‘andere/ sonstige’), bur – ‘Berg/ Wüste’ (Romani: bur/ bar – ‘Berg’), chalar – ‘gehen’ (Romani: džal – ‘gehen’), orotar – ‘suchen’ (Romani: rodel – ‘suchen’) und alachar – ‘finden’ (Romani: arakhel/ lakel/ aračhol – ‘finden’) klar aus dem Romani entstanden. Anders sieht es bei sangue – ‘ihr’ (Romani: tumen), sos – ‘der/die/das; Relativpronomen’ (Romani vielleicht so – ‘was’) und disde – ‘bis’ (Romani: dži – ‘bis’; Spanisch: desde – ‘seit’) aus, bei denen man nicht wirklich sagen kann, wie sie entstanden sind.
Im 19. Jhd. sind unglaublich viele Wörterbücher und Glossare erschienen, die zwar auf der einen Seite dazu beigetragen haben, viele Caló-Wörter vorm Aussterben zu bewahren, auf der anderen Seite aber auch viel Durcheinander in die Forschung gebracht haben. So sind sie, wie weiter oben schon geschrieben, voll mit ausgedachten und falsch übersetzten Wörtern, da ihre Verfasser, die Aficionados, des wirklichen Caló nicht mächtig waren. In ihrem Bestreben die Sprache von spanischen Begriffen zur reinigen, waren ihrer Fantasie keine Grenzen gesetzt. So z.B. auch der Leserbrief-Dialog zwischen Pero Grullo und Perico de los Palotes (höchstwahrscheinlich ein und dieselbe Person, nämlich der Aficionado und Stierkampf-Kritiker Joaquín Simán) in der Zeitung El Eco del Comercio im Jahr 1846. In diesem Dialog geht es darum, dass Perico de los Palotes ein „Wörterbuch Spanisch-Caló, Caló-Spanisch“ (Vocabulario del español al gitano y de este al español/ Rotañulario dor Sersén al Calorró y de andalló al Sersén) herausbringen wollte, und dafür die Unterstützung von Grullo ersuchte. Schon der Titel an sich birgt eine komische Fehlübersetzung: Er setzte voca mit dem spanischen boca (Mund) gleich, das auf Caló rotuñí bedeutet (walisisches Romani: rutni – ‘Schnauze’). Heraus kam dann Rotañulario für Vocabulario. Aber teilweise wird auch richtiges Caló benutzt, wie z.B. in den folgenden zwei Sprichwörter:
1. Or malchicán jacharao ya pañí grí chapesca.
(Span.: El gato escaldado del agua fría huye) Wörtlich: Die verbrühte Katze flüchtet vor dem kalten Wasser (= Ein gebranntes Kind scheut das Feuer). Malchicán (auch machicó) bedeutet „Katze“ (Romani: mačka), jacharar (Partizip: jacharao) heißt „verbrennen, erhitzen“ (Romani: xačerel), pañí ist „Wasser“ (Romani: pani), grí (eigentlich jir) bedeutet „kalt“ (Romani: šil) und chapescar heißt „fliehen“ (Romani: dža peska).
2. .De queraré queraré, nonardián me jerballé. Bus mola yes lilla, sos gres te diñaré
(Span.: De haré haré, nunca me fié. Más vale un toma, que cien te daré). Wörtlich: Ich habe nie dem „ich werde es schon machen“ vertraut. Es zählt mehr ein „hier nimm“, als hundert „ich werde es dir geben“. Das Verb querar bedeutet „machen“ (Romani: kerel), nonardián bedeutet „nie“ (Romani: nindar), jerballar heißt „kaufen/vertrauen“ (allerdings findet sich keine Entsprechung in anderen Romani-Dialekten), bus/but bedeutet „mehr“ (Romani: but), molar ist „Wert sein/zählen/kosten“ (Romani: mol-), yes bedeutet „ein“ (von yeque; Romani: jekh), lillar bedeutet „nehmen“ (Romani: lel), gres ist „hundert“ und diñar bedeutet „geben/schenken“ (Romani: del/ dinjavel).
Im 19. Jhd. fand das Caló auch seinen Weg in den Flamenco. Zwar wurden nur wenige Lieder komplett auf Caló geschrieben/gesungen – da der Flamenco ja hauptsächlich für die Gaché (Nicht-Roma) vermarktet wurde – trotzdem stammen selbst heutzutage etwa 30% des Wortschatzes im Flamenco vom Caló (des puren Flamenco, nicht des kommerziellen). Dem Siegeszug des Flamenco wurde zwar Ende des 19. Jhds. durch die Antiflamenquismo-Bewegung der sogenannten 98er-Generation (1898 verlor Spanien, nach dem Spanisch-Amerikanischen Krieg, mit Kuba, Puerto Rico, Guam und den Philippinen seine letzten Kolonien in Übersee) ein Ende gesetzt, doch bereits Anfang des 20. Jhds. war er wieder in aller Munde. Auch die Copla (oder Canción andaluza), die nach dem 1. Weltkrieg an Popularität gewann, schöpfte aus dem reichen Caló-Wortschatz. Wörter wie naquelar/ araquelar (sprechen), calorró/ calorrí (Gitano/Gitana), pinreles (Füße), abillar/ abelar (haben, kommen), acais/ sacais (Augen), garlochí (Herz), camelar (lieben, flirten), baes (Hände), bajañí (Gitarre), ducas/ duquelas (Kummer, Schmerz), najarse/ najelarse (weggehen, weglaufen, verschwinden), penar (sagen) oder chalar (gehen) findet man in unzähligen Liedern. So z.B. in dieser Malagueña, die vollständig in Caló geschrieben wurde:
A gachaplá sos jabelo
al son e man bajañí
se a jabelo a man jelén
sos que bujiro y camelo
sat soró man garlochín.
La copla que canto
al son de mi guitarra
se la canto a mi amor
porque la adoro y la quiero
con todo mi corazón.
Die Copla, die ich singe,
zum Rhythmus meiner Gitarre,
singe ich für meine Liebste,
die ich bewundere und liebe,
mit all meinem Herzen.
Oder auch in diesen Zeilen:
Chalo para mi quer
me topé con el meripé.
Me penó, ¿adonde chalas?
Le pené, para mi quer.
Iba para mi casa
me topé con la muerte.
Me dijo, ¿adónde vas?
Le dije, para mi casa.
Ich ging nach Hause,
(und) traf den Tod.
Er fragte: Wohin gehst du?
Ich sagte: Nach Hause.
Doch auch in aktuellen und eher kommerziellen Liedern findet man Caló-Wortschatz, besonders in Songs von Roma-Künstler*innen. Hier z.B. das Lied Canastera (Korbflechterin) von Lucía Fernanda (Tochter des Ketama-Mitglieds Antonio Carmona; aus der Flamenco-Dynastie der Habichuela-Familie) und Moncho Chavea (oft auch „König des Gitano-Trap“ genannt). In dem Lied findet man z.B. Wörter wie duquelas (Sorgen), me najelo (ich gehe weg) oder te camelo (ich umwerbe dich/ flirte mit dir).
Durch ihre hervorstechende Rolle im Flamenco, ihrem Beitrag zur andalusischen Kultur und nicht zuletzt wegen der zahlreichen Caló-Wörter, die ins Spanische aufgenommen wurden, haben die Gitanos in Spanien die Mehrheitsgesellschaft mehr beeinflusst, als die Roma in irgendeinem anderen Land der Welt. Das Spanische hat über 200 Wörter aufgenommen, die vom Caló/Romani abstammen. Dazu gehören so alltägliche Wörter wie camelar (täuschen; eigentlich ‘lieben/flirten’), currar/ currelar (arbeiten; in Caló auch ‘schlagen’), chaval (Junge; von chavó/chavalé ‘Junge’), chungo (schwierig; chungo/chungalí – ‘schlecht’), canguelo (Angst), chachi (cool, überragend; von chachipén – ‘Wahrheit’), chalado (verrückt; von chalar – ‘gehen/ verrückt werden’), chorizo (Gauner; von chorar – ‘klauen’ und chor – ‘Dieb’), dabuten/ dabuti (sehr gut, genial; von de buten, „buté“ = ‘viel’), gilí (dumm) und daraus gilipollas (Idiot), molar (gefallen, etwas gut finden; von molar – ‘Wert sein/ kosten’), parné (Geld), paripé (Show/Scheinheiligkeit , z.B. hacer el paripé – eine Show abziehen; von paruipén – ‘Wechsel’), chivato (Petze), mangar (klauen; eigentlich „betteln“), pirarse (abhauen; eigentlich pirar – ‘gehen’), pirado/ chalado (verrückt), pureta (alte Person/ Spießer; von puró – ‘alt’), sobar (schlafen) oder diñarla (sterben; von diñar – ‘geben’). Ohne diese Wörter ist eine alltägliche Konversation in Spanien nahezu unvorstellbar. Die einzigen Wörter, die ich im Deutschen kenne und die nicht nur in irgendwelchen Gaunersprachen benutzt werden, sind ‘Bock’ im Sinne von „Bock haben/ Lust haben“ (Romani: bok(h) – Hunger), ‘Kaff’ (von gav – ‘Dorf’) und ‘Zaster’ (von sastar – ‘Eisen’).
Auch die anderen Caló-Varietäten der Iberischen Halbinsel haben ihre Spuren im Wortschatz der jeweiligen Kontaktsprache hinterlassen. Vom portugiesischen Caló (Calão) stammen Wörter wie gajo (Typ, Kerl; von gachó – ‘Mann, Nicht-Roma’), chulé (Fußgeruch; von chulló – ‘Schweinefett/ dick/ robust’), mangar (betteln), piar (Wein trinken; von pivar – ‘trinken’) oder pirar (verrückt werden). Allerdings hatte das Caló im Portugiesischen nicht annähernd den Einfluss, den es im Spanischen hat. Auch das Katalanische hat seinen Wortschatz mit Caló-Wörtern bereichert. Dazu gehören z.B. halar (essen), cangueli (Angst), catipén (Gestank), carrincló („altmodisch, lächerlich“ in Lleida aber auch „urig, waschecht“), calés (Geld), trola/ bòfia (Lüge), xolla (Haare; von chola – ‘Kopf’), pispar/ xorar (klauen), filar (sehen), dinyar (geben), privar (trinken) oder potra (Glück). Den größten Einfluss hat es allerdings auf das Katalanische der Gitanos in Perpinyà / Perpignan (Nordkatalonien) in Frankreich. Sie nennen ihre Muttersprache „parlar gitano„, was im Endeffekt aber nichts anderes ist als ein mit vielen Caló-Wörtern angereichertes Katalanisch. Wie auch im Rest Spaniens, spielt die Musik der Gitanos Kataloniens eine wichtige Rolle bei der Verbreitung des Caló. Hier ist zwar der klassische Flamenco nicht so sehr verbreitet wie in Andalusien oder Madrid, aber dafür die Rumba Catalana und der Garrotín. Hier eine Rumba Catalana, die komplett in katalanischem Caló ist, und hier das Lied „Xaví“ von Peret, das auch in katalanischem Caló gesungen ist.
Das katalanische Caló – El Caló Català
Das interessante am katalanischen Caló ist, dass es eben als Kontaktsprache nicht das Spanische, sondern das Katalanische hatte. So sind einige Laute aus dem Romani, die es im Spanischen nicht mehr gibt und daher im spanischen Caló verändert wurden, im katalanischen Caló erhalten geblieben. Dazu zählen u.a. das [ʤ] („dsch“) und teilweise auch das [ʃ] („sch“). Außerdem hat es das [x] („ch“ in ‘Bach’) beibehalten, obwohl es diesen Laut im Katalanischen gar nicht gibt. Warum das so ist, ist aber noch umstritten. Den Wandel im spanischen Caló von [ʃ] > [x] erklärt man oft durch den Wandel, den das Spanische im 16./17. Jhd. durchlebt hat. Damals wurden das mittelalterliche [ʃ] (<x> geschrieben) und [ʒ] (<j, ge, gi> geschrieben) zu [x] (<j, ge, gi> geschrieben) vereinfacht: dixo [ˈdiʃo] > dijo [ˈdixo] (er sagte); gente [ˈʒente] > gente [ˈxente] (Leute). Für das katalanische Caló kann das aber nicht gelten, denn den Laut [x] hat es im Katalanischen in keinem Moment der Geschichte gegeben. Daher wäre anzunehmen, dass der Wandel von [ʃ] > [x] vielleicht eine Besonderheit der iberischen Romani-Dialekte gewesen ist, die ganz unabhängig von den Kontaktsprachen entstanden war. Dieser Theorie widerspricht allerdings die Tatsache, dass das brasilianische Caló (in Brasilien „Calon“ genannt) diesen Wandel nicht mitgemacht hat; es hat die ursprünglichen Romani-Laute beibehalten (z.B. xeró [ʃeˈro] statt jeró [xeˈro] in den Caló-Varietäten der Iberischen Halbinsel; von Romani šero – Kopf). D.h. der Wandel muss stattgefunden haben, nachdem sich in Portugal ein eigenständiger Romani-Dialekt herausgebildet hatte, der dann später nach Brasilien „exportiert“, in Portugal selbst allerdings mit der Zeit durch das andalusische Caló ersetzt wurde. Der Linguist Ignasi-Xavier Adiego, einer der wichtigsten Sprachwissenschaftler, die sich heutzutage mit den iberischen Para-Romani-Sprachen beschäftigen, kommt zu dem Schluss, dass das katalanische Caló seine Wurzeln im spanischen Romani (nicht Caló) hat. Er ist der Meinung, dass sich Gitanos aus Kastilien Anfang des 18. Jhds. in Katalonien niederließen. Ihre Sprache war zu der Zeit noch das ursprüngliche Romani (aber schon ohne die Nominalflexionen), hatte jedoch in der Phonologie bereits spanische Einflüsse (so z.B. der Wandel von [ʃ] und [ʒ] zu [x]). Erst 100 Jahre später, Anfang des 19. Jhds. entstand dann das katalanische Caló mit dem Katalanischen als Kontaktsprache. Unterstützt wird diese Theorie durch die Tatsache, dass Katalonien — wie alle anderen Teilstaaten der Krone von Aragonien — eine sehr strikte Deportationspolitik gegen die Roma fuhr. Immer wieder wurden Gitanos aus Katalonien deportiert. Anders sah es aber in Kastilien aus: Anstatt sie zu deportieren, zwang man sie zur Assimilation. So kommt es, dass es über Jahrhunderte hinweg große Wanderbewegungen innerhalb der Iberischen Halbinsel gegeben hat (das beweisen z.B. auch katalanische Lehnwörter im spanischen Caló von Palencia). Dies könnte erklären, warum das katalanische Caló den sogenannten ach-Laut beibehalten hat, obwohl er in seiner heutigen Kontaktsprache nicht existiert.
Jedoch muss man sagen, dass sich die restliche Phonologie an die katalanische angepasst hat. Wie im Katalanischen, werden auch im katalanischen Caló ein unbetontes /a/ bzw. /e/ zu [ə] (Schwa-Laut; wie in ‘bitte’), und ein unbetontes /o/ zu [u]. Deshalb gibt es in den Büchern auch unterschiedliche Schreibweisen für ein und dasselbe Wort. Zum Beispiel: penar/panar – ’sprechen‘ [pəˈna] oder quemelar/camelar – ‘wünschen/lieben/flirten’ [kəməˈla]. Beispiele dafür, dass ein unbetontes /o/ zu [u] wird sind: lubé – Geld (span. Caló ‘lovén’; von Romani love) oder curaxay – Maure (span. Caló ‘corajay’; von Romani xoraxaj – „Türke, Muslim“). Außerdem wurde im katalanischen Caló das /th/ bzw. /c/ des Romani zu [ts], während es im spanischen Caló zu [ʧ] wurde: atsaló – ‘dick’ (span. Caló ‘chulló’; von Romani ‘thulo’) oder matsangarnó – ‘betrunken’ (span. Caló ‘machangarnó’; von Romani ‘macimangero/ mat’arniko’).
Man weiß, dass die Gitanos in Katalonien noch bis zur ersten Hälfte des 19. Jhd. ein ziemlich konservatives Caló gesprochen haben. Wahrscheinlich kann es noch nicht einmal als Caló gelten, denn große Teile der Grammatik waren immer noch Romani. So ist es relativ gut dokumentiert, dass Anfang des 19. Jhd. die Verb- und Pronominalflexionen des Romani noch vollkommen intakt waren. Ein Beispiel dafür ist der folgende Satz aus einem Artikel übers katalanische Caló in der Zeitschrift „Le Publicateur“ von Jaubert de Réart (1835):
Mé panabé tumén ké karéle kam.
Jo us dic que fa sol.
(Ich sage euch, dass die Sonne scheint.)
In der heute geläufigen Orthographie des Romani würde es wohl so aussehen:
Me phenava tumen (ke/que) kerela kham.
In den Werken von Vallmitjana – einem Autor, der Anfang des 20. Jhds. mehrere Romane und Theaterstücke über die katalanischen Gitanos veröffentlichte und dem wir eigentlich alles, was wir heute über das katalanische Caló des 20. Jhds. wissen, zu verdanken haben – ist jedoch davon nicht mehr viel übrig. Allerdings sind die Genus- und Numerusmarkierungen des Romani (–ó für maskulin, –í für feminin, –é und –iá für Plural; Beispiel: xavó – Junge, xaví – Mädchen, xavé – Kinder; oder calorró – Gitano, calorrí – Gitana, calorré – Gitanos) und ein Element der Konjugation bis heute erhalten geblieben. Dieses Element ist der Imperativ auf –én, den das Caló sonst überall auf der Iberischen Halbinsel verloren hat. So sagen die Gitanos in Katalonien und Perpinyà immer noch „naxén!“ (geh!), „muquén!“ (sei leise!) oder „garibén!“ (sprich!). Ein guter Satz aus dem Werk von Vallmitjana ist z.B.:
Estic nagatdó. Fa dos givés que no hi pogut dinyà jalà a mas gatcins […]
Estic perdut. Fa dos dies que no he pogut donar de menjar a les meves criatures […]
(Ich bin verloren. Seit zwei Tagen kann ich meinen Kindern nichts zu essen geben […])
Interessanterweise weist nagatdó (im spanischen Caló najató; Romani: našavdó) noch die Partizip-Endung des Romani auf (Endung auf –dó) auf, während pogut schon die katalanische Partizip-Form ist (Endung auf –t). Givés [ʤiˈßes] stammt klar von Romani ‘džives/dives’ (Tag) ab, dinyà (geben) und jalà (essen) kennen wir schon aus dem spanischen Caló (diñar, jalar; von Romani d-inj – ‘gab’ und hal/xal – ‘essen’), und gatcins [gəˈʣins] kommt von gadžé (Nicht-Roma), heißt wohl aber „Kinder“.
Durch die Tatsache, dass das katalanische Caló den ach-Laut [x] beibehalten hat, ist es leider schwierig, es schriftlich darzustellen; mit einer rein spanischen oder katalanischen Orthographie sogar unmöglich. Natürlich könnte man den ach-Laut mit <x> darstellen (wie im Phonologischen Alphabet oder im Romani), allerdings steht <x> im Katalanischen für [ʃ] („sch“). Und mit <j, ge, gi> (wie man es im Spanischen macht) kann man ihn auch nicht darstellen, da <j, ge, gi> im Katalanischen für [ʒ] stehen. Vallmitjana benutzte <j, g> sowohl für [x] als auch für [ʒ] (und <g> zusätzlich für [g]), was ziemlich irreführend ist. So sehen wir in seinem Werk „Els Zin-calós“ (1911) Wörter wie: jalâ (ausgesprochen [xəˈɫa]; essen), nagatdó (ausgesprochen [nəxədˈdo]; verloren), aber auch katalanische Worte wie jo [ausgesprochen [ʒɔ]; ich) oder das Wort juquel (Hund). Das Wort stammt vom Romani džukel ab, das im spanischen Caló zu chuquel wurde. Im katalanischen Caló ist es wahrscheinlich [ʤuˈkeɫ] oder auch [ʧuˈkeɫ] geworden, aber wie genau nun juquel ausgesprochen wird, wird aus der Schreibweise leider nicht ersichtlich.
Alina Moser, eine deutsche Linguistin, die sich in ihrer vor kurzem veröffentlichten Bachelor-Arbeit mit dem katalanischen Caló beschäftigt hat (ich kannte sie bisher nur von den Dokus von David Valls, in denen sie quer durch die katalanischsprachigen Regionen reist und versucht, die sprachliche Situation vor Ort zu dokumentieren), benutzt <š> für [ʃ], <dž> für [ʤ], <č> für [ʧ] und <x> für [x]. Das find ich ganz interessant, aber in Zukunft wird man sich wohl noch mal Gedanken man müssen, ob man nicht versuchen möchte, eine wirklich einheitliche Rechtschreibung zu finden. Ob sich das überhaupt noch lohnen würde, sehen wir später. Für die Arbeit hat sie zwei Gitanos interviewt (Oncle Manel und seinen Enkel Sicus Carbonell aus Gràcia, Barcelona), die davon erzählen, wie sich der Gebrauch des Caló verändert hat. Früher habe man in einem Satz zehn Caló-Wörter und ein katalanisches Wort benutzt, heute sei es umgekehrt. Die Schutzfunktion, die das Caló früher hatte (Schutz vor der Mehrheitsgesellschaft) und dem damit verbundenen Verbot, mit den Payos (Nicht-Roma) über ihre Sprache zu sprechen, scheinen nicht mehr vorhanden zu sein. In nur zwei Stunden trugen sie über 90 Caló-Wörter zusammen: Darunter schon bekannte wie panyí [pəˈɲi] (Wasser), čavó/čaví [ʧəˈßo] (Roma-Junge/Mädchen), čorar [ʧuˈɾa] (klauen), džuquel [ʤuˈkel] (Hund), graš [ˈgraʃ] (Pferd), xeró [xəˈɾo] (Kopf, Gesicht), xulai [xuˈlaj] (Gentleman, Besitzer), lačó [ləˈʧo] (gut) oder pinró [pinˈro] (Fuß). Aber auch andere wie parrabar [pərəˈßa] (kaputt gehen/ schließen; von Romani ‘pharrav’), sobinyar [sußiˈɲa] (schlafen), querabutsí [kəɾəbuˈtsi] (Wie gut! gute Sache) oder adai [ədˈdaj] (Mutter). Anscheinend sagen diese Gitanos auch noch Sätze wie «No penélis čimòni» (Sag nichts), «Vinyén a mánses» (Komm zu mir), «Mánses sinyélo caló i túquis?» (Ich bin Gitano und du?), «Querén-li més lasnó» (Mach es ihm billiger) oder «Nástis mučél xámbo» (Sprich nicht, da ist ein Nicht-Roma).
Das Erromintxela – ein Unikat
Das Erromintxela (auch Errumantxela genannt) ist die Sprache der baskischen Roma, die sich selbst auch Erromintxelak nennen. Sie stammen von einer Gruppe von Kalderash-Roma ab, die nach Frankreich eingewandert waren und dort Romanichel genannt wurden. Im 15. Jhd. wanderten sie weiter: manche ließen sich im Baskenland nieder, andere in England und wiederum andere in Skandinavien. Das, was sie heute noch verbindet, ist ihr Name: In England nennen sie sich Romanichal, in Skandinavien Romanisæl und im Baskenland eben Erromintxela (im Baskischen kann kein Wort mit „r“ beginnen, daher das E-; <tx> ist der Laut [ʧ] und das –a am Wortende ist das Absolutiv-Suffix, das man benutzt, um Namen anzugeben). Zwar nennen sie sich selbst auch Ijitoak (Baskisch für Gitanos), aber sie identifizieren sich nicht mit den kastilischen oder andalusischen (spanisch- und caló-sprachigen) Gitanos, die sie anscheinend als Xango-Gorriak/Hankagorriak (Baskisch für „Rotbeine/Rotfüße“) bezeichnen. Ihre Sprache, das Erromintxela, ist eine iberische Para-Romani-Sprache, doch das einzigartige ist, dass die Kontaktsprache hier keine romanische Sprache ist, sondern eben das Baskische; eine isolierte Sprache, die mit keiner anderen Sprache der Welt verwand ist. Die Grammatik und Phonologie ist zum allergrößten Teil baskisch (vor allem der regionalen Dialekte), der Wortschatz ist fast ausschließlich Romani. Dies führt dazu, dass die Sprache geschrieben zwar aussieht wie Baskisch (vor allem für Leute, die kein Baskisch können), aber sowohl für Baskisch-Sprecher als auch für Caló-Sprecher vollkommen unverständlich ist (was natürlich auch beabsichtigt war, um sich vor der, nicht immer wohlgesonnen, Mehrheitsgesellschaft schützen zu können).
Im Baskenland leben ca. 21.000 Gitanos, von denen aber die allermeisten im 20. Jhd. aus Kastilien und Andalusien eingewandert sind. Man geht davon aus, dass nur etwa 2% der im Baskenland lebenden Gitanos Erromintxela sprechen, also höchstens 500 Personen. Im französischen Baskenland (Iparralde genannt) sollen es auch nochmal ca. 500 sein. Wir sprechen also von einer sehr kleiner Sprachgemeinschaft, die wohl die 1000 Sprecher nicht überschreitet. Im spanischen Baskenland leben sie vor allem in den Bergregionen von Bizkaia, Gipuzkoa und Navarra, auf der französischen Seite vor allem in den Bergen von Xiberua/ Soule und an der Küste von Lapurdi/ Labourd. Da die Erromintxela im Baskenland auch mit anderen Roma zusammenleben (z.B. Cascarots in Iparralde oder Calé im spanischen Baskenland), und viel stärker in die baskische Gesellschaft integriert sind als diese (z.B. spielen sie den baskischen Nationalsport Pelota und widmen sich der Dichtkunst der Bertsolaris), kannte sie bis zum 19. Jhd. kaum jemand.
Die meisten Veröffentlichungen stammen aus dem Iparralde: So war es der Franzose Cénac-Montcaut, der im Jahr 1855 zum ersten Mal das Erromintxela erwähnte. Doch schon vorher, im Jahr 1833 hatte Walckenaer – ein Zoologe aus Paris – in einem Reisebericht (Nouvelles anales des voyages, Nr. 60) mehrere Erromintxela-Wörter aufgelistet. Dazu zählten z.B. balitxua (Schwein; Caló: balichó; Romani: baličo; Baskisch: txerri), dikelatu (gucken; Caló: diquelar; Romani: dikhel; Baskisch: begiratu), najel egin (flüchten; Caló: najar; Romani: našel; Baskisch: hanka egin) oder mola (Wein; Caló: mol; Romani: mol; Baskisch: ardoa). Das umfangreichste Werk stammt von Alexandre Baudrimont, der 1862 sein Werk „Vocabulaire de la langue des Bohémiens habitant les pays basques français“ (Vokabular der Sprache der Böhmen wohnhaft im französischen Baskenland) veröffentlichte. Leider konnte er sich nur einmal mit seinen Informantinnen aus Uhartehiri (in Nafarroa Beherea/ Iparralde) treffen, denn am Tag nach dem ersten Treffen, wurde wohl entschieden, die Zusammenarbeit zu beenden, um zu verhindern, dass Fremde etwas über ihre Sprache und Geheimnisse herausfinden. Zwischen Ende des 19. und Mitte des 20. Jhds. wurden ein paar Glossare veröffentlicht, aber nicht wirklich viel. Erst 1986 widmete sich Federico Krutwig in einem Artikel wieder der Sprache, mit Notizen zur Morphologie (Formenlehre), zur soziolinguistischen Situation und einer kurzen Wortliste. So nennt er z.B. Worte wie txaripen (Bett; Caló: cheripén; persischen Ursprungs: „charpai“ – ‘vier Beine’; Baskisch: ohe), txukel (Hund; Caló: chuquel; Romani: džukel; Baskisch: zakur), pantxe (fünf; Caló: panche; Romani: panž; Baskisch: bost), bokali (Hunger; Caló: bocata/boqui; Romani: bokh; Baskisch: gose) oder mangatu (bitten; Caló: mangar; Romani: mangel; Baskisch: eskatu).
Im Jahr 1996 startete das bisher größte Projekt zur Erforschung des Erromintxela. Der Verein „Kalé dor Kayiko“ aus Bilbao beauftragte — in Zusammenarbeit mit der Euskaltzaindia (Baskische Sprachakademie) und der Universität des Baskenlandes (Euskal Herriko Unibertsitatea) — die Sprachwissenschaftlerin Josune Muñoz und den Historiker Elias Lopez de Mungia damit, eine Feldstudie durchzuführen und die aktuelle Situation der Sprache und der Sprecher zu dokumentieren. Leider konnte das Projekt bis heute nicht beendet werden, da die Mittel gestrichen wurden. Und den Zwischenbericht findet man nicht im Internet, man müsste ihn kaufen (was leider für die meisten Arbeiten gilt, die zum Thema Caló/iberisches Romani veröffentlicht wurden). Und die Artikel, die in jüngster Zeit zum Thema erschienen sind, sind allesamt auf Baskisch, das ich leider nicht beherrsche. Was man wohl weiß, ist dass es in den 90er Jahren auf jeden Fall noch Sprecher gab (nur ältere Menschen); wie viele davon heute aber noch übrig sind, weiß man nicht. Nur im Iparralde (französisches Baskenland) scheint die Weitergabe an die Kinder immer noch statt zu finden.
Was man allerdings im Internet findet, ist eine ziemlich lange Wortliste, die wohl im Zwischenbericht des Projektes veröffentlicht wurde. Hier nur ein kleiner Ausschnitt mit verschiedenen Wortarten und zum Vergleich die Entsprechungen in spanischem Caló, Romani, Baskisch und die deutsche Übersetzung:
Es kommen aber auch zusammengesetzte Wörter und ganze Sätze vor:
Khereko ogaxoa – der Hausherr:
Khere (Haus) – ko (bask. Ortsgenitiv ‘von’) + ogaxo (Mann) – a (Absolutiv Sg. ‘der’) =
Haus-von Mann-der = Der Mann/Herr des Hauses (der Hausherr)
Hier die baskische Form zum Vergleich:
Etxeko jauna: Etxe (Haus) – ko + jaun (Herr) – a
Hiretzat goli kerautzen dinat – Ich singe für dich:
Hire-tzat (hire: dich; –tzat: Benefaktiv, ‘für’) + goli (Lied) + kerau-tzen (kerau: machen; –tzen: Imperfektsuffix bei Periphrasen ‘dabei sein zu tun’; goli kerautu – ‘singen’) + d-i-na-t (Hilfsverb; d-: Indirektes Objekt im Absolutiv ‘es’; –i-: Dativ; –na-: weiblicher Adressat; -t: 1. Pers. Sg. im Ergativ, ‘ich’). Hier der Satz nochmal in verschiedenen Farben, um die grammatikalischen Beziehungen zu verdeutlichen: Hiretzat goli kerautzen dinat (Ich singe [wört. mache ein Lied] für dich).
Hier nochmal die baskische Form zum Vergleich:
Hiretzat abesten dinat / Hiretzat kantatzen dinat.
Die Grammatik des Baskischen muss man nicht verstehen, ich wollte nur einmal darstellen, wie kompliziert die baskische Grammatik ist ;) Grammatiker des 18. Jhds. zählten knapp 31.000 Formen eines einzigen Verbs, was daran liegt, dass ein baskisches Verb nicht nur auf die Person des handelnden Subjekts Bezug nimmt (z.B. ich kauf-e, du kauf-st), sondern auch auf das direkte Objekt, auf das indirekte Objekt und manchmal auch auf das Geschlecht des Angesprochenen. Im zweiten Beispiel sieht man daher, dass das Hilfsverb dinat nicht nur auf das Subjekt/Agens bezug nimmt (dinat: -t = ‘ich’), sondern auch auf das direkte Objekt (dinat: d- = ‘es’ [goli – ‘das Lied’]), das indirekte Objekt (dinat: -i- = ‘dich’ [hiretzat – ‘für dich’] und das Geschlecht des Angesprochenen (dinat: -na- = man spricht mit einer Frau). Neben den unterschiedlichen Zeitformen (z.B. Präsens, Vergangenheit, Hypothetisch), Aspekten (Perfekt/ Imperfekt/Nicht durchgeführt) und Modi (Indikativ/ Konditional/ Potential/ Konsekutiv/ Subjunktiv), hat das baskische Verb also noch bis zu drei zusätzliche Markierungen. Wenn sich jemand dafür interessiert, kann er sich hier die Konjugationstabelle vom Hilfsverb izan/ukan (sein/haben) angucken.
Das erste aufgeschriebene Gedicht in Erromintxela stammt von Jon Mirande (1960). Es heißt Kama-goli (Liebeslied) und diente der Gruppe „Ruaille-Buaille“ im Jahr 2011 als Basis, um es zu vertonen (allerdings mit verändertem Text, hier). Die erste Strophe ist:
Hiretzat goli kherautzen dinat
erromeetako gazin mindroa
ene muirako mandro londoa
mol loloena ene khertsiman.
Hiretzat kantatzen diat
ezteguetako haur nerea
ene ahoko ogi samurra
ardo gorriena ene tabernan.
Ich singe für dich,
meine Braut,
mein zarter Mund (wie Brot),
der röteste Wein in meiner Taverne.
Das Caló heute
Heutzutage ist das Caló ganz klar vom Aussterben bedroht. Es gibt so gut wie keinen Gitano mehr, der tatsächlich eine Konversation führen könnte, die größtenteils aus Caló-Wortschatz besteht. Deswegen gibt es immer mehr Leute, die es bevorzugen, Caló nur noch als Bezeichnung für den Romani-Wortschatz zu benutzen. Die Sprache der spanischen Gitanos wäre heute ausschließlich Spanisch (in Katalonien auch Katalanisch, im Baskenland auch Baskisch), und der Caló-Wortschatz – wenn vorhanden – werde nur noch in ganz bestimmten Situationen mit eingebracht. Ein Verfechter dieser Sichtweise ist der EU-Abgeordnete Juan de Dios Ramírez Heredia, der erste Gitano in der spanischen Politik und der erste Rom der Welt, der einen Ehrendoktortitel verliehen bekommen hat.
Es gibt relativ wenig Informationen darüber, wie viele Sprecher das Caló wirklich hat. Wenn man der Ethnologue glauben schenkt, dann wird es weltweit noch von etwa 60.000 Calé gesprochen, jedoch gibt sie allein für Brasilien 400.000 Sprecher an. In Spanien soll es 1984 noch 40.000 Sprecher gegeben haben. Wie diese Zahlen zustande kommen, weiß ich nicht. Man kann noch nicht einmal genau sagen, wie viele Gitanos es in Spanien gibt, denn es ist ja seit dem 18. Jhd. verboten, bei Volkszählungen etc. nach der Ethnie zu fragen. Das CIS (staatliches Zentrum für soziologische Untersuchungen) schätzte die Zahl im Jahr 2007 auf ca. 1 Mio. (andere Zahlen schwanken zwischen 800.000 und 1,5 Mio.). Auf jeden Fall sind es sehr viele (zum Vergleich: in Rumänien leben europaweit die meisten Roma, ca. 2 Mio.; in Deutschland zwischen 80.000 und 120.000). Und doch werden sie von der Politik ignoriert. Erst mit der Verfassung von 1978 erlangten sie die spanische Staatsbürgerschaft und die Gleichstellung vor dem Gesetz. Jedoch werden sie mit keinem Wort darin explizit erwähnt, obwohl sie seit über 600 Jahren im Land leben. Anders als in anderen Ländern Europas (z.B. Schweden, Deutschland, Rumänien), sind die Gitanos in Spanien nicht als nationale Minderheit anerkannt, sodass ihnen auch eine richtige Repräsentation in der Politik verwehrt bleibt. Vom Schutz ihrer Sprache und Kultur müssen wir erst gar nicht sprechen. Zwar wurde in den letzten zehn Jahren allerhand getan (Spanien gilt in Europa als Musterland für die Integration von Roma), aber trotzdem ist noch einiges zu tun.
Die größte Gitano-Gemeinde hat immer noch Andalusien: hier leben ca. 350.000 Gitanos, gefolgt von Katalonien (ca. 90.000), Valencia (ca. 65.000) und Madrid (ca. 60.000). Am Ende der Liste stehen die Autonomen Gemeinschaften an der Nordküste, z.B. das Baskenland (ca. 21.000), Asturien (10.000) oder Kantabrien (ca. 5.000). Caló sprechen können heute aber nur die wenigsten von ihnen. Generell kann man sagen, dass ältere Gitanos mehr Caló-Wörter kennen als jüngere. Jedoch kamen bei aktuellen Befragungen in Ost-Andalusien nur wenige Informanten auf über 100 Wörter (Gamella, 2012: ca. 58% der Befragten kannten zwischen 81 und 130 Wörter), über 200 Wörter kannten nur Informanten, die entweder sehr belesen waren oder in einer sehr abgeschiedenen Gemeinde mit vielen älteren Gitanos gelebt haben (etwa 17%). Von den jungen Informanten kannten viele noch nicht einmal mehr die Wörter für die Körperteile oder Verwandtschaftsgrade. Aber es scheint so zu sein, dass es Familien gibt, in denen zumindest diese 200-300 Wörter gut erhalten sind. Besonders stechen das Umland von Granada und Barcelona hervor. Informanten gaben an, in Barcelona am meisten Caló-Wörter gelernt zu haben, weil es da mehr gesprochen würde als in Andalusien. Aber wirklich breit angelegte Studien darüber gibt es nicht.
Alina Moser gibt an, dass ihre Befragten in Katalonien ausgesagt haben, dass fast nichts mehr übrig ist vom Caló. Zwar haben viele passable passive Kenntnisse, angewandt werden sie aber nur in ganz bestimmten sozialen Situationen (z.B. mit respektierten Gemeindemitgliedern oder älteren Familienangehörigen). Und für das Erromintxela gilt ähnliches. In den 90er Jahren ging man von etwa 1000 Sprechern im gesamten Baskenland aus. Aber zumindest im spanischen Baskenland sind heute fast alle Sprecher über 80 Jahre alt. Es wird kaum mehr gesprochen, höchstens im französischen Baskenland, wo anscheinend die Weitergabe an die Kinder noch nicht abgebrochen ist.
Die Situation ist schwierig, aber allein die Tatsache, dass es heute überhaupt noch Sprecher gibt, grenzt an ein Wunder. Schon Borrow beschrieb das Caló als „nahezu ausgestorbene“ Sprache. Im Jahr 1843. Und jetzt, über 150 Jahre später, scheinen wir irgendwie immer noch am gleichen Punkt zu sein. Es scheint, dass das Caló immer noch einen Nutzen hatte, und zwar zum einen die bewusste Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft und die Stärkung der eigenen Identität, und zum anderen diente es auch als Schutz. Ob die Gefahr real oder hypothetisch war, war in dem Moment egal. So berichtet Oncle Manel, einer der Informanten von Moser, dass er sich bis vor wenigen Jahren noch geweigert hätte, mit einem Payo (Nicht-Roma) über das Caló zu sprechen und sogar anderen Mitgliedern seiner Gemeinde verbot, mit Nicht-Roma über ihre Sprache zu reden. Es wäre der einzige Schutz, den sie gegen sie hätten, und wer weiß, was morgen passieren könnte («això és la defensa que tenim els gitanos, no saps lo que pot passar el dia de demà»).
Allesamt eint allerdings, dass sie angeben, dass das Interesse für das Caló wächst. Es ist das wichtigste identitätsstiftende Merkmal der Gitanos, und deswegen wollen vor allem die jüngeren, besser ausgebildeten Gitanos zurückfinden zum Caló. Seit ein paar Jahren gibt es verschiedene Initiativen, deren Ziel es ist, das Caló wieder ins Romani zu integrieren. Vorreiter dieser Idee ist Juan de Dios Ramírez Heredia, aber auch Nicolás Jiménez González (Sprachwissenschaftler). Heredia hat ein Standard-Caló „erschaffen“, indem er sich der Grammatik der mazedonischen/bulgarischen Arli-Dialekte bediente (jedoch vereinfachte), und den erhaltenen Caló-Wortschaft mit einfließen ließ. Dieses Caló heißt Romanó-Kaló. Zwar wurden seit 2006 schon in verschiedenen Vereinen Sprachkurse angeboten, aber sie haben es nicht geschafft, zur breiten Masse der Gitanos durchzudringen. Andere Intellektuelle vertreten die Meinung, man sollte direkt das standardisierte Romani unterrichten statt Romanó-Kaló, denn schließlich spräche heutzutage ja eh kein Gitano mehr Romani; deswegen könnte man es dann ja auch direkt „richtig“ lernen, ohne die Zwischenstufe des Romanó-Kaló. Da aber bisher weder die autonomen Regierungen noch die Zentralregierung in Madrid Anzeichen machen, das Romani als Unterrichtsfach in den Lehrplan aufzunehmen oder irgendwas dafür zu tun, die Kultur und Sprache der spanischen Roma zu fördern, sieht die Zukunft nicht besonders rosig aus. Wer weiß, wie die Zukunft wird. Der Wunsch, die Sprache und Kultur zu erhalten ist auf jeden Fall vorhanden; und vielleicht weicht die Resignation irgendwann dem Tatendrang. Es wäre zumindest schade, wenn dem nicht so wäre, denn der Reichtum dieses Volkes, das weder über ein eigenes Land oder eine gemeinsame Religion verfügt, das überall, wo es lebt, abgelehnt und von der Politik kaum beachtet wird, ist seine Sprache.
«Motho manqe, Rromea! Ea, kaj si amari phuv, amare plaja, amare lená, amare umala, thaj amare veśa? Kaj si amaro them?
– Ande lava tale, ande lava amare čhibakere. -»
Sag mir Rom! Wo sind unser Land, unsere Berge, unsere Flüsse, unsere Felder und unsere Wälder? Wo ist unsere Heimat?
– Alles ist in den Wörtern, in den Wörtern unserer Sprache. –
(Teil eines Gedichtes von Eslam Drudak)
Quellen/ Fuentes:
- La agonía de una lengua. Lo que queda del caló en el habla de los gitanos. Parte I (Juan Gamella, 2011)
- La agonía de una lengua. Lo que queda del caló en el habla de los gitanos. Parte II (Juan Gamella, 2012)
- ¿El romanó, el caló, el romanó-kaló o el gitañol? (Nicolás Jiménez González, 2009)
- Posibilidades del romanó (caló) en nuestros días (Miguel Ropero)
- Influência do calão cigano nas linguas portuguesa e castelhana em contextos de comunicação de massa (Géraldine Moureau, 2010)
- ROMLEX Lexical Database (verschiedene Romani-Dialekte)
- The Zincali (George Borrow)
- Nuevas Aportaciones al Estudio del Caló (Javier Fuentes Cañizares, 2008)
- Apuntes sobre el Caló en la obra de George Borrow (Cañizares, 2007)
- Vocabulario Caló-Español, Español-Caló (José Manuel Mójica Legarre)
- Algunes dades sobre els gitanos de Catalunya i la seva antiga llengua (Jean-Paul Escudero, 2008)
-
The Romani voiceless palatal fricative š in Iberian Romani dialects (Ignasi-Xavier Adiego, 2012)
- Aportacions al català
- Los Gitanos vascos (Federico Krutwig, 1986)
- Ijito euskaldunen arrastoan (Xabier Garcia Agüello, 2008)
- Erromintxela: Notas para una investigación sociolingüística (Óscar Vizarraga, 2001)
- Vocabulaire de la langue des Bohémiens habitant les pays basques français (Alexandre Baudrimont, 1862)
- Erromintxela, euskal ijitoen hizkera (Lore Agirrezabal, 2003)
- Labayru Hiztegia (Diccionario online Euskera-Castellano)
- Ethnologue
- Del Romanó al Caló
- Die Lukasevangelien auf Caló (Markus Dietze, 2012)
- From Iberian Romani to Iberian Para-Romani-Varieties (Zuzana Krinková, 2015)
- Mirades sobre el caló català (Alina Moser, 2016)
- El caló, la lengua de los gitanos de España
- Interacciones entre el caló y el español. Historia, relaciones y fuentes (Ivo Buzek, Zuzana Krinková, Jorge Bernal, Javier Fuentes Caizares; 2016)
- Vocabulario Caló Parte I y II (Gatopardo)
- Diccionario Romanó-Kaló (Rober Heredia Jimenez)
- Del romaní comú als calós ibèrics (Adiego, 2004)
* lediglich das Wort „zigeuner“ und „zigeunerisch“ hat dort wirklich nichts zu suchen.
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Ich bin selbst Romni, aber mazedonischer Abstammung und in dritter Generation in Deutschland lebendn. Während meines Erasmus Aufenthaltes in Barcelona habe ich mich auch mit den Khalé beschäftigt und war unglaublich beeindruckt. Vielen Dank für den Artikel!!! Sehr aufschlussreich, vielseitig und schön geschrieben.
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Hey! Freut mich, dass dir der Artikel gefallen hat. Hattest du in Barcelona auch Kontakt zu den Calé? Es wäre auch spannend zu sehen, wie sich das Caló bei den katalanischen Gitanos in Perpignan, etc. gehalten hat. Und Danke für die Anmerkung, hab mir den Beitrag noch mal durchgelesen und war erschrocken, wie oft da Zigeuner steht. Wird sofort geändert!
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