Ein beschämendes Gesetz – Weltweites Schweigen

Wer in Deutschland hat schon einmal etwas vom sogenannten „Knebelgesetz“ in Spanien gehört, der sogenannten „Ley Mordaza“? Niemand? Das ist leider kaum verwunderlich, schließlich berichteten ausländische Medien kaum davon. Nur der Freitag, Telepolis und die taz. haben es für nötig empfunden, über dieses Gesetz zu schreiben. Im Fernsehen kam ein 1 minütiger Beitrag darüber bei RT, ansonsten nichts. Wäre ein ähnliches Gesetz in der Türkei oder in Russland verabschiedet worden, hätte man wochenlang darüber berichtet. Selbst die Gesetze zur Zensur in Ungarn und Polen waren ewig Gesprächsthema Nummer 1. Aber wen interessiert schon die Peripherie? Wer weiß, vielleicht passte es dem einen oder anderen in Mitteleuropa sogar ganz gut in den Kragen, dass die spanische Regierung ein Gesetz erließ, um die Proteste der empörten Bürger zu bändigen. War ja auch nicht schön anzusehen, wie sich Millionen Menschen gegen die – von Brüssel, und allen voran Deutschland – aufgezwungene Sparpolitik wehrten.

Doch was genau ist dieses Knebelgesetz? Das Gesetz heißt natürlich nicht wirklich so, der richtige Name ist „Gesetz zur Sicherheit der Bürger“ (ley de seguridad ciudadana). Ja, es soll uns schützen! Wovor? Laut der damals mit absoluter Mehrheit regierenden PP soll es Demonstranten schützen. Komisch, dass die gesamte Opposition dagegen stimmte. Wünscht die Opposition den Demonstranten etwa keine Sicherheit?

Der Gesetzesentwurf wurde im Jahr 2013 vom Innenminister vorgestellt und ganz Spanien erstarrte. Niemand konnte so recht glauben, dass das, was das Gesetz vorsah, wirklich vorgeschlagen worden war. Das neue Gesetz sah vor, u.a. unangekündigte Demonstrationen, Demonstrationen vor dem Kongress oder anderen „wichtigen“ Gebäuden, das Fotografieren von Polizisten oder das Verbreiten dieser Bilder mit Bußgeldern von bis zu 600.000 € zu bestrafen. Für das Aufrufen zu einer „illegalen“ Demonstration erwartete einen zudem noch eine Gefängnisstrafe von bis zu einem Jahr. Auch der Widerstand gegen die Staatsgewalt sollte mit bis zu 30.000 € bestraft werden. Bei alledem handelt es sich „nur“ um Ordnungswidrigkeiten, d.h. es wird vor keinem Gericht verhandelt. Entscheidet ein Polizeibeamter, dass du dich ihm widersetzt oder ihn beleidigt hast, stellt er dir den Bußgeldbescheid aus, ohne, dass du dagegen etwas unternehmen kannst. Dabei kennt das spanische Strafgesetzbuch sehr wohl Straftatbestände wie den Widerstand gegen die Staatsgewalt, allerdings muss dafür tatsächlich Gewalt angewendet werden. Bei den Ordnungswidrigkeiten liegt es im Ermessen der Beamten. Weitere „Delikte“, die mit bis zu 600.000 € bestraft (sehr schwere Vergehen) werden sollten sind z.B. das Aufrufen (auch über soziale Medien) zu und das Teilnehmen an Demonstrationen am Vortag von Wahlen (der sogenannten jornada de reflexión – Tag des Nachdenkens), Versammlungen und Demonstrationen vor/in oder in der Umgebung von „kritischen Infrastrukturen“ oder innerhalb von zwei Jahren drei „schwere“ Ordnungswidrigkeiten begangen zu haben. Zu den schweren Vergehen, die mit bis zu 30.000 € bestraft werden, zählten u.a. Kapuzen, Helme oder Schals zu tragen, wenn so eine Demonstration gestört werden sollte; Demonstrationen vor dem Kongress, dem Senat oder anderen politischen Institutionen, selbst, wenn niemand in den Gebäuden ist; „schwere“ Unruhe im öffentlichen Raum zu erzeugen, das Nicht-Vorzeigen des Ausweises, wenn ein Polizist es verlangt; Polizisten bei ihrer Arbeit zu behindern, das Verunglimpfen und Beleidigen von Spanien und den Autonomen Gemeinschaften; jegliche Verbreitung von Inhalten, die die öffentliche Sicherheit gefährden oder zum Hass/Rassismus/Frauenhass/Terrorismus aufrufen oder sie verherrlichen; Drogenkonsum in der Öffentlichkeit; das Trinken von Alkohol in der Öffentlichkeit, wenn dies die „Ruhe der Bürger“ stört, und noch einiges mehr, wie das Freilassen von wilden Tieren, das Besteigen öffentlicher Gebäude ohne Genehmigung oder das Zerstören von öffentlichem Eigentum (Ampeln, Verkehrsschildern, Mülleimern, etc.). Mit bis zu 1.000 € sollten Delikte wie Versammlungen an öffentlichen Orten; das Beschimpfen von Sicherheitsbeamten; das Beschimpfen, Beleidigen oder Nötigen auf öffentlichen Plätzen; das Verbreiten über jegliche Medien von Beleidigungen gegenüber den Institutionen, der Staatsgewalt oder Beamten; das Besetzen des öffentlichen Raums; das dreimalige Verlieren des Personalausweises innerhalb von fünf Jahren oder das Aufbauen von Zelten, etc. auf öffentlichen Plätzen. Wie man sieht, schreibe ich im Präteritum, denn nicht alles, was sich die PP gewünscht hat, wurde wirklich umgesetzt. Bis zum Inkrafttreten des Gesetzes im Juli 2015 wurden einige Punkte geändert, oder sogar ganz gestrichen. Im ganzen Land war es zu Protesten gegen das neue Gesetz gekommen, die Organisation der „Richter für die Demokratie“ (Jueces por la Democracia) warnte vor einem Schritt zurück zur Franco-Diktatur und die New York Times sah Spanien schon in den „dunklen Zeiten der Diktatur“ versinken. Auch der Generalrat der rechtsprechenden Gewalt (Consejo General del Poder Judicial) kritisierte den Gesetzesentwurf scharf, da er in vielen Punkten der Spanischen Verfassung widersprach.

Um den Grund für dieses Gesetz zu verstehen, muss man wissen, in welcher Lage sich Spanien zu der Zeit befand. Das Land rutschte 2008 in eine schwere Krise, Millionen Menschen verloren ihre Arbeit und konnten ihre Hypotheken nicht mehr bezahlen. Die Banken begannen dann mit der Zwangsräumung von Wohnungen und Häusern, zuerst eher langsam, später in großem Maße. Im Jahr 2011 entstand die soziale Bewegung 15-M, Millionen Spanier gingen auf die Straße, um gegen die Sparpolitik und die politische Elite zu protestieren. Im Zentrum von Madrid, Barcelona und Dutzenden anderen spanischen Städten kam es zu den sogenannten Acampadas, den Zeltstädten, in denen die Demonstranten sich versammelten und demonstrierten.  Nach der ersten Protestwelle Mitte 2011, kam es zu Hunderten weiteren Protesten verschiedener Gruppierungen, wie z.B. der Marea blanca (kämpfte gegen die Sparpolitik im Gesundheitswesen), der Marea verde (gegen die Sparpolitik in der Bildung), der Marea naranja (gegen Kürzungen im Sozialwesen), etc. Außerdem kam es vermehrt zu Escraches, einer Demonstrationsform, die zuerst in Argentinien aufkam, um Anhänger der Militärdiktatur zu outen, die darin besteht, dass sich eine Gruppe von Demonstranten vor dem Haus oder der Arbeitsstelle einer Person versammelt, die durch ihr unmoralisches Handeln, Leid über andere Leute gebracht hat. Betroffen waren vor allem Politiker der PP, aber auch Bänker, die allesamt für die Zuspitzung der Krise verantwortlich gemacht werden. Mit Sprechchören und Plakaten wird dann gegen die Handlung protestiert. Diese Art der Demonstration kann gefallen oder nicht, ist aber, zumindest in Spanien, erlaubt, solange es keine Übergriffe oder Nötigung gibt. Grund für die Escraches waren größtenteils die Zwangsräumungen (desahucios), die im Jahr 2012 ihren Höhepunkt erreicht hatten. Bis 2012 hatte es etwa 150.000 Zwangsräumungen gegeben, im Jahr 2012 waren es durchschnittlich 517 pro Tag, insgesamt fast 47.000. Da man in Spanien als Privatperson fast keine Möglichkeiten hat, Privatinsolvenz anzumelden, blieben die Menschen ohne Wohnung, auf der Straße und mit einem riesigen Schuldenberg sitzen. Wer die Wohnung nicht freiwillig verließ, wurde von der Polizei rausgezerrt. Egal ob jung oder alt, gesund oder krank. Die Bilder, die man im Fernsehen sah, erschütterten das ganze Land. Immer wieder berichteten die Medien über Menschen, die Selbstmord begangen, als sie den Räumungsbescheid zugestellt bekamen oder die Polizei vor ihrer Tür stand, um sie auf die Straße zu schmeißen. Menschen, die von ihren Balkonen in die Tiefe sprangen, Menschen, die sich in ihren Häusern oder auf offener Straße erhängten und sich sogar selbst anzündeten. Die Selbstmordrate stieg im Jahr 2012 um 11% an und erreichte ihren höchsten Punkt seit Jahrzehnten. Die Menschen sahen aber auch, dass nicht über jeden Selbstmord, der im Zusammenhang mit den Zwangsräumungen stand, berichtet wurde. Man wollte den sozialen Frieden nicht gefährden, so die Medien. So beobachten etwa 100 Menschen, wie eine körperlich behinderte Frau, aus dem 11. Stock sprang, in den Medien erschien aber kein einziger Beitrag darüber. Ein Familienvater erhängte sich im November 2010 in der Nähe von Barcelona (l’Hospitalet de Llobregat) auf offener Straße, nachdem er das Rathaus gebeten hatte, die Zwangsräumung zu verschieben, da „es zu kalt sei, um mit seiner Familie auf der Straße zu leben“, und dieses die Bitte abgeschlagen hatte. Die PAH (Plataforma de Afectados por la Hipoteca – Plattform für Opfer der Hypotheken) – eine basisdemokratische parteiunabhängige Bürgerinitiative – arbeitete zwar schon seit Jahren daran, die Zwangsräumungen zu stoppen, rückte im Jahr 2012 allerdings stark in den Fokus der Öffentlichkeit, da sie es durch verschiedene friedliche Aktionen immer wieder geschafft hatte, Polizeibeamte an der Durchführung einer Zwangsräumung zu behindern, und diese in einigen Fällen sogar ganz zu verhindern. Ihre Pressesprecherin und bekanntestes Mitglied war Ada Colau, heute Bürgermeisterin von Barcelona. Diese Praktiken der Banken und Gerichte widerspricht der Spanischen Verfassung, laut der jede Person ein Recht auf ein Dach über dem Kopf hat. Der Widerstand dagegen wurde stärker, als sowohl eine Anwältin des Europäischen Gerichtshofs als auch der Europäische Gerichtshof selbst, entschieden, dass sowohl die Praktiken der Banken beim Abschluss der Hypotheken (nicht Aufklären über Risiken etc.) als auch die Zwangsräumungen dem Europäischen Recht widersprachen und somit zu unterbinden wären. Die PAH stoppte hunderte Zwangsräumungen, was aber nur möglich war, weil man sich der Polizeigewalt entgegenstellt (aber immer friedlich). Im Jahr 2013 erhielt die PAH sogar den Europäischen Bürgerpreis, was die Regierungspartei und affine Medien empörte, ja sogar erzürnte. Die PP forderte daraufhin, dass das Europaparlament diesen Preis zurücknehmen solle, was allerdings nicht geschah. Die PP ist das nächste große Thema, was die spanischen Bürger auf die Straßen trieb.

Die Partei, gegründet von Manuel Fraga (Ex-Minister der Franco-Diktatur), hat seit ihrer Gründung den Ruf, alle Alt-Franquisten und Anhänger Francos hinter sich zu vereinen. Heute ist dies zwar weniger offensichtlich, da sich diese Leute im Hintergrund halten, allerdings war selbst der Ex-Präsident Spaniens José María Aznar (1996-2004) in seiner Jugend Mitglied der rechtsradikalen FES (Frente de Estudiantes Sindicalistas – Syndikalistische Studentenfront), die eine „Opposition von rechts“ zum ohnehin schon rechten, national-katholischen Regime bildete. Im Jahr 2007 weigerte sich die PP, für das „Gesetz des historischen Andenkens“ (Ley de Memoria Histórica) – einem ersten Versuch der Vergangenheitsbewältigung – zu stimmen, da man der Meinung war, man solle die Vergangenheit ruhen lassen und man würde nur alte Wunden damit aufreißen wollen. Außerdem wolle man den Angehörigen der gefallenen „Roten“ keinen einzigen Euro zahlen, da sie sich nur an ihre Opfer erinnern würden, wenn es Geld vom Staat gäbe. Im Jahr 2009, immer noch in der Opposition, wurde bekannt, dass gegen über 200 Amtsinhabern der PP wegen Korruption ermittelt wird. Außerdem kam die Gürtel-Affäre (Caso Gürtel) ans Licht: Wichtige Parteifunktionäre der PP rückten ins Visier der Staatsanwaltschaft wegen Bestechung, Betrug, Geldwäsche, Steuerhinterziehung und Vorteilsgewährung. Neben dem Ministerpräsidenten von Valencia, Francisco Camps, mussten auch mehrere Minister in Madrid zurücktreten, weil sie darin verwickelt waren. Der Hauptangeklagte Francisco Correa (nach dem der Fall benannt ist, da correa auf Deutsch Gürtel bedeutet) war ein Unternehmer, der eng mit der PP zusammengearbeitet hatte, bei der Ausrichtung öffentlicher Veranstaltungen erhielt er den Zuschlag im Tausch gegen Geld, teure Anzüge, etc. Auch der mit dem Skandal verbundene Bárcenas-Fall kam kurz darauf ans Licht. Luis Bárcenas, Ex-Schatzmeister der PP, soll von Correa über eine Million Euro bekommen haben. Die PP schmeißt ihn aus der Partei, beleidigt ihn öffentlich und distanziert sich von ihm, doch Bárcenas hat noch einen Ass im Ärmel: Während der Verhandlung enthüllt er immer wieder Namen von Personen, die im Skandal verwickelt sind, Parteimitglieder, die von ihm Schwarzgeld erhielten etc. Er enthüllt, dass sich die PP seit mindestens 20 Jahren illegal finanziert hat und neben der offiziellen Kasse, noch eine andere, vor den Steuerbehörden versteckte, Kasse (sogenannte Caja B) besaß, von der dann die wichtigen Parteimitglieder monatlich ein Häppchen in einem Briefumschlag ausgehändigt bekamen (jeder bekam monatlich zwischen 5.000 und 15.000 €). Diese zweite Kasse füllte man hauptsächlich mit illegalen Spenden von Unternehmern, mehrheitlich Bauunternehmen, die sich für die „Gefallen“ bei der Verteilung öffentlicher Aufträge bedankten (in Spanien dürfen Unternehmen, die Verträge mit der öffentlichen Verwaltung haben, erst seit 2007 nicht an Parteien spenden, außerdem sind anonyme Spenden über 60.000 € verboten). Über 30 PP-Mitglieder sind bisher in diese Affäre verstrickt. Einer, der in dem Fall verstrickt war, ist Rodrigo Rato. PP-Mitglied, ehemaliger Wirtschaftsminister und bis 2007 geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF). Seit 2009 war er Vorstand der Sparkasse Caja Madrid, die im Jahr 2010 mit anderen Sparkassen zur Bank Bankia fusioniert wurde. Warum ist das wichtig? Diese Bank, die 2012 verstaatlicht wurde, war in den nächsten Skandal verstrickt. Zwischen 2003 und 2012 hat die Bank an die Führungselite und an über 60 Verwaltungsangestellte (insgesamt 86 Stück) Kreditkarten vergeben. Das ist in Spanien durchaus üblich, jedoch ist die Benutzung zweckgebunden, z.B. Spesen/ Geschäftsessen etc. Diese „schwarzen Kreditkarten“ (tarjetas black genannt) waren aber zur freien Verfügung. Über 15 Mio € haben die Inhaber der Kreditkarten damit ausgegeben, manche mehr, manche weniger. Nur 3 der Inhaber haben sich nicht mit den Karten bereichert. Rodrigo Rato wurde dieses Jahr, zusammen mit Miguel Blesa (auch ein Bankdirektor), wegen unrechtmäßiger Aneignung von Geldern zu 4,5 bzw. 6 Jahren Haft verurteilt. Ich werde nicht alle Korruptionsskandale aufzählen, die in den letzten 10 Jahren aufgedeckt wurden, denn es wären einfach zu viele. Und in fast JEDEM ist die PP involviert.

Es ist also verständlich, dass die spanischen Bürger nicht akzeptieren konnten, dass eine Partei, die in Saus und Braus lebt, die mit über 60 Mio. € bei den Banken verschuldet ist und diesen deshalb Milliarden in den Rachen schiebt, der Bevölkerung das härteste Sparprogramm aller Zeiten aufgezwungen hatte. Mit einer Arbeitslosenquote von über 25%, einer Jugendarbeitslosigkeit von über 50%, Menschen, die sich von ihren Balkonen in die Tiefe stürzten, geschlossenen Krankenhäusern und Schulen und einer Elite, die von einem Korruptionsskandal in den nächsten schlitterte, war das Protestpotenzial der Spanier ziemlich groß. Zwischen 2011 und 2014 gab es 90.000 Demonstrationen in ganz Spanien. Um dem entgegenzuwirken und um ähnliche Proteste wie 2011 zu verhindern, schuf man das neue Gesetz. Und man schuf neue Fakten: Die PP behauptete, dass es über 1.000 Proteste gegeben hätte, in denen es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen war. Tatsächlich waren es 72, was 0,08% aller Demonstrationen ausmacht. Lustigerweise war es der eigene Innenminister, der mit seinen offiziellen Zahlen den Behauptungen seiner eigenen Partei, ungewollt, widersprach. Egal, es ist ein Gesetz, das direkt auf die Protestbewegung zugeschnitten ist. Das spontane Protestcamp an der Puerta del Sol in Madrid: ab jetzt verboten. Das Veröffentlichen und Verbreiten von Bildern oder Videos von Polizisten, die auf friedliche Demonstranten einschlagen: verboten. Die Polizei an einer Zwangsräumung hindern: verboten. Escraches vor den Häusern oder Arbeitsplätzen korrupter Politiker und Bänker: verboten. Im Internet zu einer spontanen Demonstration aufrufen: verboten. Proteste vor dem Kongress: verboten. Eine Versammlung in einer Bank, um sie zum verhandeln zu überreden: verboten. Aber das große Problem ist, es ist nicht einfach nur verboten. Niemand weiß, was alles verboten ist. Der Text ist sehr schwammig, nirgendwo steht, was genau als Respektlosigkeit gegenüber Beamten gilt, was als „keiner juristischen Straftat entsprechender“ Widerstand gegen die Polizei gilt, etc. Dadurch, dass jeder Polizist entscheiden kann, was man gerade für eine Ordnungswidrigkeit begangen hat, hat sich Angst breit gemacht.

Seit des Inkrafttretens des Gesetzes im Jahr 2015 sind schon einige Leute damit „in Kontakt“ gekommen. Obwohl die Strafen teilweise abgeändert wurden (z.B. spontane, nicht angemeldete Demonstration statt vorher bis zu 600.000 € jetzt „nur“ bis zu 30.000€ Bußgeld), ist der Grundton des Gesetzes gleich geblieben. Man will Angst verbreiten und so die Bevölkerung daran hindern, ihre verfassungsmäßigen Rechte auszuüben (z.B. sind spontane Versammlungen und Demonstrationen wortwörtlich in der spanischen Verfassung erlaubt und ein Recht jeden Bürgers). Die PP feiert es als Entkriminalisierung, da Delikte, die vorher ein Straftatbestand waren, jetzt „einfach nur“ eine Ordnungswidrigkeit sind. Aber warum hat man das gemacht? Weil ALLE 447 Personen, die seit 2011 wegen Störung der öffentlichen Ordnung vor Gericht standen, freigesprochen wurden. Deshalb feiert sich die PP so sehr für dieses neue Gesetz, denn niemand kann jetzt freigesprochen werden. Das Wort des Polizisten hat nach dem neuen Gesetz mehr Gültigkeit als das des Beschuldigten. Und wie befürchtet, wird das schwammig formulierte Gesetz von Beamten zu Beamten anders ausgelegt. Während es ja eigentlich zur Sicherheit der Bürger beitragen soll, greift es jetzt auch in alltägliche Situationen ein. Zwischen Juli 2015 und Januar 2016 kam es schon zu über 40.000 Geldstrafen. In Andalusien wurde ein Betrunkener zu 300€ verdonnert, weil er einen Polizisten „Kollege“ genannt hat. Vier Freunde in Córdoba wurden jeweils mit einem Bußgeld von 600€ bestraft, weil sie Pizza auf einem Platz gegessen haben (illegale Versammlung). Auf Teneriffa erhielt ein junger Mann ein Bußgeld von 600€, weil er die Gemeindepolizei auf Facebook als „Drückeberger“ betitelte. In Alicante erhielt eine Frau einen Bußgeldbescheid in Höhe von 800€, 48 Stunden nachdem sie auf Facebook ein Foto eines Polizeiautos gepostet hatte, das auf einem Behindertenparkplatz parkte. In Galicien musste eine Frau 600€ bezahlen, weil sie sich nachts auf dem Nachhauseweg nicht ausweisen konnte. Am Flughafen von Barcelona wurde einem Mann ein Bußgeldbescheid in Höhe von 601€ ausgestellt (schweres Vergehen), weil er den Sicherheitsbeamten auf Katalanisch ansprach. Dieser teilte ihm mit, dass das respektlos sei und dass er gefälligst Spanisch sprechen solle. Als dieser jedoch weiterhin Katalanisch sprach, erhielt er den Bescheid, da er „nicht den Anweisungen des Beamten“ gefolgt sei und dieser deshalb „seine Arbeit nicht richtig verrichten“ konnte. Das sind natürlich „Einzelfälle“, die unglaublich starken Widerstand in den sozialen Netzwerken auslösten, aber die Gefahr bleibt. Große Proteste sind seit der Einführung ausgeblieben. Vielleicht weil keine angekündigt wurden, vielleicht weil sie nicht genehmigt wurden, vielleicht weil die Menschen Angst haben. Auch Demos gegen Atomenergie finden nicht statt, wer will schon zu einer Demo im Umfeld eines Atomreaktors (nicht auf dem Gelände, im Umfeld) aufrufen, wenn man damit mit bis zu 600.000 € bestraft werden kann?

Ein Fall, der nur indirekt mit diesem Gesetz zusammenhängt, ist der Fall von Cassandra. Cassandra ist eine junge Transfrau, die in den sozialen Medien sehr aktiv ist, allerdings nie viele Follower hatte. Dort wetterte sie gegen die Regierung, LGTBI-feindliche Organisationen wie Hazte Oír (Verschaff dir Gehör) und gegen alles, was sie nicht für richtig hielt. Außerdem postete sie Witze über den Tod von Carrero Blanco. Carrero Blanco war ein einfach gestrickter Mann, „Franquist“ durch und durch, Bewunderer Hitlers und bekennender Judenfeind, voller „Liebe“ zu Spanien und voller Hass dem Kommunismus, dem Sozialismus und der Demokratie gegenüber. Er war die rechte Hand Francos, die Graue Eminenz des Franquismus, Präsidentschaftsminister und Regierungschef unter Franco. 1973 starb er bei einem Bombenattentat der ETA, die ihm den Spitznamen „El Ogro“ (der Menschenfresser) gegeben hatte. Die Wucht der unterirdischen Bombe, die unter Carreros gepanzertem Wagen explodierte, war so groß, dass das Auto über das Dach eines fünfstöckigen Gebäudes flog und auf einer Terrasse im 2. Stock aufschlug. So grausam das Attentat auch war, so war es doch die größte Aktion, die es jemals gegen das Regime gegeben hatte. Mit Carrero Blanco starb kein Engel, und seit dem Ende der Diktatur sind Witze über seinen Tod in Spanien an der Tagesordnung (natürlich in eher linken Kreisen). Diese Witze können geschmacklos sein, doch sind eben nur das: Witze. Letzten Monat wurde Cassandra zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, wegen dieser Witze. Witze wie: Carrero Blanco también volvió al futuro con su coche? (Ist Carrero Blanco mit seinem Auto auch in die Zukunft zurückgekehrt? In Bezug auf den Film „Zurück in die Zukunft“); Kissinger le regaló a Carrero Blanco un trozo de la luna, ETA le pagó el viaje a ella (Kissinger schenkte Carrero Blanco ein Stück vom Mond, ETA bezahlte ihm die Reise dorthin) oder Película: Tres metros sobre el cielo. Producción: ETA films. Director: Argala. Protagonista: Carrero Blanco. Génereo: Carrera espacial (Film: Drei Meter über dem Himmel (Titel eines spanischen Films). Produktion: ETA films. Regisseur: Argala (mutmaßlicher Attentäter). Hauptdarsteller: Carrero Blanco. Genre: Wettlauf ins All). Wie gesagt, die Witze sind nicht gut, sie sind geschmacklos, aber es sind Witze. Neben der Gefängnisstrafe erwartet Cassandra zudem der Verlust eines Stipendiums und ein siebenjähriges Berufsverbot (sie wollte Lehrerin werden). Verbrechen? Verherrlichung des Terrorismus. Selbst die Enkelin von Carrero Blanco forderte öffentlich, den Fall Cassandra fallen zu lassen, aber auch das half nichts. Ein paar Wochen vorher wurde der Sänger César Strawberry zuerst vom Nationalen Gerichtshof (Audiencia Nacional) wegen ähnlicher Tweets freigesprochen („der Faschismus von Aguirre (Präsidentin der PP in Madrid) lässt mich die GRAPO (eine bewaffnete kommunistische Untergrundgruppe) vermissen“ oder „man hätte Ortega Lara jetzt entführen sollen“. Ortega Lara wurde 1996 von der ETA entführt und kam erst nach über 500 Tagen frei. 2013 gründete er die Partei VOX, die mit ihren islamophoben, ausländerfeindlichen und frauenfeindlichen Äußerungen, und dem Willen, den Regionen jegliche Sonderrechte zu entziehen, rechts von der PP einzuordnen ist), dann kam allerdings der Spanische Oberste Gerichtshof (Tribunal Supremo de España) und verurteilte ihn zu einem Jahr Haft und zu 6,5 Jahren Berufsverbot. Der Straftatbestand der „Verherrlichung des Terrorismus“ (Enaltecimiento del terrorismo) wurde geschaffen, um tatsächliche Verbrecher zu erwischen, was tat allerdings die Polizei an dem Tag, als sie dutzende Twitterer verhaftete? Sie suchten nur nach bestimmten Stichwörtern im Netz, ohne auf den Kontext zu achten.

Ein weiterer Grund, weshalb das neue Knebelgesetz auf Widerstand trifft, ist die Tatsache, dass „schwarze“ Listen angelegt werden, mit den Namen derjenigen, die eine dieser Ordnungswidrigkeiten begangen haben. Dies verletzt das Recht der Menschen, nicht wegen ihrer Ideologie diskriminiert zu werden und setzt sie zudem der Gefahr aus, immer wieder wegen nichts bestraft zu werden. Und da gibt es noch etwas, was mit dem Gesetz legalisiert wird, von dem aber nie die Rede ist. Das Gesetz legalisiert die „Devoluciones en caliente“, die sogenannten „heißen Abschiebungen“. Menschen, die es in Ceuta oder Melilla über die meterhohen Stacheldrahtzäune geschafft haben, dürfen ab jetzt legal einfach wieder auf die marokkanische Seite des Zauns gebracht werden, wo sie die marokkanische Polizei erwartet. Das ist eine Praktik, die seit Jahren praktiziert wird, obwohl sie gegen das Asylrecht und die Menschenrechte verstößt. Immer wieder wurden Grenzbeamte deswegen angezeigt, denn eigentlich hat jeder Mensch das Recht, einen Asylantrag zu stellen. Ab jetzt nicht. Ab jetzt ist es legal, die Menschen, die aus ihren Heimatländern geflohen sind, Grausames bei der Durchquerung der Sahara und während ihres Aufenthalts in Marokko erlebt haben, und die sich beim Überqueren der zwei 6 Meter hohen Zäune, zwischen denen sich Stahlkabelnetze befinden, die Hände, Arme und Beine aufgeschlitzt habe, einfach wieder auf die andere Seite des Zauns zu befördern. Unterstützt wird es natürlich von der EU, auch wenn das niemand zugeben will.

Aber es gibt Hoffnung! Bei den Parlamentswahlen im Juni 2016 gewann zwar, warum auch immer, wieder die PP, aber nicht mehr mit absoluter Mehrheit. Mehr noch, sie verlor im Vergleich zu den Wahlen 2011 ca. 3 Mio. Stimmen. Daher ist die Opposition jetzt in der Mehrheit, sodass diese im Moment versucht, viele der Paragraphen des Gesetzes zu streichen oder abzuwandeln. Mal sehen, wie es sich weiter entwickelt.

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4 Gedanken zu “Ein beschämendes Gesetz – Weltweites Schweigen

  1. Pingback: Der Dinosaurier erwacht | Spanien für Deutsche

      • Meine Liebste ist Spanierin :)
        War in der Vergangenheit viel drüben und auch sonst kriegt man doch einiges mit.
        Deinen Blog habe ich nun meistens immer in einem Tab geöffnet, damit ich unterwegs auf längeren Trips was Gutes zu Lesen hab, wirklich sehr lesenswert alles. Großes Lob! Saludos

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