La Crisis – Die Krise

«Estamos en crisis». Wir befinden uns in einer Krise. Diesen Satz hat man in Spanien die letzten Jahre millionenfach gehört. Seit 2008 befindet sich Spanien in einer tiefen Krise, nicht nur wirtschaftlich, es ist auch eine politische, soziale und territoriale Krise. Hier möchte ich versuchen zu erklären, wie es dazu kam und welche Auswirkungen es auf die spanische Bevölkerung hatte. Denn manchmal hab ich den Eindruck, dass es den Leuten hier in Deutschland nicht wirklich bewusst ist. Rettungspakete für Griechenland etc. werden hierzulande angepriesen als selbstlose Solidarität und lassen oft die wahren Gründe und die Folgen dieser „Hilfe“ außer Acht.

Es war schon leicht befremdlich, mit anzusehen, wie der damalige Präsident Zapatero (von der PSOE), versuchte, die Krise zu leugnen. Als wären die Menschen blind. Zapatero gewann die Wahlen im Jahr 2004 – eine direkte Folge der Madrider Zuganschläge – und 2008. Während seiner zwei Amtszeiten hat er einige gute Sachen vollbracht: Rückzug der spanischen Truppen aus dem Irak, Einführung des Vaterschaftsurlaubs, der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, Elterngeld, Wohnungs- und Studienhilfen, Pflegeleistungen für Alte und Kranke und die Durchsetzung eines der fortschrittlichsten Abtreibungsgesetze der Welt. Sein Kabinett bestand zu 50% aus Frauen. Spanien ging es gut, es war eine der am stärksten wachsenden Wirtschaften Europas. Doch schon zu dieser Zeit machten verschiedene Organisationen auf die Immobilienblase aufmerksam. In Spanien wurde gebaut, wie sonst nirgendwo auf der Welt. Seinen BIP vom Bausektor abhängig zu machen (bis zu 40%), war anscheinend für niemanden in der Regierung eine Gefahr.

VORGESCHICHTE

Wie es dazu kommen konnte? Dazu muss man ein bisschen zurückspulen. Im Jahr 1998 trat ein neues Gesetz in Kraft: „La ley de suelo“ (Das Land- und Bodengesetz). Durch dieses Gesetz wurden hunderttausende Hektar Agrar- oder Brachland zu Bauland. Da die Gemeinden zudem die Kompetenz für diese Umdeklarierung ihrer Grundstücke hatten, wurde dies zum Geschäft und zu einer ihrer wichtigsten Einnahmequellen. Aznar (damaliger Präsident der konservativen PP) wollte durch die Liberalisierung des Grundstücksmarkts erreichen, dass die Kaufpreise für Häuser sinken. Grundlage dafür war das erste Gebot des Kapitalismus: Die Wechselwirkung zwischen Angebot und Nachfrage. Durch mehr bebaubares Land und einer hohen Rentabilität des Grundstücksmarktes wollte man die Unternehmen dazu bringen, mehr Häuser zu bauen. Durch das dadurch entstehende große Angebot würden die Preise sinken und die Familien könnten sich endlich ein Eigenheim leisten. So der Plan.

Am Anfang schien es zu klappen. Doch 2002 hatte Aznar die nächste Idee. Durch seine neue Arbeitsmarktreform, die die Rechte der Arbeiter drastisch einschränkte, wollte er die Unternehmen dazu bewegen, mehr Leute einzustellen und so die Arbeitslosenzahl reduzieren. Und auch das hatte „Erfolg“. Unzählige junge Spanier brachen die Schule oder die Ausbildung ab, um im Baugewerbe zu arbeiten. Genauso taten es hunderttausende von Migranten, die nach Spanien kamen, um ihr Leben zu verbessern. Zwischen 1998 und 2008 kamen fast 5 Mio. Migranten nach Spanien, hauptsächlich aus Lateinamerika, Nordafrika und Rumänien. Wie gesagt, Spaniens Wirtschaft boomte und Arbeiter, vor allem im Tourismus- und Bausektor, wurden überall gesucht. Die Verlockung, in den Bausektor zu wechseln, war groß. Junge Spanier sahen die Möglichkeit, schnell Geld verdienen zu können und so auf eigenen Füßen stehen zu können.

Und was taten die Leute dann? Sie kauften sich eine Wohnung. Die Arbeitslosenquoten sank zwar auf 9% (Spanien hat schon immer eine hohe Arbeitslosenquote gehabt), doch durch die erhöhte Nachfrage, stiegen die Wohnungspreise und die Grundstückspreise. Dies führte dann dazu, dass die Wohnungspreise noch mehr stiegen. Während 1998 der Preis pro Quadratmeter noch bei umgerechnet ca. 1100 € lag, stieg er bis 2005 auf unglaubliche 2500€/m². So haben sich die Preise in wenigen Jahren verdoppelt, verdreifacht, vervierfacht und manchmal sogar verzehnfacht. Aus meinem engeren familiären Umfeld kenne ich zwei Beispiele: Ein Onkel kaufte sich Ende der 80er Jahren eine Wohnung in der Altstadt von Barcelona. Ein Schnäppchen. Für umgerechnet 15.000 Euro kaufte er sich eine kleine Wohnung in einer Seitengasse. Dazu muss man sagen, dass die Altstadt von Barcelona damals noch nicht so hip war wie heute. Dort lebten hauptsächlich ärmere Leute. 2005 oder so verkaufte er sie dann für das zehnfache. Eine Tante kaufte sich 1999 eine Wohnung in Barcelona für umgerechnet ca. 96.000€ und verkaufte sie 2005 für 240.000€.

Da aber die Löhne in der Zeit gleichgeblieben sind (zum Vergleich: Durchschnittliches Bruttojahreseinkommen in Deutschland ca. 40.000€ und in Spanien ca. 20.000€), schalteten sich die Banken und Sparkassen ein, die sich diese Chance des Profitmachens nicht entgehen lassen wollten. Sie vergaben an jeden Kredite. Jeder der einen Kredit brauchte, bekam ihn. Egal, wie viel man verdiente; egal, ob der Job sicher war oder nur befristet. Die Sparkassen überredeten selbst diejenigen, die gerade eingewandert waren und eigentlich eher dazu geneigt waren, zu mieten, eine Wohnung zu kaufen. Um die Raten bezahlbar zu machen, wurden die Laufzeiten der Kredite auf 40, 50 oder mehr Jahre verlängert. Den Leuten wurde weiß gemacht, dass es kein Risiko gäbe. Denn, wenn sie den Kredit nicht mehr bedienen könnten, könnten sie einfach das Haus verkaufen und würden immer noch Gewinn machen. Der Wohnungspreis würde nämlich nie sinken.

Sowohl die Regierung als auch alle Banken verkauften den Immobilienmarkt als sicherste Anlagemöglichkeit. Im Fernsehen und im Radio lief die Werbung auf und ab. Außerdem wurde den Leuten angeboten, den Kredit zu vergrößern, damit sie sich noch ein neues Auto, einen neuen Fernseher etc. kaufen konnten. Außerdem bot dieses Panorama zudem den Nährboden für Spekulanten, die billige Kredite bekamen und mit den Grundstücken spekulierten. Bis 2007 stieg der Wohnungspreis noch bis auf knapp 3000€/m². Alle waren verschuldet. Die Unternehmen, die Privatpersonen, die Gemeinden und eben die Banken. Als dann 2008 in den USA die Kreditblase platzte und die weltweite Finanzkrise begann, ging alles in Spanien den Bach runter. Da die Banken keine Kredite mehr vergaben, ging der Konsum zurück, die Wirtschaft brach ein und die Unternehmen entließen massenhaft Mitarbeiter. Zehntausende Familien konnten ihre Hypothek nicht mehr bezahlen und wurden auf die Straße gesetzt.

VERLAUF DER KRISE

Im Jahr 2008 stieg die Zahl der Arbeitslosen von ca. 2 Mio. auf über 3 Mio. an. Das Staatsdefizit wurde immer größer, weil die Einnahmen sanken und es mehr Ausgaben gab. Und da es keine Kredite mehr gab, um dies auszugleichen, bekam die EU Angst, dass sie auch Spanien mit einem Rettungspaket helfen müsste. Deshalb „empfahl“ sie der spanischen Regierung, ein paar Reformen durchzuführen, um das Defizit auszugleichen. Empfehlen ist ganz bestimmt nicht das richtige Wort dafür, hört sich aber besser an als aufzwingen.

Aber nichts half; weder das größte Konjunkturpaket innerhalb der EU, noch das härteste Sparprogramm aller Zeiten, das u.a. Kürzungen der Sozialleistungen, Einfrieren der Renten, Kürzungen der Beamtengehälter und Steuererhöhungen beinhaltete, schaffte es, die Wirtschaft anzukurbeln. Die Arbeitslosenquote stieg und stieg, der Konsum blieb aus und die Banken hatten alle Hände voll zu tun, um ihre Verluste zu frisieren. Da viele Wohnungsbaugesellschaften pleite gingen und so ihre Schulden bei den Banken nicht begleichen konnten, fand man eine Lösung: Die bankrotten Wohnungsbaugesellschaften überschrieben den Banken hunderttausende Immobilien. Doch um diese dann wieder verkaufen zu können, hätten die Banken die Immobilien billiger verkaufen müssen, und hätten so große Verluste gemacht. So bot man die Immobilien zum selben Preis an, wie vor der Krise und versuchte durch Refinanzierung der Schulden der Wohnungsbaugesellschaften die Preise hoch zu halten und allen etwas vorzumachen. Wie man sich denken kann, ging das nicht lange gut.

Im Jahr 2011 gingen die ersten Banken pleite, sodass die Regierung beschloss, die Banken zu retten. Durch Fusionen von Sparkassen zu großen Banken, Teil- oder Voll-Nationalisierungen von Banken (z.B. Bankia) und Finanzspritzen von über 50 Milliarden Euro sollte ein Zusammenbrechen des Finanzsektors verhindert werden. Ein Teil dieses Geldes stammt zwar aus dem Euro-Rettungsschirm, doch allein der spanische Staat haftet dafür und ist für die Rückzahlung verantwortlich. Außerdem wurden aber auch mehrere Milliarden an öffentlichen Geldern in die Banken gesteckt. Die Regierung versprach damals, dass das dem Steuerzahler keinen einzigen Euro kosten würde, aber heute weiß man, dass ca. 60 Milliarden verschwunden sind und nicht wieder zurückbezahlt werden können. Das heißt wiederum, dass es zu Lasten der Steuerzahler geht (für etwa 80% wird der Steuerzahler aufkommen müssen). Private Banken bekommen Milliarden in den Rachen geschoben, während die Gesellschaft das Geld zurück bezahlen muss. All diese Maßnahmen hatten natürlich zur Folge, dass noch mehr Leute gefeuert wurden und ihre Hypothek nicht bezahlen konnten.

DIE BEWEGUNG 15-M

Für die großen Konzerne gab es Geld, wenn es aber darum ging, der Bevölkerung zu helfen, wurde nichts gemacht. Dies führte innerhalb der Bevölkerung zu einer großen Unzufriedenheit, denn wie so oft mussten die kleinen Leute etwas ausbaden, was „die da oben“ verbockt hatten. Hinzu kamen die dutzenden Korruptionsskandale, die in den Krisenjahren ans Licht gekommen war und die den Menschen immer wieder vor Augen führten, wie sich große Teile der Politik und der Privatunternehmen auf ihre Kosten bereichert haben. Dazu zählen nicht zuletzt die Folgen des Bodengesetzes von 1998: große Teile der Grundstücke, die nun zu Bauland umdeklariert worden waren, gehörten großen spanischen Unternehmen (wie z.B. ACS, Acciona, OHL oder Banken) oder multinationalen Konzernen. Selbst die Familie Franco verkaufte mehrere tausend Hektar Land an die Gemeinden und sackte so mehrere Millionen Euro öffentliche Gelder ein. Denn im Zuge der Konjunkturpakete wollte der Staat Infrastruktur bauen (u.a. Straßen und Eisenbahnschienen) und brauchte dafür Land: keiner weiß mit Sicherheit wie viele Milliarden Euro auf diese Weise von der öffentlichen Hand in die Taschen von Unternehmern geflossen sind, die z.B. mit den Politikern befreundet, verwandt oder verschwägert sind, die diese Projekte und Gesetze einleiteten. Besonders befremdlich ist z.B. dass der Staat tausende Hektar Land kaufte, das ACS gehörte (ACS gehört größtenteils Florentino Pérez, dem Präsidenten des Real Madrid). Und dasselbe Unternehmen bekam dann auch den öffentlichen Auftrag für den Bau der Straßen auf diesem Land. ACS, aber auch andere Unternehmen, verdienten also doppelt. Lustig, dass diese Unternehmen, die fast ausschließlich davon leben, öffentliche Gelder einzukassieren, die lautesten sind, wenn es darum geht, die „freie Marktwirtschaft“ und den „freien Wettbewerb“ zu verteidigen. Es sind auch Unternehmen wie ACS, die ihren Ursprung in der Franco-Diktatur haben (ACS gehört zum Teil bis heute der Familie March, die 1936 den Putsch der Faschisten finanzierte; und auch andere Hauptaktionäre, wie die Cousins Alberto Alcocer und Alberto Cortina Alcocer stammen aus zutiefst franquistischen Familien).

Im Jahr 2011 führte all dies zu einer Protestbewegung, die Spanien, und auch Europa, so noch nicht gesehen hatte. Es hatte schon viele Demonstrationen gegeben. Gegen den Sparkurs, gegen Zwangsräumungen etc. Aber nie mit Erfolg, und ohne mediale Aufmerksamkeit zu bewirken. Doch der 15. Mai 2011 sollte dies ändern. Verschiedene soziale Bewegungen und Plattformen, wie z.B. Democracia real ya (Echte Demokratie jetzt), Attac, Anonymous, Juventud sin futuro (Jugend ohne Zukunft), NoLesVotes (Wähl sie nicht) und Gegner des umstrittenen Anti-Piraterie-Gesetzes Ley Sinde riefen zu landesweiten Protesten am 15. Mai 2011 auf. Hunderttausende Menschen gingen auf die Straße.

Und in Madrid geschah etwas, was man in Europa so nicht kannte. Etwa 100 Demonstranten wollten nach der Demonstration nicht einfach nach Hause gehen; sie waren der Meinung, dass man noch mehr tun müsste. Man einigte sich darauf, auf dem Platz Puerta del Sol zu übernachten. Das war der Beginn der Protestbewegung 15-M. In den darauffolgenden Tagen kamen immer mehr Menschen dazu, tausende beteiligten sich an der Besetzung des Platzes. Von den Ereignissen auf dem kairoer Tahrir-Platz inspiriert und vom Erfolg der Demonstrationen motiviert, wurde begonnen, ein Protestcamp zu errichten. Als dieses von der Polizei gewaltsam geräumt wurde, kamen am nächsten Tag noch mehr Menschen. Als die spanische Wahlkomission es verbot, weil am Tag vor den Wahlen keine politischen Ereignisse stattfinden sollen, erschienen um so mehr Menschen. Teilweise übernachteten mehr als 4000 Menschen auf dem Platz, und tagsüber hielten sich dort bis zu 30.000 Menschen auf. Das Camp beherbergte Essensausgaben, wo Nachbarn Essen abgeben konnten, das dann dort für die Leute zubereitet wurde, eine Bibliothek, einen Kindergarten, verschiedene Stände, die über die Aktion aufklärten.

Es hatte sich eine kleine Stadt in der Stadt gebildet. Die Menschen organisierten sich in Kommissionen, die u.a. für das Saubermachen, Kochen, Kommunikation, Schlichten, Technik, ärztliche Versorgung oder rechtliche Beratung verantwortlich waren. Außerdem gab auch Kommissionen, die für das Zusammenleben im Camp verantwortlich waren, die sich darum kümmerten, dass kein Alkohol getrunken wurde, dass es abends nicht zu laut wurde, damit die Nachbarn und die Teilnehmer, die am nächsten Morgen arbeiten mussten, schlafen konnten etc. Jeder der wollte, konnte sich einer dieser Kommisionen anschließen und mit dem, was er am besten konnte, seinen Beitrag leisten. So kamen auch Anwälte, Ärzte, Krankenpfleger, Leute aus dem kreativen Bereich etc., um mit ihrem Wissen zu helfen. Der Zusammenhalt unter den Leuten war einfach nur beeindruckend. Außerdem wurden Asambleas (eine Art Bürgerforum oder öffentliche Versammlung) veranstaltet, um gemeinsame Ziele festzulegen. Diese Asambleas beruhen auf dem Glauben an eine kollektive Intelligenz, die der konkurrenzorientierten Denkweise entgegensteht. So wird das Ideal einer Basisdemokratie vorgelebt. Ja, es dauert lange, weil man einen Konsens finden muss, dem alle zustimmen. Aber am Ende ist es eben etwas, das jedem Menschen eine Stimme gibt und mit dessen Ergebnis jeder leben kann. Ein Ergebnis, dass alle repräsentiert, etwas, was in der Politik schon lange nicht mehr existierte. Die Politiker sehen sich zwar als Repräsentanten des Volkes, einmal an der Macht jedoch, handeln sie in ihrem eigenen Interesse. Daher war eines der Mottos der Demonstrationen „No nos representan“ (Sie repräsentieren uns nicht). Die Plakate die währenddessen entstanden waren sehr kreativ, griffen die sozialen Missstände kreativ auf und gingen um die Welt.

Hier wurde etwas gelebt, das laut denen, die an der Macht sind, eine Utopie ist. Es war ein Staat im Staat, wo alle die mitmachen wollte, Gehör fanden. Jeder konnte seine Sorgen und Wünsche äußern, fremde Menschen fingen an, miteinander zu reden, sich gegenseitig zuzuhören und gemeinsam Lösungen zu entwickeln. Diese Bewegung hatte keinen Anführer, keine Organisation oder Partei, die dahinter stand. Das verunsicherte die Politiker und die konservativen Medien. Am Anfang tat man so, als würde es nicht existieren. Weder die Demonstration noch die Anfänge des Camps erschienen in den Nachrichten. Doch nach ein paar Tagen war es nicht mehr möglich, sie zu ignorieren. Traditionelle Medien versuchten durch Falschmeldungen und inszenierten Interviews, der Bewegung zu schaden. Zum Beispiel wurde ein Typ vom Sender Intereconomía (einem rechts-konservativem TV-Sender) interviewt , der berichten sollte, dass es überall nach Gras und Urin stinke. Im Nachhinein kam raus, dass er dafür vom Sender bezahlt worden war. Um den Fakenews der großen Medien entgegenzuwirken, installierten die Technik-Teams Kameras im Camp, mit denen dann die Aktivitäten und Asambleas im Live-Stream in den sozialen Netzwerken verbreitet wurden.

Natürlich gab es auch Kritik, besonders von der konservativen Seite. Leute, die sich darüber aufregten, dass sie auf ihrem Arbeitsweg an dem Camp vorbeigehen müssten und die Leute alle als Penner (“Perroflautas”) bezeichneten. Innerhalb der breiten Bevölkerung genoss die Bewegung jedoch viel Ansehen und bekam viel Unterstützung (über 80% unterstützten sie). Nach ein paar Tagen wurden ähnliche Camps in über 20 spanischen Städten eingerichtet. In Barcelona  z.B. auf Plaça Catalunya, Barcelonader bekannten Plaça Catalunya. Dieses wurde Ende Mai gewaltsam von der Polizei geräumt. Mit Schlagstöcken, Schlägen und Gummigeschossen wurden die übrig gebliebenen, auf dem Boden sitzenden, Demonstranten aus dem Weg geschafft, angeblich, um den Platz zu säubern. Als die brutale Aggression bekannt wurde, kamen tausende Menschen hinzu, um den Platz erneut zu besetzen. Dies führte zu einer massiven Solidarisierung der anderen Camps mit dem Camp in Barcelona.

In der Nacht vor dem 21. Mai, dem Tag der jornada de reflexión, gab es eine Schweigeminute, den grito silencioso (stummer Schrei). In Spanien ist es nämlich verboten, am Tag vor den Wahlen — jornada de reflexión genannt — politische Reden zu halten oder zur Wahl von einer bestimmten Partei aufzurufen. Daher verbot der Wahlausschuss das Camp, was aber unmöglich durchzusetzen war, bei der großen Anzahl von Teilnehmern. Da die Bewegung jedoch eh keiner bestimmten Partei zugehörig ist, war das für den Wahlausschuss ok und es wurde nichts unternommen.

Mitte Juni wurde dann kollektiv entschieden, das Camp an der Puerta del Sol zu räumen und die Arbeit der Asambleas in den Randbezirken und Stadtvierteln Madrids weiter zu führen. Der Entscheidung ging eine tagelange Asamblea zur Entscheidungsfindung voraus. Der Platz wurde geräumt, gesäubert und die „richtige Arbeit“ begann. Seitdem finden in fast jedem Viertel regelmäßig Asambleas statt, wo die Nachbarn ihre Probleme besprechen und Lösungen finden. Immer wieder wurde zu Demonstrationen aufgerufen, die landesweit Millionen Menschen auf die Straße zogen.

Handfeste Erfolge gibt es zwar augenscheinlich nicht, jedoch wurde durch die Bewegung ein ziemlich großer Druck auf die Regierung ausgeübt, wodurch diese einige umstrittene Reformen nicht durchziehen konnte. Ein Resultat der Bewegung ist die Gründung der Partei Podemos. Weder die Partei selbst noch die Bewegung 15-M sehen sie als politische Vertretung der Bewegung, jedoch waren viele der Mitglieder auch Teil der Bewegung und der Austausch untereinander war sehr bedeutend. Wenn man aber den größten Erfolg der Bewegung benennen soll, dann ist es auf jeden Fall, dass sie so viele Menschen mobilisieren konnte. Sie hat es geschafft, dass sich Millionen Spanier wieder für die Politik interessieren und für ihre Rechte kämpfen wollen; und sie war besonders für junge Menschen der Startpunkt ihrer Politisierung.

DIE MAREAS

Ende 2011 wurde die PSOE von Zapatero abgewählt, stattdessen bekamen die Konservativen von der PP die absolute Mehrheit im Parlament. Wie das passieren konnte? Man weiß es nicht. Ich versteh es nicht, und die meisten Spanier verstehen es auch nicht, aber naja. Wahrscheinlich war die Wut auf Zapatero, der bis dahin ja die Sparmaßnahmen durchgesetzt hatte, zu groß. Rajoy, der neue Präsident, versprach, dass er überall kürzen würde „außer bei den Renten, der Bildung und dem Gesundheitswesen“. Ja, ja, so ist das mit den Wahlversprechen. Ausgerechnet dort setzte er nur wenige Wochen später die „Schere“ an.

Kurz darauf bildeten sich separate Protestbewegungen, die gegen die Sparpolitik in ihrem Berufsfeld demonstrierten. Diese Bewegungen nannten sich „Mareas“ (Fluten). Die Marea Verde (Grüne Flut) demonstrierte gegen die Reformen in der Bildungspolitik, die zwischen 60.000 und 100.000 Vertretungslehrer auf die Straße setzten, die Marea VerdeLöhne senkten (– 5%), die Anzahl von 30 auf 36 Schülern pro Klasse erhöhten, Stipendien und Hilfen abschaffte, die Arbeitszeit erhöhten, die Studiengebühren erhöhten (ein Master in Spanien kostet jetzt z.B. zwischen 3.000 und 13.000 € pro Jahr) und viele Schulen, besonders in ländlichen Gegenden, schlossen. In vielen Autonomen Gemeinschaften kam hinzu, dass keine bzw. weniger Lehrstellen ausgeschrieben wurden (in Madrid waren es 2009 noch 3.500 Stellen/ Jahr, im Jahr 2011 nur noch 489; im Jahr 2012 schrieben nur 3 der 17 Autonomen Gemeinschaften Lehrerstellen aus). Damit wollte man 10 Milliarden einsparen (eine Kürzung von über 20%).

Die Marea blanca (Weiße Flut) demonstrierte Marea blancagegen die Reformen im Gesundheitssystem. Das spanische Gesundheitssystem war der ganze Stolz der Spanier. Kostenlos, universell und von sehr guter Qualität, und zudem so in der Spanischen Verfassung verankert. Selbst Ausländer, egal ob Touristen, legal oder „illegal“ in Spanien lebende Migranten, hatten ein Recht auf eine kostenlose Behandlung. Das sollte sich ändern. So wurden viele Krankenhäuser und Versorgungszentren (Centros de Salud) geschlossen, die Kosten für fast 500 Medikamente wurden nicht mehr übernommen, pensionierten Krankenpflegern wurden die Renten um fast 40% (fast 400€) gekürzt, 1.000.000 Menschen ohne Papieren wurde ihr Recht auf medizinische Versorgung entzogen und es wurden Krankenhäuser privatisiert und ein Zusatzbeitrag zu Impfungen und Medikamenten wurde eingeführt. Schätzungen zufolge starben bereits 800 Menschen aufgrund dieser Sparpolitik. Mit diesen und weiteren Maßnahmen sollten über 6 Milliarden Euro eingespart werden. Doch die Marea Blanca erreichte durch ihre Beharrlichkeit, dass in Madrid ein Volksentscheid abgehalten wurde, bei dem man darüber abstimmen konnte, ob man lieber das öffentliche Gesundheitssystem beibehalten möchte oder es lieber privatisieren möchte. 99,4 % stimmten für den Erhalt des öffentlichen. Zwar war das Ergebnis, wenn ich mich recht erinnere, nicht bindend, trotzdem wurde die Privatisierung in Madrid gestoppt. Andere Regionen haben es aber gemacht, denn Gesundheit ist in Spanien auch zum Teil Ländersache. In vielen Krankenhäusern wurde ganze Etagen geschlossen, um Geld zu sparen; Patienten wurden in Säle verfrachtet, wo sie sich dann – nur von Vorhängen getrennt – von ihren OPs etc. erholten und in den Notaufnahmen mussten die Patienten zum Teil tagelang in den Fluren warten. Als meinem Opa zu der Zeit mal Gallensteine entfernt werden mussten, musste er die erste Nacht auf dem Flur schlafen, danach war er dann in einem Gruppensaal und musste sich das Trinkwasser selber beim Automaten kaufen, da das Krankenhaus kein Wasser mehr ausschenkte.

Es gibt noch die rote Flut (kämpft für die Rechte der Arbeitslosen), die blaue Flut (Trinkwasser als öffentliches Gut), die schwarze Flut (Beamte) und bestimmt noch 6 weitere, und alle kämpfen für ihre Rechte mit mehr oder weniger Erfolg. Eine sehr wichtige Gruppe ist die Marea granate (granatrote Flut), die von jungen Spaniern ins Leben gerufen wurde, die auswandern mussten. Mittlerweile sind sie in fast jedem Land vertreten, klären im Internet über die Möglichkeiten auf, an Wahlen teilzunehmen, treten für die Rechte der Emigranten ein und setzen sich u.a. auch dafür ein, dass die spanische Politik anerkennt, dass sie nicht freiwillig gegangen sind. „No nos hemos ido, nos han echado“, wir sind nicht gegangen, wir wurden raus geworfen. Oft wird von den Politikern nämlich angemerkt, dass es für die Jugend ja vorteilhaft wäre; sie könnte im Ausland Erfahrungen sammeln und sich weiterbilden. Das ist einfach nur beschämend. Denn im Gegensatz zu Deutschland, wo die Leute ins Ausland gehen, um in einer schöneren Umgebung zu leben, oder weil sie sich erhoffen in anderen Ländern mehr Geld zu verdienen als bisher, oder einfach die Hoffnung haben, woanders neu anzufangen, gehen Spanier nicht aus freien Stücken. Natürlich gibt es Ausnahmen. Aber die Mehrheit geht, weil sie in Spanien keinen Zukunft mehr hatten. Die Sozialleistungen des Staates sind nicht so angenehm wie hier. Um Arbeitslosengeld (prestación por desempleo) zu bekommen, muss man vorher mindestens ein Jahr lang eingezahlt haben, genauso wie hier. Wenn man ein Jahr lang eingezahlt hat, bekommt man aber nur 4 Monate lang Arbeitslosengeld (70% des vorherigen Gehalts). Je länger man einzahlt, desto länger darf man Arbeitslosengeld beziehen (1 Jahr: 4 Monate, 2 Jahre: 8 Monate, 3 Jahre: 12 Monate). Nach dem sechsten Monat wird es auf 50% gekürzt. Hat man zum Beispiel die letzten drei Jahre gearbeitet und eingezahlt, so bekommt man die ersten 6 Monate 70% des Gehalts und die nächsten 6 Monate nur noch 50%. Danach hat man noch Recht auf etwas ähnliches wie Hartz IV, den subsidio por desempleo. Das sind ca. 400 € im Monat, aber nur wenn du Langzeitarbeitsloser bist oder vorher schon einmal eingezahlt hast. Auch das bekommt man nur eine begrenzte Zeit und danach ist Schluss. Zusätzlich bekommt man nichts. Während einem hier die Wohnung bezahlt wird und die 400€ „zur freien Verfügung“ hat, muss man in Spanien damit Strom, Wasser, Gas UND Miete bezahlen. Das ist der Grund, weshalb viele Arbeitslose zurück zu den Eltern ziehen müssen, weil sie sich die Miete oder die Hypothek nicht mehr leisten können. Sind also alle Zuschüsse vom Staat ausgeschöpft, sieht es schwarz aus. Deshalb gehen die Menschen.

Und wir sprechen hier nicht gerade von wenigen. Offiziell ließen sich ca. 1 Million Spanier seit 2008 im Ausland registrieren (allerdings sagt das erstmal nichts genaues aus, da auch im Ausland geborene Spanier registriert werden oder Menschen, die die spanische Staatsangehörigkeit angenommen haben). Wobei man sagen muss, dass man bestimmt mehrere Hunderttausend dazu rechnen muss, die sich im Ausland nicht im Konsulat haben registrieren lassen (die Mehrheit). Denn durch die Registrierung verliert man den Anspruch auf die spanische Sozialversicherung, und zudem ist es keine Pflicht, sich im EU-Ausland, registrieren zu lassen. Die meisten sind jung. zwischen 20 und 35. Sie sind gut, nein, meistens sehr gut ausgebildet. In Spanien kann ein junger Ingenieur höchstens mit einem Gehalt von 1000€ rechnen. Wenn überhaupt. Nur mit viel Glück bekommen junge Akademiker ein angemessenes Gehalt. Die meisten sind dazu verdammt, auf ewig unbezahlte Praktika zu absolvieren. Wenn sich auf eine freie Stelle als Verkäufer bei Zara innerhalb weniger Stunden über 800 Bewerber melden, kann man sich die Situation der Menschen vorstellen. Spanische Ingenieure, Ärzte und Krankenpfleger sind sehr gefragt im Ausland, besonders in Deutschland und Skandinavien. Doch was bringt das, wenn man die Sprache nicht beherrscht? Wenn man nicht gerade Glück hat und als Ingenieur von Airbus angeheuert wird, sieht es schwierig aus. So landen die jungen Auswanderer im Ausland wieder in schlecht bezahlten Minijobs, Aushilfsjobs o. Ä. All diese Menschen wollten eigentlich in Spanien leben, doch dank der Sparpolitik der Regierung – aufgezwungen von der Troika – können sie es nicht. Deshalb ist hier der Durst nach einem Wandel besonders groß. Sich dieser Tatsache bewusste, modifizierte die Regierung 2011 das Wahlgesetz für im Ausland lebende Spanier. War es bisher so, dass jeder, der beim Konsulat registriert war, die Wahlunterlagen nach Hause geschickt bekam, so musste man ab 2011 die Unterlagen schriftlich oder persönlich einfordern, was mit einer immensen Bürokratie verbunden war. So schaffte man es, einen Großteil der Wahlberechtigten von der Wahl auszuschließen. Lag bei den Wahlen 2008 die Wahlbeteiligung aus dem Ausland noch bei 34%, so ging sie 2015 bis auf 4% zurück (ein Rückgang von über 80%). Im Jahr 2016 waren es 6% (von denen 30% Podemos wählten).

FOLGEN DER KRISE UND DER SPARPOLITIK

In Spanien nennt man die Sparpolitik auch „austericidio“ (Mord durch Totsparen). Und das ist meiner Meinung nach mehr als verständlich. Denn die Leidtragenden der unzähligen Reformen und Einsparungen sind, wie immer, die Mittelschicht und die Armen. Durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 18% auf 21% und von 8% auf 10% sollte mehr Geld eingetrieben werden. Doch das passierte nicht, denn es wurde einfach zu teuer. Zwar galt bei Grundnahrungsmitteln und Medikamenten weiterhin der superermäßigte Satz von 4%, doch es wurden auch die Kategorien geändert, nach denen besteuert wurde. So kam neben der allgemeinen Erhöhung eine zusätzliche hinzu. Medizinische Utensilien (von Pflastern über Pflegeartikel bis hin zu Prothesen), Schulbücher und Schulbedarf, Bücher, Kinobesuche, Theater, Konzerte und andere Kultur- oder Freizeitaktivitäten wurden nun anstatt mit 4% bzw. 8% mit 21% besteuert. Dies ist natürliche für Haushalten mit geringem Einkommen besonders schlimm. Schon heute geben Spanier durchschnittlich 30% ihres Einkommens allein für Lebensmittel aus, mehr als das Doppelte als vor ein paar Jahren (in Deutschland ca. 15%). Das liegt jedoch vor allem daran, dass die Löhne extrem zurückgegangen sind.

Ein weiteres Problem sind die Hypotheken. Die Regierung und Banken warben jahrelang für den Hausbesitz und Kredite, teilweise recht aggressiv. So kam es dazu, dass Spanien die höchste Eigentumsquote Europas hat: 85%. Die Bedingungen für die Kreditvergabe waren lasch, die Praktiken der Banken verantwortungslos. Durch Kettenkredite, bei denen verschiedene Personen, die sich oft nicht einmal kannten, für den Kredit des anderen bürgen, und haften, kam es zum Dominoeffekt, wenn einer nicht mehr zahlen konnte. Teilweise war der Verzugszins so hoch, dass man noch nicht einmal die Zinsen abbezahlen konnte. In Spanien sind die Zinsen zudem variabel und sind an den „Euribor“ gekoppelt, sodass sie während der Krisenjahren extrem in die Höhe gingen. Und wenn man nicht mehr bezahlen konnte, kam es zur Zwangsräumung und später zur Zwangsversteigerung, bei der die Banken meistens das Haus behielten. Die Zwangsräumungen sind eines der großen Dramen Spaniens. Zwischen 2008 und 2014 kam es zu hunderttausenden solcher Zwangsräumungen, bei denen die Polizei meistens die Bewohner aus den Wohnungen ziehen musste. Allein 2012 waren es über 500 täglich! In Spanien gibt es für Privatpersonen praktisch keine Möglichkeit Privatinsolvenz zu beantragen, sodass die Schulden auch nachdem die Wohnung der Bank übergeben wurde, bei bestehen. Unzählige Menschen begangen deswegen Selbstmord. Genaue Zahlen kennt man nicht und offiziellen Angaben zufolge kann man den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit, Zwangsräumung und Selbstmord nicht beweisen. Jedoch stieg die Selbstmordrate in den Krisenjahren um ca. 15%. Männer und Frauen sprangen von ihren Balkonen, als die Polizei vor der Tür stand, erhängten sich vor oder nach der Zwangsräumung, oder zündeten sich auf offener Straße an. Zu wissen, dass man danach auf der Straße landen würde, da es in Spanien so gut wie keine Sozialwohnungen gibt, war für viele zu viel. Die EU erklärte die spanischen Zwangsräumungen für illegal, was die Banken aber nicht davon abhielt, sie weiterhin zu vollstrecken, selbst Bankia, die dem spanischen Staat gehört. So entstand die PAH (Plataforma de Afectados por la Hipoteca – Plattform für Opfer der Hypothek), die mit medienwirksamen Aktionen immer wieder Zwangsräumungen stoppte, Demonstrationen organisierte und Banken besetzte, damit siepah mit den Verantwortlichen verhandeln konnte. Die PAH war lange Zeit die „Opposition der Bürger“, denn die politische Opposition im Parlament war schwach und gespalten. Mit einem Rückhalt von über 90% innerhalb der Bevölkerung und von den Politikern der PP verhasst, bekamen sie für ihre Arbeit u.a. den Europäischen Bürgerpreis 2013 verliehen. Die bekannteste Person der PAH ist wohl Ada Colau. Sie war Pressesprecherin der PAH und an vielen Aktionen beteiligt, außerdem war sie oft in Talkshows zu sehen. Sie wurde landesweit bekannt, nachdem sie in einer Anhörung im Abgeordnetenhaus (wo man mit „Experten“ debattierte, ob man den Gesetzesvorschlag der PAH zulassen sollte) den Experten, einen Vertreter der Bankenvereinigung, als Kriminellen und Zyniker bezeichnete und meinte, dass sie „dem Herrn nur keinen Schuh an den Kopf geworfen hätte, weil sie der Meinung ist, dass man das, was sie noch zu sagen hat, hören sollte“. Heute ist Ada Colau Bürgermeisterin von Barcelona. Eine weitere Gruppe, die Banken „besetzt“ ist „flo6x8“, die die Bank zu einer Flamenco-Bühne machen, tanzen und ein eigens für die Banken komponiertes Lied singen.

Die Arbeitslosenquote ist in den letzten Jahren drastisch gestiegen. Aktuell liegt sie bei 20,3%, doppelt so hoch wie im EU-Durchschnitt (Aktualisierung 2019: ca. 14,3%). 5 Millionen Menschen. Deutschland hat knapp die hälfte (ca. 2,6 Mio.), bei doppelt so vielen Einwohnern. Wobei man anmerken muss, dass auch in Deutschland ein wenig gemogelt wird, was die realen Zahlen angeht. Um den Anstieg noch einmal zu verdeutlichen: Im Jahr 2005 waren bloß 1,8 Mio. Menschen arbeitslos, im Jahr 2012 über 6 Millionen. Etwa 3 Mio. Arbeitslose bekommen KEINE Unterstützung mehr, weil ihr Anspruch abgelaufen ist. Bei der Jugendarbeitslosigkeit sieht es noch schlimmer aus. 55% der unter 25 Jährigen haben keinen Job. Es scheint als würde die Zahl langsam zurückgehen, die Regierung spricht von etwa 45%. Dies liegt aber eher daran, dass junge Spanier auswandern und aus der Statistik verschwinden (2019: ca. 33%).

Auch als Akademiker hat man es ist nicht einfach, die meisten ziehen zurück zu den Eltern und halten sich mit Arbeitslosengeld oder Jobs als Kellnern über Wasser. Viele andere jedoch, wandern aus. Die Krise traf Spanien in dem Moment, wo die spanische Jugend am besten ausgebildet war. Doch nun steht Spanien vor den Trümmern der Sparpolitik. Ein großer Teil der Jugend ist weg, versucht ihr Glück in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien, immer mehr wagen den Schritt nach Lateinamerika, in die aufstrebenden Staaten wie Chile. Genauso wie es viele junge Portugiesen nach Brasilien, in die alte Kolonie, zieht, so zieht es viele Spanier in die hispanoamerikanischen Länder. Hier gibt es Arbeit, sie verdienen zwar weniger als die Einheimischen, aber immer noch mehr als in der Heimat. Außerdem sind viele Lateinamerikaner, die zwischen 1998 und 2008 nach Spanien gekommen waren, zurück nach Lateinamerika gegangen.

Nach dem Platzen der Immobilienblase und der darauffolgenden Zwangsräumungen, stehen nun in ganz Spanien fast 4 Mio. Wohnungen leer, während immer noch Leute auf der Straße landen. Vielen bleibt nichts anderes übrig, als leerstehende Wohnungen zu besetzen, um ein Dach überm Kopf zu haben. Das ist zwar illegal, wenn man aber nur die Wahl hat zwischen etwas illegalem, was niemandem schadet, und einem Leben auf der Straße mit der Familie, dann trifft man halt solche Entscheidungen. Wer mal in letzter Zeit durch die Altstadt von Barcelona, besonders in El Raval, aber auch in El Born und Ciutat Vella, spaziert ist, wird bemerkt haben, dass viele Wohnungen, ganze Blocks, besetzt sind.

Von den ganzen Dörfer, die seit Jahrzehnten am Aussterben sind, ganz zu schweigen. Insgesamt gibt es über 3000 verlassene Dörfer in Spanien, ein Teil davon steht zum Verkauf. Einige werden sogar „verschenkt“; damit möchten die Regionalregierungen bewirken, dass die Dörfer wiederbelebt werden. Besonders seit Beginn der Krise entstehen überall im Land sogenannte Ecoaldeas (Ökodörfer), wo auf erneuerbare Energien und nachhaltige Landwirtschaft gesetzt wird.

Man mag glauben, dass die Krise allen in Spanien geschadet hat. Dem ist aber nicht so. Die, die schon vorher reich waren, haben während der Krise Milliarden dazu verdient. Die 20 reichsten Spanier besitzen jetzt so viel wie die ärmsten 30% des Landes. Die Anzahl der Millionäre ist sogar um 40% gestiegen. Mit fast 1.700 Multimillionären gibt es jetzt in Spanien mehr Multimillionäre als jemals zuvor. Die soziale Ungleichheit ist 14 Mal höher als in Griechenland, und, neben Zypern, die größte innerhalb der EU und der OECD-Staaten. Die Regierung Spaniens versucht das Problem schön zu reden. Die Wirtschaft wächst, ja. Aber für wen? Bei den Leuten kommt nichts an. Im Gegenteil: Der Arbeitsmarkt in Spanien ist heute geprägt von prekären Jobs; Verträgen für Stunden, Tage, ein paar Wochen. Knapp 60% der Bevölkerung verdient weniger als 1.800,00 Euro brutto/Monat (Durchschnittslohn). 30% verdienen weniger als 1.100€ brutto/Monat. Dies hat zur Folge, dass viele Familien verarmen und vor allem die Kinder an Mangelernährung oder Unterernährung leiden. 2012 waren es ca. 2 Mio. Kinder, die an Mangelernährung litten. Caritas berichtete von halb verhungerten Kindern, Lehrer berichteten von Kinder in der Grundschule, die in Ohnmacht fielen, weil sie nichts gegessen hatten. Viele Familien, die keine Unterstützung mehr bekommen, leben von der kleinen Rente der Großeltern. Das alles passiert hier in Europa und Frau Merkel und Herr Schäuble finden nur lobende Worte für die Sparpolitik der spanischen Regierung und scheinen entweder nicht zu wissen, was das für Folgen hat, oder sie ignorieren es einfach. Merkel lobte Rajoy, denn er „habe den Stier bei den Hörner gepackt“ und dank ihm „sei die Lage in Spanien nun eine andere“. Ja, wie wahr. Schäuble ist der Meinung, dass Spanien als Argument dafür gelte, dass man „vieles richtige gemacht“ hätte. Schön wie stolz sie sind. Ein Schuft, wer dabei böses denkt. Es ist allgemein bekannt, dass der Großteil des Geldes, den die spanischen Banken als Kredite weitergaben, von deutschen und französischen Banken kam. Als die spanischen Banken ihre Schulden bei den deutschen Banken nicht mehr bezahlen konnten, traten dann Merkel & Co. in den Ring, um für die deutschen Banken zu retten, was noch zu retten war. Den ganzen Sparwahnsinn als europäische Solidarität zu verkaufen, ist einfach eine Beleidigung der Intelligenz der mediterranen Länder.

Wenn man sich die Auswirkungen der Krise und der auferlegten Austerität anguckt — laut dem Observatorio Social de La Caixa sind 12 Mio. Spanier von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht — fragt man sich, warum es noch nicht zu einem Aufstand gekommen ist. Die Bewegung des 15-M war ein Anfang, aber immer friedlich; von Griechenland kennen wir andere Bilder. Es gibt zwei Faktoren, die Spanien zusammenhalten. Zum einen ist es die Schwarzarbeit; viele Leute verdienen sich ein paar Euros dazu, wenn sie beim Nachbarn mal was reparieren, etc. Anders bekommen viele halt kein Geld. Und zum anderen ist es der extreme Zusammenhalt der Familie und Freunde. Das ist etwas, was man nicht genug bewundern kann. Wenn über 600.000 Familien keinerlei Einkommen mehr haben, treten hier oft die Großeltern ein, um ihnen zu helfen. Laut einer Studie unterstützen 80% der Großeltern ihre Familien finanziell, oder geben ihnen zu Essen. 30 Jährige ziehen zurück zu den Eltern, was zwar keine tolle Lösung ist, aber immerhin ein sicherer Ort. Freunde unterstützen sich woimmer sie können. Nachbarn gründen Initiativen, um den Ärmeren im Viertel zu helfen. Zum Schulbeginn findet man in allen Stadtteilen kleine Flohmärkte, wo Schulbücher an die Familien verteilt werden, die sie sich nicht mehr leisten können. Sie alle schließen die Lücke, die der Staat nicht füllt. Ohne diese gegenseitige Unterstützung stünde Spanien am Rande einer Revolution. Einer richtigen Revolution. Und wer weiß, vielleicht wäre es mal an der Zeit.

Estafa - Betrug

Das ist keine Krise, das ist Betrug!

 

 

 

 

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Ein Gedanke zu “La Crisis – Die Krise

  1. Pingback: Der Dinosaurier erwacht | Spanien für Deutsche

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